Affodill und Wermut (Asphodel and Wormwood)
von Rabidsamfan, übersetzt von Cúthalion

Seine Augen waren trocken.

Es kostete ihn Mühe, aber er blinzelte, und blinzelte wieder, um die Tränendrüsen dazu zu zwingen, zu kooperieren. Und dann hielt er die Lider eine Weile geschlossen, bis der Schmerz schwand. 

Nicht, dass es der einzige Schmerz gewesen wäre, aber er würde seine Augen nötig haben.

Wahrscheinlich.

Sein Kopf fühlte sich eigenartig leer an, und er konnte sich nicht erinnern, wieso. Wahrscheinlich Blutverlust. Er konnte das Eisenaroma riechen, vermischt mit den alchemistischen Dünsten, die sein Leben so lange durchdrungen hatten; er spürte ihre unmissverständliche Dichte in seinem Mund. Sein Hals schmerzte schlimmer als seine Augen… es stach, als hätte jemand Säure in eine offene Wunde geschüttet, es pochte mit einer weißglühenden Hitze, die in ihrem Abklingen Taubheit hinterließ.  

Erst als er etwas fühlte, das aufwärts gegen seine Lippe stieß, rief er sich wieder ins Gedächtnis, dass er geplant… dass er geplant hatte…

Nagini.

“Bitte, Herr, Winky möchte, dass Sie das hier trinken.“ Die hohe, dünne Stimme war schon einige Zeit da, wie das Stück Stoff, das gegen seinen Hals gepresst wurde und die Glasphiole an seinem Mund, aber erst jetzt konnte er verstehen, dass sie Worte benutzte. Er bewegte zögernd die Lippen, erlaubte dem bitteren Gebräu, über seine Zunge hinunter zu sickern. Wermut, ja, für das Vergessen, und war das Affodill? Affodill für… für…  

Es spielte keine Rolle. Er trank gehorsam und wehrte die kleinen Hände nicht ab, die ihm das Haar zurück und aus dem Gesicht strichen. „Ja, Herr, ja. Sie werden sich jetzt ausruhen.“ 

Ausruhen? Wirklich? Es war so lange her…

******

Er wachte auf  und fühlte sich so erfrischt wie seit Jahren nicht mehr. Jung. Fließend.

Eingeschränkt. Oder eher eingesargt.  

Als er für das hier Pläne geschmiedet hatte, da hatte er erwartet, dass es einfach sein würde, still zu liegen und zu warten. Er war so lange erstarrt gewesen… was würde ein Tag oder zwei der Bewegungslosigkeit schon ausmachen? Als er dies geplant hatte, da hatte er erwartet, nur aus einem Grund zurückzukehren – jemand musste Potter… Harry…  das mit dem letzten Horcrux erklären, und in der ganzen Welt war niemand Lebender mehr übrig, der Bescheid wusste. Überhaupt niemand, falls Tom Riddle soviel Verstand gehabt hatte, den Turm des Schulleiters am Beginn der Schlacht zum Einsturz zu bringen.

Er wäre einfacher gewesen, wenn der Junge einfach zufällig den richtigen Schokoladenfrosch in seiner Tasche gehabt hätte. Wenn er daran gedacht hätte, dann hätte Albus ihn schon Monate zuvor finden können. Es erklären können. Ich würde nicht hier in der Dunkelheit liegen und warten.  

Da lag etwas auf seiner Brust. Er berührte es forschend und erkannte es an der achteckigen Form des Messings als den Orden der Merlin. Erster Klasse, nach den zusätzlichen Falten in den Bändern zu urteilen. Kein Zweifel, das war Harrys Werk. Der Besitzer eines Denkariums zu sein, war erleuchtend gewesen, um das Mindeste zu sagen, und nach Monaten des Betrachtens objektiver Erinnerungen wusste er, dass es dem Jungen ähnlich sah, darauf zu bestehen, den Mut zu ehren, zuzugeben, dass er sich geirrt hatte, laut, öffentlich, unwiderruflich. Es sah dem Jungen ähnlich, auf der Wahrheit zu bestehen, nachdem er sie einmal herausgefunden hatte… und nicht, alte, geheime Kümmernisse zu horten, wie in Gläser abgefüllte Überbleibsel auf dem Regal.  

Ich frage mich, ob er es schwieriger finden wird, zum Wohl anderer zu leben, als ich es getan habe.

Sterben war immerhin leicht gewesen, sobald er einmal wusste, dass er seine Aufgabe beendet hatte. Sobald Harry einmal die Erinnerungen besaß, die erklären würden, was er tun musste. Das Zurückkommen war es, das ihn hart ankam. Irgendwie hatte er nie darüber nachgedacht, wie hart es sein würde, die Rolle eines Gipsheiligen auszufüllen.  

Vielleicht sollte ich nach Tibet gehen. Oder nach Australien. An irgendeinen Ort, den Riddle mit seinem Gift kaum berührt hat. Irgendwohin, wo all dieser Schmerz kaum mehr als ein Thema war, das hin und wieder in einer Zeitung auftauchte, eine Geschichte von sehr weit weg.  

Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen – aber er hatte so lang geschlafen, dass alles, was zu ihm kam, das Echo von Träumen war. Ein heller Ort, und Lilys Arme um ihn, ihr Lachen, das ihm in den Ohren tanzte; James und Sirius und Remus, die ihn umdrängten und ihm liebevoll auf den Rücken klopften und ihm dankten; Tonks und Mad-Eye, die aus der Menge winkten; Fred Weasley, der den jungen Colin Creevey zu den Booten führte, zusammen mit viel zu vielen anderen, jungen Leuten, die er am besten von der falschen Seite eines Schülerpultes gekannt hatte.

Albus.  

Er wusste nicht, wie lange sie an diesem Ort saßen, der das Büro gewesen war – und auch wieder nicht - wo sie über die Jahre hinweg so viele Gespräche geführt hatten. Sie sprachen von diesem Schüler und von jenem, von bezahlten Preisen. Und ob es all das wert gewesen war, das wusste er nicht, ebenso wenig wie Albus, und es tat weh, dass er nicht imstande gewesen war, sie alle zu retten, selbst den Weasley-Jungen, obwohl Fred immer ein weit besserer Alchemist gewesen war als sein jüngster Bruder. Weiß und Schwarz und Rot, und sie alle hindurchgegangen auf die andere Seite des Todes, um Harry einen Weg zu bahnen.  

Harry, der den Weg nahm, den Albus für ihn geplant hatte… der aber gerettet worden war, durch Tom Riddles eigene Arroganz. Harry, der bis zum Letzten bewiesen hatte, dass er all die langen Jahre der Lügen und des verborgenen Kummers wert gewesen war… der all die Opfer um seinetwillen genommen und zu einem Elixier des Lebens gebraut hatte, so machtvoll, dass es überströmte und eine Heilung schenkte, die stärker war als die Tränen eines Phönix.

Und so war er am Ende zu einer Wahl gekommen, von der er nicht gedacht hatte, dass man ihm die Macht verlieh, sie zu treffen: Albus vor ihm, der ihm sagte, dass er nichts zu verlieren hatte, egal, welchen Weg er wählte, aber dass er noch immer die Chance besaß, zu gewinnen, was er nie gekannt hatte; Lily neben ihm, die ihm sagte, dass er ein Leben zum Austausch für das verdiente, das er gegeben hatte, und keinen Tod; und Dobby an seinem Knie, der ihm sagte, dass Winky wartete.

Winky.

So närrisch… wegen des Kummers einer trauernden Hauselfe zurückzukommen. So närrisch, hier zu liegen und zu hoffen, dass sie kommen und das Grab öffnen würde, bevor er wieder starb. Und doch… er brauchte jemanden, der seine Geheimnisse wahrte, jetzt, da Albus fort war, und sie hatte soviel Übung darin – ihr Entzücken über das weiche Stückchen Handtuch, das er für sie zum Anziehen gefunden hatte, war einer der wenigen Lichtblicke in einem grimmigen Jahr gewesen.  

Am Anfang hatte sie solche Angst vor ihm gehabt, trotz ihres Hungers nach einem anständigen Herrn. Sie davon zu überzeugen, dass sie einer toten Familie keine Loyalität schuldig war, hatte sich letzten Endes als unmöglich herausgestellt, aber sie hatte zugestimmt, dass es ebenfalls unmöglich sein würde, einer toten Familie zu dienen, und schließlich hatte sie ihm fast dankbar ihr Treueversprechen gegeben. Die anderen Hauselfen hatten nicht im Mindesten gewusst, was sie von ihm halten sollten. Mit ihrem neuen Kontrakt waren sie einverstanden – sie konnten nicht begreifen, weshalb er Dobby seine Freiheit ließ – und doch fürchteten sie ihn und hassten ihn, wie sie Dolores Umbridge gefürchtet und gehasst hatten. Sie war rasch damit bei der Hand gewesen, die Menüs der Schüler zu beschneiden und den Hauselfen auch noch die Chance zu verweigern, die Kinder, denen sie dienten, mit einer Lieblingssüßigkeit oder einem besonderen Abendessen zu trösten. Er tat nichts dergleichen; solange die Schulräume sauber waren und die Schüler nicht mit verdorbenem Magen im Krankenflügel Schlange standen, kümmerte er sich kaum um die Bediensteten… aber sie hatten noch immer Angst vor ihm, sie steckten sich mit dem Gefühl an wie mit einer Krankheit, die in der Luft lag, die sie umgab.  

Winky hatte Wochen gebraucht, bis ihr klar wurde, dass er sie nicht misshandeln, sie nicht anschreien würde. Er hatte ihr verbieten müssen, sich selbst ohne Erlaubnis zu bestrafen, ehe sie anfing, dieses nervtötende Zusammenzucken abzulegen. Nicht eher als an  Halloween hatte sie damit angefangen, ihm wirklich dabei zu helfen, herauszufinden, welche Schüler drangsaliert wurden, welche Schüler einen sicheren Abend bei Aushilfsarbeiten unter den Augen ihrer Hauslehrer nötig hatten. Nicht eher als bis nach Weihnachten hatte sie zugegeben, dass sie sich mit Dobby noch aus einem anderen Grund im Raum der Wünsche traf als wegen des Butterbiers, das man ihr verweigert hatte. Wenn diese Begegnungen möglicherweise Frucht getragen hatten, dann sah sie nicht einem Leben reiner Trauer entgegen. Ein solches Übel wünschte er niemandem, nich viel weniger der einen, lebenden Seele, die Zeugin jener unmöglichen, furchtbaren Maskerade gewesen war, die er wie einen Tanz aufgeführt hatte für alles, was zu lieben ihm noch geblieben war.  

Nie zuvor hatte er gewusst, was es bedeutete, jemanden zu haben, der sicherstellte, dass seine Kleider sauber und gepflegt waren, dass sein Tee fertig war, wenn er bereit war, ihn zu trinken, dass sein Bett zur Nacht für ihn aufgeschlagen war… Am dichtesten heran war er gekommen, als er herausfand, dass Albus absichtlich einen Vorrat des Anisgebäcks bereithielt, das er bevorzugte, in einer Dose in einer Ecke seines Büros.

Und so bin ich hier. Ich warte. Ich hoffe.  

Der Deckel der Gruft bewegte sich. Sterne glitzerten über ihm in der Nacht und zeichneten die vertrauten Umrisse der Kuppeln und Türme der Schule nach. Sie hatten ihn gleich neben Dumbledore begraben. Wie passend. Und was für eine Ernüchterung, wenn sie jemals herausfanden, dass diese Geste unnötig gewesen war. Welchen Drang er auch immer verspürt haben mochte, zu bleiben und sich zu zeigen, jetzt schwand er dahin. Da war eine Welt, die es zu erforschen galt, Tausende, Millionen von Entdeckungen, die darauf warteten gemacht zu werden. Vielleicht sogar irgendwo irgendein anderer Freund, jetzt, da er gelernt hatte, seinerseits einer zu sein.  

Er holte tief Atem, die Nachtluft kühl und frisch und süß in seinen Lungen. Für den Moment war es genug, dass es eine kleine Seele zu beruhigen galt, eine Person, die das Schlimmste über ihn wusste und immer noch nur das Beste sah. Er konnte nicht gleich zu Anfang von einem Piedestal herunterfallen, das so niedrig war. Am Ende musste man es nicht erst würdig sein, geliebt zu werden… es war die Tatsache, dass man geliebt wurde, die einem Würde verlieh.

„Herr?“  

“Ja.” Seine eigene Stimme hatte einen merkwürdigen Klang, als ob die Verletzungen in seiner Kehle irgendetwas unwiderruflich verändert hatten. Vielleicht verloren selbst Phönixtränen an Kraft, nach dem sie so lange Zeit in einem Glas aufbewahrt worden waren.   

Er hob eine Hand und sie fing sie ein, ihre Tränen kühl an seinen Fingerspitzen. „Du kommst zurück!“ schluchzte sie triumphierend. „Du bist am Leben!“


ENDE

       


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