Ein anderer Abschied (Another Way of Leaving)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel 5
Der Schatten eines Esels

„Wenn ich einen Esel hätte, der durch zu viel Arbeit und schlechte Behandlung zusammengebrochen wäre, dann würde ich ihn auf die Weide schicken. Ich würde ihn dort hin bringen, wo es kühles Gras und genügend Bäume als Schatten gibt, aber nicht genug, um das Sonnenlicht abzuhalten. Ich würde ihn unter freiem Himmel schlafen lassen, während Vardas Sterne über seinem Kopf kreisen – wo das einzige Geräusch der Gesang von Vögeln und das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln ist. Und ich würde ihm keine Bürde aufladen und ihm Zaumzeug anlegen, sondern ihn fröhlich wandern lassen, wohin er mag.“

„Und würde er gesund werden?“

„Wenn das Leben noch stark wäre in ihm – so wie in dir. Die sterbliche Rasse nimmt ein natürliches Ende, Esel; sie soll nicht ewig leben, nicht in Mittelerde. Aber bis dieses natürliche Ende kommt, wird ein Geschöpf zu leben und sich selbst zu heilen versuchen, wenn du ihm gibst, was es zu dieser Heilung braucht.“

Frodo schwieg.

„Was hast du getan, seit du nach Hause gekommen bist, Frodo?“

„Ich half, die Räuber aus dem Auenland zu vertreiben, ich war eine Weile Bürgermeister, ich versuchte, Hobbits zu helfen, die während der Schwierigkeiten verwundet wurden, und ich schrieb die Geschichte des Krieges.“

„Also kam der zusammen gebrochene Esel heim, und anstatt zur Erholung auf die Weide zu gehen, bekam er eine neue Last und machte sich wieder an die Arbeit.“

„Gandalf sagte---“

„Gandalf ist reich an der Weisheit der Weisen,“ unterbrach ihn Radagast. „Gandalf ist jenseits von mir, und über mir – und doch kennt er Erde und Wasser nicht so, wie ich sie kenne. Die Vögel und Tiere haben eine eigene, demütige Weisheit, und sie können dich viel über das Leben lehren, und über Heilung – wenn du bescheiden genug bist, von ihnen zu lernen.“

„Ich werde versuchen, bescheiden genug zu sein.“ Er senkte den Kopf und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, aber der Zauberer hörte es trotzdem. „Oder ich muss einen Weg finden, zu sterben, denn die Finsternis wächst und wächst in mir, und bald ist von Frodo Beutlin nichts mehr übrig.“

Der Zauberer betrachtete ihn nüchtern. „Dein Schwert ist weiser als du, Esel. Es schreckt vor unschuldigem Blut zurück.“

Frodo stöhnte. „Ihr auch? Ich bin nicht unschuldig! Ich habe den Ring beansprucht und in Besitz genommen!“

„Du bist nicht schuldig, es sei denn, du nimmst dir in deinem Stolz das Leben.“

„Stolz! Sagt lieber Schande, und ihr kommt der Sache näher!“

„Nein, Frodo – Stolz! Weil du nicht der Held gewesen bist, der du gerne sein wolltest; am Ende konntest du nicht widerstehen.“ Die Worte trafen ihn wie Steine, obwohl die Stimme des Zauberers sanft war. „Du hast dich mit ganzem Herzen der Aufgabe verschrieben, und du warst nicht stark genug dafür. Und jetzt willst du sterben, weil du dich selbst nicht klar genug siehst.“

Frodo machte eine scharfe Geste der Zurückweisung. „Nein. Ich sehe mich klar genug.“

„Und du hältst dich selbst für todeswürdig. Aber das hast du nicht zu entscheiden, Esel. Mehr noch, du hast eine Krankheit mit nach Hause gebracht. Morgoths Übel ist wirklich eine Krankheit, selbst aus dritter Hand, durch seinen Diener, durch den Ring. Aber das Leben, das Erde und Sterne bewegt, ist noch immer größer, wenn du dich Ihm öffnest.“

„Ihm?“

„Es gibt kein Leben ohne einen persönlichen Ursprung, Esel.“

Frodo saß still da und versuchte die seltsamen Dinge zu erfassen, die der Zauberer sagte, aber Radagast blickte plötzlich auf und erhob sich.

„Und wenn du nicht möchtest, dass dein kleiner Gärtner dich jetzt findet, dann solltest du besser mit mir auf die Bäume klettern.“

Und zu Frodos Verblüffung schürzte Radagast seine Gewänder, packte einen Ast und stieg säuberlich und ohne viel Federlesens einen Baum hinauf, bis das Braun seiner Kleidung mit dem Wirrwarr der Zweige hoch oben verschmolz. Frodo fing an zu grinsen, aber dann war da nicht weit entfernt das Klingeln eines Zaumzeuges. Er stand hastig auf, ergriff einen Ast über seinem Kopf, zog sich mit einiger Mühe hoch und folgte seinem Mentor in das Versteck.

Sam kam in Sicht; er ritt auf seinem Pony. Sie bewegten sich in rascher Gangart und Frodo hielt den Atem an, falls das Pony in das Loch am Höhleneingang stolperte. Aber Sam zügelte es und stieg ab; er ließ die Leine herunter hängen.

„Wart auf mich, Lutz, während ich nachschaue.“

Seine Stimme war rau vor Kummer, und er ließ sich in das Loch hinab und ging in die Höhle wie jemand, der seit langem mit diesem Ort vertraut war. Frodo sah Radagast ein paar Zweige über sich an, und der Zauberer nickte. Du würdest eher deinen Schatten verlieren.

Sam kam heraus; er trug Frodos Schwert bei sich und sah gleichzeitig verwirrt und erleichtert aus. Er kauerte sich neben die Überreste des kleinen Feuer, spuckte auf einen Finger und berührte die Kohlen.

„Nicht lange aus,“ sagte er gedankenvoll und sah sich um. „Aber wo bist du hingekommen, Herr Frodo? Streichers Zaumzeug ist immer noch in der Höhle, also reitest du wohl nicht. Wieso solltest du auch auf seinem bloßen Rücken sitzen, wenn du einen Sattel hast. Du würdest auch Stich nicht liegen lassen, es sei denn---“

Ein sichtbarer Schauder durchrann ihn und er vergrub das Gesicht in den Händen; dann nahm er sich zusammen, kam auf die Beine und schaute hinauf in die Bäume. Nicht hoch hinauf, wo der Hobbit und der Zauberer sich ungesehen an die Zweige klammerten, sondern ein paar Meter über dem Boden... ungefähr da, wo eine Leiche hängen möchte, wenn sich jemand mit einem Tritt von seinem Pony befreit hatte, ehe er dort baumelte. Sein Gesicht, Frodo zugewandt, obwohl er ihn nicht sah, war verschmiert und tränenüberströmt, und Frodos Herz drehte sich vor Mitleid um. Er fing hastig an, hinunter zu klettern.

„Sam! Sam, nein, es geht mir gut – Sam, schau doch nicht so - !“

Sam war beinahe schon über ihm, noch bevor sein Fuß den Boden berührte und er fing ihn in einer Umarmung ein, die ihm den Atem aus den Lungen trieb und seine Rippen schmerzen ließ.

„Herr Frodo, du bist am Leben! Ich hatte solche Angst – Elbereth, was für eine Angst ich hatte!“ Er klammerte sich krampfhaft an Frodo und weinte, und Frodo klopfte ihm auf den Rücken und versuchte, ihn zu trösten.

„Sam, lass los!“ schnaufte er endlich. „Ich kann nicht atmen!“

Sam gab ihn frei und zog sein Taschentuch heraus, um sich die Augen zu trocknen und die Nase zu putzen. „Da, ich bin ein Dummkopf, wie immer, aber – als du weg warst, Herr Frodo, mit deinem Schwert und allem, aber keine Anziehsachen zum Wechseln und deinem Mithril-Hemd immer noch in der Schublade – ich hatte Angst, du tust dir was an! Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, aber ich hatte den ganzen Weg über Angst, ich komme zu spät - “

Frodos Gesicht verriet ihn.

„Das ist es, was du tun wolltest! Ich wusste es – ich wusste, du gehst nicht los in irgend so ein Abenteuer – als wenn wir nicht schon genug Abenteuer für zehn Leben gehabt hätten! Warum, Herr Frodo? Nach allem, was du durchgemacht hast, hinzugehen und das zu tun - “

Er stand da, die Arme um sich selbst geschlungen, den Kopf gesenkt, von Schluchzen geschüttelt. Frodo hielt ihn fest, zog den zerzausten Kopf an seine Schulter und wiegte ihn hin und her wie ein Kind, das aus einem Alptraum erwacht war.

„Schsch, Sam... ich habe es nicht getan, oder? Ich bin genau hier, ich bin völlig in Ordnung – Sam du musst aufhören zu weinen, du machst uns beide ganz nass, wir holen uns eine Lungenentzündung und sterben daran, und Rosie wird mir nie verzeihen...“

Es hatte keinerlei Wirkung; Sam war weit darüber hinaus, den Witz an irgend einer Sache zu sehen.

„Hast du zufällig eine Pfanne bei dir, Meister Gärtner? Und irgend etwas, das man darin kochen kann?“

Die Hobbits blickten auf und sahen Radagast, der sich über das Feuer beugte, es zum Leben zurück pustete und mit kleinen Holzstückchen fütterte. Sam starrte ihn fassungslos an und der Zauberer grinste, ein weißes Zähneblitzen in seinem dunklen Gesicht.

„Nun ja, du bist nicht ohne etwas zu essen gekommen, oder nicht? Sogar als dein Herr hinging, um sich in sein Schwert zu stürzen, hatte er einen Imbiss bei sich! Wie gut ich Gandalfs Zuneigung zu den Hobbits begreife!“

Frodo lachte reumütig. „Das habe ich getan, nicht wahr? Ich nehme nicht an, dass Turin ein belegtes Brot mitgenommen hätte, jetzt, wo ich darüber nachdenke. Hobbits sind wirklich nicht für hohe Taten und heldenhafte Ausgänge gemacht, oder?“

„Obwohl sie sie vollbringen, wenn es nötig wird, Frodo Esel! Mach die hohen Taten nicht schlecht, die du und deine Verwandten schon getan haben, aber versuch dich daran zu erinnern, dass du ein Hobbit bist – das ist beinahe die größte Stärke, die du besitzt. Also, Sam, was hast du zum Mittag mitgebracht?“

Radagast hatte Sam richtig eingeschätzt, und sie zerteilten den Schinken und aßen ihn, während die Kartoffeln zusammen mit einem Stück Butter in der Pfanne brieten. Sam hatte auch Frodos Pfeife mitgenommen, zusammen mit seiner eigenen -

„Nun, ich habe gehofft, dass ich rechtzeitig komme, Herr Frodo, aber als ich gesehen hab, dass du deine Pfeife dagelassen hast, war es beinahe der letzte Strohhalm! Ich wusste, du wärst nie ohne sie weg gegangen, die, die Herr Bilbo dir in Bruchtal geschenkt hat – als ich das gehen hab und dein Mithril-Hemd, da hab ich gewusst, dass du nicht auf Abenteuer ausgezogen bist, was für Lügen du mir auch immer geschrieben hast!“

„Ich wollte nicht, dass du trauerst, Sam.“

„Und du hast nicht gedacht, dass ich trauern würde, wenn du weggehst? Einfach so, ohne nachzudenken, ohne ein Lebewohl oder irgendwas! Selbst wenn du bloß auf der Suche nach einem neuen Abenteuer fort gehst, hättest du das nicht ohne irgend einen Abschied tun dürfen, Herr Frodo!“

Radagast unterbrach ihn. „Lass mich mal deine Pfeife da ausprobieren, Esel. Gandalf und Saruman haben beide eine Vorliebe für dieses Kraut gefasst, dass ihr Hobbits so gerne habt, und ich bin neugierig, was es war, das sie daran so mochten. Ein seltsamer Zeitvertreib – Rauchringe zu blasen!“

Frodo reichte ihm die Pfeife hinüber und die Hobbits warteten auf seine Reaktion – ein heftiges Husten vielleicht, mit Ausrufen des Abscheus über den Geschmack. Pfeifenrauchen war ein Vergnügen, das man sich erarbeiten musste. Aber der Zauberer verblüffte sie; er paffte mit offensichtlicher Freude und blies einen ziemlich glaubwürdigen Rauchring.

„Sehr entspannend – ich sehe, ich werde mir eine eigene zulegen müssen. Sam, ich glaube, dein Herr fragt sich, wie du ihn so schnell gefunden hast.“

Sam schnaubte. „Ich war nicht so schnell, wie Ihr glaubt! Ich bin vor der Dämmerung aufgewacht und es war zu still, als wie – ich weiß nicht, irgendwas war nicht in Ordnung, das ist alles. Und deine Tür war abgeschlossen.“ sagte er zu Frodo. „Das machte mir Sorgen, und ich ging nach hinten herum und schaute in dein Fenster, aber ich konnte dich nicht sehen. Also bin ich geradewegs durch das Fenster geklettert, um zu gucken, und du warst nicht da und keiner hatte in deinem Bett geschlafen, da war bloß diese Notiz. Ich schaute mich so ein bisschen um, und du hattest dein Mithril-Hemd und alle deine Sachen da gelassen – also holte ich Lutz und kam hinter dir her. Ich hatte schon eine ganze Weile gesucht, bevor mir einfiel, dass die Höhle hier draußen war, und zu der Zeit war ich in einem Zustand – ich hab Lutz hart geritten, um her zu kommen.“

„Aber wieso um Himmels Willen wusstest du von der Höhle?“ fragte Frodo.

Sam wirkte ein bisschen verlegen. „Na, Herr Frodo, in diesem letzten Sommer vor der Fahrt, da haben wir alle ziemlich genau auf dich aufgepasst, falls du dich alleine davonmachst, so wie Herr Bilbo – Herr Merry hat dir das gesagt, wenn du dich erinnerst. Ich bin dir viele Male gefolgt in dem Sommer, und die anderen auch. Herr Merry weiß von der Höhle. Ich dachte, jemand außer mir sollte für alle Fälle Bescheid wissen.“

Wenn der Zauberer nicht gekommen wäre... dachte Frodo entsetzt.

Sam hätte ihn hier gefunden. Er konnte sich vorstellen, wie er ausgesehen hätte – Giftpilze bedeuteten keinen leichten Tod, und er schloss die Augen vor dem Gedanken an Sam, der sich dieser Szene gegenübersah. Sam, oder Merry. Und er hatte gedacht, er würde sie schonen!

Er wechselte einen langen Blick mit dem Zauberer und sah, dass er mit diesem Gedanken nicht alleine war. Radagast stand auf und kam mit Filits Nest in den Händen wieder zurück.

„Schau, Sam.“

Ein Lächeln breitete sich über dem Gesicht des jungen Gärtners aus und er streckte die Hände aus. Zu Frodos Überraschung reichte der Zauberer ihm Nest und Vogel ohne jedes Zögern, und Filit saß die ganze Zeit still und schaute in vollkommenem Vertrauen von Radagast zu Sam.

„Sie erkennt einen Freund,“ sagte der Zauberer leise und Sam umfasste das Nest so zärtlich, wie er es mit seinem eigenen kleinen Mädchen daheim tat; er gab ein leises Zwitschern und Tschiepen von sich. Der kleine Vogel legte den Kopf schräg und lauschte; endlich antwortete er mit einer einzigen, klaren Note.

„Dieser Vogel hat deinem Herrn das Leben gerettet, Sam.“

Sam schaute ihn fragend an.

„Ich war hier, um ihn zu besuchen, und deshalb war ich zur Hand, um seinen Speiseplan zu ändern. Er kochte sich gerade eine Tasche voll Todesengel.“

„Herr Frodo!“

Frodo wandte den Blick ab, sein Kinn spannte sich an. Wieso musste er es Sam erzählen, wieso seine Gefühle aufwühlen? Gerade als er so glücklich aussah und mit dem Vogel sprach!

„Filit war einer meiner Patienten, vor ein paar Jahren. Nun scheint es, als ob sein Unglück sich als Gnade für verschiedene Hobbits herausgestellt hat... wenn der Merry, den du erwähnt hast, über Frodos Tod ebenso betrübt wäre wie du.“

„Jawohl, das wäre er! Er und Herr Pippin und Rosie und viele andere. Wie konntest du das tun, Herr Frodo? Wie konntest du uns das antun?“

Frodo konnte nicht antworten. Er schaute auf seine Hände hinab und rieb über die Lücke, wo sein Finger fehlte. Er wollte niemandem Kummer bereiten, und doch konnte er nicht noch mehr ertragen. Er sah keinen Ausweg aus seiner Wirrnis.

Sam gab Radagast das Nest zurück, kam zu Frodo hinüber und kniete sich neben ihn.

„Nein... Herr, vergiss jetzt einfach, dass ich das gesagt habe. Ich liebe dich, das ist alles, und ich kann es nicht aushalten, daran zu denken, dass du so was machst. Aber ich weiß, wie das ist, das tu ich. Ich hätte Stich beinahe selbst auf diese Art benutzt, oben auf dem Spinnenpass.“

Frodo starrte ihn erschüttert an. „Du, Sam?“

„Jawohl, ich, Sam Gamdschie. Du hättest nicht gedacht, dass ich in diese Richtung denk, oder? Aber siehst du – ich dachte, du wärst tot. Von diesem Monster umgebracht, und wir beide so weit weg von daheim, und ich ganz allein an diesem grässlichen Ort. Du hast so weiß ausgesehen, so still und so weit weg – das war mehr, als ich ertragen konnte.“

„Was hat dich aufgehalten?“ flüsterte Frodo.

„Ich dachte, ich müsste weiter machen, es beenden. Wenn Er den Ring trotz allem gekriegt hätte, dann wär’s gewesen, als wärst du umsonst gestorben. Und denk doch, Herr Frodo – wenn ich mich in Stich geworfen hätte, da auf dem Pass, dann wäre niemand da gewesen, um dich zu retten. Dann wär alles umsonst gewesen, und einen schrecklichen Tod hättest du gehabt---“

Seine Stimme brach und er zog Frodo in seine Arme.

„Denk bloß nicht, dass dein Sam das nicht versteht. Ich tu’s, ich tu’s ganz sicher. Aber du musst weitermachen, Herr Frodo, genau wie ich. Da gibt’s noch mehr für dich zu tun, oder du hättest nie das Feuer überlebt und alles. Was machen wir eigentlich lebendig hier, wir alle beide? Wer hätte gedacht, dass der alte Gandalf herfliegen und uns vom Berg aufsammeln könnte, wie er es getan hat?“

Endlich brach Frodo zusammen; seine Fassung zerbröckelte und er lehnte sich gegen Sams robuste Schulter und weinte die unvergossenen Tränen der vergangenen drei Jahre.

Für eine lange Weile gab es kein anderes Geräusch als sein schmerzerfülltes Schluchzen. Endlich wurde er still und der Zauberer sprach.

„Du weißt, dass dein Herr wird fortgehen müssen, nicht wahr, Sam?“

Sam starrte ihn trotzig an. „Bitte um Verzeihung, Herr, davon weiß ich gar nichts! Er ist jetzt daheim, und daheim muss er auch bleiben! Es gibt jede Menge für ihn zu tun, genau hier im Auenland Ich werd’ besser aufpassen, das ist alles. Ich wird’ ihn nicht verlassen, nicht einen Augenblick. Er wird keine Gelegenheit mehr haben, sich selbst weh zu tun.“

„Würdest du deine Liebe in einen Käfig verwandeln, Sam?“ Die Stimme des Zauberers war sachte. „Das würde ihm nicht helfen – der Geist oder das Herz würde ihm brechen, und vielleicht beides. Er muss fortgehen und heil werden. Und dann - wenn er sein Leben genießen soll – muss er seine Bestimmung finden.“

„Was für eine Bestimmung?“ unterbrach Frodo ihn grob. „Eine neue Bürde, die ich tragen soll? Habt Ihr nicht gesagt, ihr würdet Eurem gebrochenen Tier keinen Sattel auflegen?“

„In einer Weile – in ein paar Jahren – werde ich nach Mordor gehen.“ sagte der Zauberer.

Die Hobbits betrachteten ihn voller Entsetzen.

„Also Herr Radagast, das wirst du doch nicht tun wollen – nicht dass ich ein Recht hab, einem Zauberer zu sagen, was er tun soll, aber trotzdem! Da wirst du keine Vögel finden, es sei denn Geier, die das Aas wegfressen!“

„Deswegen will ich eine Weile warten, bevor ich gehe. Die Tiefen von Mordor, in der Nähe des Berges und von Barad-Dûr – es wird viele Generationen von Menschen brauchen, ehe das Leben an diese Orte zurückkehrt, falls es das jemals tut. Aber im Morgai, wo du Dornbüsche und kleine Ströme gefunden hast – vielleicht kann man dort etwas tun, um die Erholung des Landes zu beschleunigen. Ich werde auf alle Fälle gehen und es mir ansehen. Ich könnte einen kleinen Esel brauchen, um mich zu begleiten, wenn er bis dahin kräftig genug ist.“

„Nein, so was würdet Ihr nicht tun, ihn dorthin zurück zu bringen!“ Sam stand auf den Beinen; er brüllte und sah aus, als würde er sich jeden Moment auf den Zauberer stürzen. „Ihr und Herr Gandalf! Ihr müsst jemand anderen finden, um Eure großen Fahrten zu erledigen – das letzte Mal hättet ihr ihn beinahe umgebracht, und Ihr schleppt ihn nicht noch mal da hin!“

Radagast schwieg; er beobachtete Frodo, der sich nicht gerührt hatte.

„Ihr ladet mich nach Mordor ein, als wäre das irgend ein seltenes Vorrecht!“ Die Stimme des Hobbits war gesenkt, aber sie bebte von unterdrückten Gefühlen. „Ich danke Euch für das Kompliment, aber ich fürchte, ich muss ablehnen – seht Ihr, ich habe mich von meiner letzten Fahrt dorthin noch nicht richtig erholt.“ Er fragte sich, was geschehen würde, wenn er dem Zauberer ins Gesicht lachte. Es würde ein wildes Gelächter sein.

Radagast begegnete seinem Blick; ein breites Lächeln schien sein Gesicht geradezu zu spalten, und es schien, dass er ganz genau wusste, was Frodo dachte.

„Ich denke, es wäre ein Vorrecht, ja. Und wenn ich glaube, dass es eine Heilung für dieses zerstörte Land geben mag, was sagt das dann wohl über deine Wunden? Du hast durch deine Bürde schwere Verletzungen erlitten, Esel, aber das Land hat noch größeres Übel ertragen, und für weit längere Jahre. Und doch ist das Leben stärker als der Tod, und es wird hervorbrechen, wenn alle Hoffnung verloren zu sein scheint. Was dich angeht – wenn du eine Zeitlang auf Gras wandeln wirst, dann wirst du imstande sein, andere Verletzungen neben deinen eigenen zu heilen. Ist es das wert, dafür zu leben? Du musst nicht nach Mordor gehen – es gibt Bedürftigkeit genug in glücklicheren Ländern, für jemanden mit heilenden Händen und einem Herzen voller Mitleid.“

Sam setzte sich dicht neben Frodo, einen Arm um seine Schultern gelegt.

„Was meinst du damit – wenn er auf Gras wandelt?“

„Ich würde ihn mit mir nehmen, wenn ich das Auenland verlasse, weg in den Süden. Ich habe andere kleine Freunde wie Filit, nach denen ich von Zeit zu Zeit schaue, und die wilden Tiere des Waldes brauchen ebenso einen Heiler wie die Geschöpfe von Dorf und Scheune. Ich würde ihn lehren, ihnen zu helfen, wie ich es tue, und während er das tut, würde er sich selbst helfen. Ich folge den Jahrezeiten ohne Eile, und meine Musik ist der Froschgesang und der Ruf des Brachvogels über weit entfernten Seen. Doch denke ich, dass mich mein Weg dieses Jahr zuerst zu Tom Bombadil führen wird, denn Tom weiß viel von der Sorge um die Erde.“

Frodo lächelte widerwillig. Der alte Bombadil – ja, er würde ihn gern noch einmal sehen, und die schöne Frau Goldbeere. Plötzlich dachte er, dass er sich auf den Weg in den Alten Wald machen würde, um Tom zu besuchen, selbst wenn er nicht mit Radagast ging. Wenn der Wald ihn danach in die Klauen bekam, nun -

Aber Sams Worte und die des Zauberers senkten sich in seinen Geist, und der Tod schien nicht mehr ganz so verlockend zu sein. Froschgesang und der Ruf des Brachvogels – das klang friedevoll und abgeschieden, wie kaltes Wasser an einem durstigen Tag ---

„Ich denke, du solltest gehen, Herr Frodo.“

Er drehte sich überrascht um und begegnete Sams Augen; sie waren ernst und bittend.

„Ich werde dich ganz fürchterlich vermissen, und das Auenland wird nie mehr das selbe sein, wenn du weg bist, aber ich denke, du solltest gehen. Das ganze letzte Jahr konnte ich meinen Finger nicht darauf legen, was es war, was du brauchst – aber das hier scheint irgendwie richtig zu sein. Also, Mordor nicht! Aber das mit dem ,Wandeln auf Gras’ – und dann kommst du vielleicht eines Tages wieder nach Hause, mit frohem Herzen, so wie früher---“ Seine Stimme versagte, und er drückte das Gesicht gegen Frodos Schulter. Frodo strich mit den Fingern durch das zerzauste Haar und dachte daran, dass Sam immer nach Wegen gesucht hatte, ihm zu helfen, statt nach dem eigenen Trost zu schauen...

Sam nahm sich zusammen und tastete ungeschickt nach seinem Taschentuch.

„Nach heute würde ich nie wieder Frieden finden, weil ich mich frage, ob du wieder weg bist, um dich umzubringen. Es würde dich ganz durcheinander bringen, wenn ich dir dauernd hinterher laufe, Herr Frodo. Du gehst besser mit Herrn Radagast.“

*****

In dieser Nacht schliefen sie in der Höhle, und Radagast erzählte ihnen Geschichten, wie sie sie noch nie gehört hatten, von den Sitten und Gebräuchen der wilden Tiere und der Geschöpfe, die er auf seinen langen Wanderungen in Mittelerde kennen gelernt hatte. Tiere, die sie immer nur als Bedrohung und Geißel betrachtet hatten – wie Wölfe und Schlangen – waren für ihn so liebenswert und vertraut wie Filit, un die Hobbits staunten.

„Sie haben alle ihren Platz – Eru erschafft nichts vergebens,“ versicherte er, aber Sam schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Pass bloß auf dich auf, Herr Frodo, wenn du einen Wolf gegen Bauchweh behandelst! Du willst doch nicht noch mehr Finger verlieren!“

Und Frodo lachte; zum ersten Mal seit vielen Monaten dachte er, dass die Zukunft ihm möglich, ja so gar vielversprechend erschien.

Bei Tagesanbruch kamen sie aus der Höhle und stellten fest, dass beide Ponys unter den Bäumen grasten, und bei ihnen war ein großes, graues Pferd mit einem roten Seilzaumzeug, aber ohne jede weitere Reitausrüstung.

„Ah, Grauer, du spürst immer, wenn ich bereit bin aufzubrechen, nicht wahr? Und du hast Streicher mitgebracht, das ist gut. Esel, kannst du auf dem bloßen Rücken deines Ponys reiten? Ich würde ihn nicht so bald mit dem schweren Sattel belasten wollen, wenn du es auch ohne schaffst.“

„Ich kann es lernen. Ich will selbst keinen Sattel tragen, also werde ich Streicher auch keinen auflegen. Soll ich mein Schwert mitnehmen?“

„Nimm es mit – selbst die Tiere haben Klaue und Zahn zu ihrer Verteidigung! Und bring die Satteltaschen her – es ist noch immer die Jahreszeit für Pilze.“

Sam briet den Rest der Kartoffeln; er wischte sich verstohlen die Tränen ab, die ihm ununterbrochen über das Gesicht liefen. Sie aßen rasch und schweigend. Sie hatten während der Nachtstunden miteinander gesprochen, und jetzt gab es nur noch den Abschied.

„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Sam.“

„Brauchst du auch nicht, Herr Frodo. Werd einfach wieder gesund, und sei glücklich. Und komm eines Tages wieder nach Hause! Lass dies nicht das letzte Lebewohl gewesen sein!“

„Ich werde nach Hause kommen, Sam. Es mag lange dauern, aber ich werde kommen.“

Er ritt mit Radagast davon, eine schmale Gestalt auf seinem kleinen Pony, die dem hochgewachsenen Zauberer auf seinem grauen Ross folgte. Einmal blickte er zurück, um Sam zuzuwinken, der mit Lutz’ Zügeln in der Hand da stand und versuchte, durch seine Tränen zu lächeln.


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