Backtag
von AngieT, übersetzt von Cúthalion

Frodo saß auf dem Küchentisch und sah seiner Mutter bei ihrer Morgenbäckerei zu. Er hatte besonders die große Rührschüssel im Auge, aus der sie die Kuchenmischung in eine Backform leerte. Er achtete ganz genau auf die Anzahl der Rosinen, die in der Schüssel zurück blieben und passte auf, dass sie nicht zu viele davon heraus kratzte. Primula setzte die Schüssel ab, um die Backform in den Ofen zu stellen, und Frodo stellte schmollend fest, dass sie sich außer Reichweite befand.

 "Und jetzt ist es Zeit zum Abwaschen," sagte sie wie zu sich selbst, richtete sich auf und hing den Topflappen an seinen Platz zurück. "Wie kriege ich bloß diese Schüssel sauber? All die Rosinen, die am Rand kleben..."

"Meine!" sagte eine Stimme klar und deutlich vom Küchentisch her, und Frodo streckte die Hände aus.

Primula lachte. "Was für eine gute Idee! Bittesehr!" Sie reichte ihm den großen Holzlöffel, an dem süßer, klebriger Teig und getrocknetes Obst hafteten,  und stellte die Schüssel neben ihn auf dem Tisch.

Inmitten dieses Backtag-Rituals betrat Drogo die reinliche Küche und stellte fest, dass Frodo emsig mit dem Löffel ringsherum in der Schüssel herum kratzte und dann die köstliche Mischung ableckte. "Das sieht aber gut aus. Darf ich auch mal?"

Frodo blickte entsetzt drein und zog den Löffel außer Reichweite seines Vaters. "Nein!" sagte er mit so viel Gekränktheit, wie ein Zweijähriger es nur fertig brachte - und das war tatsächlich eine ganze Menge.

"Und wenn ich einmal lecken für einen Olifantenritt eintausche?"

Frodo dachte mit gerunzelter Stirn darüber nach. "Nein!"

"Ihr seid genauso schlimm wie Bilbo, ihr alle beide," schalt Primula. "Jetzt raus mit euch in den Garten, und kommt vor dem Tee nicht wieder."

*****

Frodo saß mit ausgestreckten Beinen im Gras, die Schüssel zwischen den ständig aufgeschürften Knien, und schabte säuberlich jedes Restchen Kuchenmischung aus der Rührschüssel. Erst, als die letzte Rosine herunter geschluckt war, legte er den Löffel hin und schaute sich um. Drogo hatte sich neben seinem Sohn ausgestreckt, aber nun war er in dem warmen Sonnenschein fest eingeschlafen.

Frodo kippte nach vorn auf seine Hände, streckte die Beine und stieß sein HInterteil in die Luft; dann holte er Schwung und kam auf die Füße. Nun stand er und prüfte die einladende Aussicht. Der Ponypfad wand sich durch grüne Felder und die bepflanzten Flächen der Bauern, um Gärten und Wohnsitze. Die Welt war ein sehr großer Ort, bereit, von einem kleinen Hobbitburschen erforscht zu werden. Zu seiner Linken befand sich ein Baumwäldchen, und jenseits davon schimmerte der Fluss.

Er war schon unten am Fluss gewesen. Seine Eltern hatten ihn mitgenommen, um die neuen Entchen anzuschauen, winzige Knäuel aus gestreiftem Flaum, die im Kreis herum und allesamt in einer Reihe hinter ihrer Mutter her schwammen. Sein Dada hatte ihm versprochen, dass er sich die Entchen mit ihm noch wieder ansehen durfte, um herauszufinden, wie sie gewachsen waren.

Frodo schaute zu seinem Dada hinüber, der jetzt angefangen hatte zu schnarchen. Er war noch nie allein außerhalb des Gartens gewesen, aber er kannte den Weg, und er wollte sehen, wie groß die Enten waren.

Frodo begann sein Abenteuer an diesem Nachmittag damit, dass er sich in Richtung Gartentor aufmachte. Er brauchte einen Moment, um den Riegel am Tor umzulegen, aber dann war er draußen auf dem Weg. Mit dem ganzen, entschlossenen Schwung seiner pummeligen Beine strebte er dem Wäldchen entgegen. 

*****

Der Mann saß in seinen dunkelgrünen Mantel gehüllt, den Rücken an einen Baumstamm gelehnt. Es war närrisch gewesen, sich so kurz vor dem Morgendämmer so weit hinter die Grenze in das Land vorzuwagen, und jetzt war er in der Klemme. Er konnte sich bei Tageslicht nicht im Auenland sehen lassen, und deshalb saß er in diesem Wäldchen in der Falle. Er hatte geangelt und war dem Fluss auf der Jagd nach etwas Essbarem gefolgt, und das erste Licht der Dämmerung hatte ihn weiter innerhalb des Auenlandes angetroffen, als er dachte. Er verfluchte seine Achtlosigkeit sowohl in Westron als auch in Sindarin, mit einer Stimme, die der seines Ziehvaters bemerkenswert ähnlich war. Die Gegend hier war jedoch ruhig genug, und er sollte es fertig bringen, unbemerkt zu bleiben.

Da war ein Rascheln, als liefe ein kleines Tier durch das niedrige Blätterwerk des Unterholzes vorbei, und der Mann erstarrte. Er war immer noch hungrig, und ein Kaninchen - wenn er es denn fangen konnte - würde heute Abend eine willkommene Zutat für seinen Eintopf abgeben, sobald er wieder draußen in der Wildnis war. Er konnte kein Hobbit sein, dazu war das Geschöpf zu klein und machte zuviel Lärm. Er runzelte die Stirn und fragte sich, was es wohl sein mochte. Ein kleiner Hund vielleicht. Kein Tier des Waldes würde seine Gegenwart auf solche...

Ein schnappendes Geräusch, und gleich darauf ein kleiner Aufschrei. Für einen Moment war es still, dann kam ein Luftholen, gefolgt von einem Schluchzen.

Es war ein Kind!

Der Mann erhob sich halb, dann fror er ein. Wenn es ein Kind war, dann würden dort auch andere sein, und er konnte es nicht riskieren, sich zu zeigen - aber es war verletzt! Sein erster Instinkt war, dem Wesen zu Hilfe zu kommen, das da schluchzte. Er wartete und spitzte die Ohren, aber er hörte nichts anderes als dieses Weinen. Das kleine Ding war ganz offensichtlich verletzt.

Er konnte sich nicht länger zurückhalten. Der Mann gab seine Deckung auf und machte die paar Schritte auf das Weinen zu. Er brauchte einen Augenblick, um die Quelle zu lokalisieren; ein winzig kleines Hobbitkind hockte auf Händen und Knien neben einem hoch aufgeschossenen, grünen Gestrüpp. Brennnesseln! Während er noch zusah, ruschte der kleine Hobbit rückwärts auf seinen Hintern und hielt sich einen Arm. Der Mann konnte bereits die brennende Rötung sehen, und die weißen Quaddeln, die sich auf den winzigen Unterarm bildeten. Dann blickte das Kind auf.

Der Mann stellte fest, dass er in riesige blaue Augen in einem blassen, rundlichen Gesicht sah, umrahmt von einem glänzenden Haarschopf, der die Farbe frisch geschälter Rosskastanien hatte. Er begriff, dass das Kind nicht schwer verletzt war, und dass das Weinen zweifellos die Familie aus der Nähe auf den Plan rufen würde. Sein Kind, das so klein war, sollte nicht weit von denen entfernt sein, die für es sorgten. Der Mann wollte gerade wieder verschwinden, als der kleine Hobbit ihm seinen verletzten Körperteil hinhielt und zu ihm aufschaute. "Frodo aua! Küsschen drauf geben?"

Der Mann hatte noch nie zuvor mit Kindern zu tun gehabt. In Imladris war er das einzige Kind gewesen und hatte seine Zeit mit fürsorglichen, aber entschieden erwachsenen Elben verbracht, Aber diese flehentliche Bitte berührte einen Punkt in ihm, von dem er noch nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte.

Gleich darauf kniete er vor dem kleinen Geschöpf, und es schaute mit einem Vertrauen zu ihm auf, das nur von der vollkommenen Sicherheit herrühren konnte, in der es aufgezogen wurde. Der kleine Hobbitjunge hatte keine Ahnung, dass es von einem Mann irgend etwas zu fürchten gab.

Tränen rieselten über die volle, bebende Unterlippe. Ebensowenig wie er fliegen konnte, brachte er es fertig, sich von diesem kleinen Hobbit abzuwenden. Der Mann schaute sich um; wo es Brennnesseln gab, da gab es fast immer auch eine gewisse Menge des Gegenmittels - Sauerampfer. Mit unfehlbarer Sicherheit entdeckte er einen Flecken mit der niedrig wuchernden, breitblättrigen Pflanze; er packte eine Handvoll davon und zerquetschte sie in seinem Griff.

"Darf ich mir mal deinen Arm ansehen?" fragte er leise, ließ sich im Schneidersitz nieder und versuchte, so wenig bedrohlich auszusehen wie möglich. Der Dreikäsehoch schniefte gewaltig, dann machte er einen Satz nach vorn, wobei er sich noch immer seinen geröteten Arm hielt. Der Mann begriff, was der Kleine vorhatte, streckte die Hände aus und stützte ihn, während der Winzling sich auf seinen Schoß plumpsen ließ. Der Mann schloss sachte die Finger um den Arm. Die Quaddeln waren riesig auf dem kleinen Körperteil, und es musste fürchterlich stechen. Er konnte spüren, wie der Atem in dem Kinderleib stockte, während er sanft die kühlenden Blätter auflegte.

"Ich bin Estel."

Frodo lehnte sich an Estels Brust, während das brennende Stechen in seinem Arm nachließ; ein letzter Schluckauf, dann versiegten seine Tränen. Mit der freien Hand zog Estel ein sauberes Tuch aus der Tasche und benutzte es, um die Tränenspuren abzuwischen. Er hielt das Tuch unter die Knopfnase. "Pusten!" und Frodo tat, wie ihm geheißen. "Besser?"

Der dunkle Kopf nickte, dass die Locken tanzten.

"Wo ist deine Mutter?"

Frodo deutete mit seinem heilen Arm nach hinten durch die Bäume, wo eine Grasfläche und ein paar Wohnstätten zu sehen waren. "Backtag."

"Weiß sie, wo du bist?"

Diesmal wurde der dunkle Kopf geschüttelt. Wie sollte er dieses Kind bloß zurück nach Hause bringen, ohne selbst entdeckt zu werden?

*****

"DROGO!"

Drogo wachte auf, setzte sich bolzengerade hin und schaute sich um.

"Wa...? Wo?"

"Wo, aber wirklich!" rief Primula. "Wo ist Frodo?"

"Er ist genau..." Drogo drehte sich um und entdeckte die verlassene Rührschüssel und den Löffel.

Primula hetzte in einem Wirbel aus Röcken an ihm vorbei, während Drogo sich den Schlaf aus dem Gesicht rieb. "Oh - das Tor!" rief sie, als sie entdeckte, dass es offen stand, ein stilles Zeugnis ihres Verlusts.

"Weit kann er nicht gekommen sein." Die Sorge in seiner Stimme strafte die Worte Lügen.

"Das ist auch gar nicht nötig." Primula zerknitterte ihre Schürze zwischen den Händen und drehte sich hilflos im Kreis. "Wo ist er? FRODO!"

Drogo kam auf die Beine und stellte sich einen Augenblick neben seine Frau. "Ganz ruhig, Mädel. Hier in der Gegend kann ihm nicht viel passieren."

"Nein, aber was, wenn er... Der Fluss! Oh, Drogo!" Primula schnappte nach Luft.

"Da haben wir wieder deine Brandybuck-Hirngespinste - immer denkst du an das Schlimmste."

"Wie kannst du bloß so ruhig sein?" Primula drehte sich wütend zu ihrem Mann um. "Wenn irgend etwas... wenn irgend etwas..."

Drogo nahm seine Frau an der Hand. "Dann komm!" und rannte mit ihr zum offenen Tor. 

*****

 Frodo war auf Estels Schoß herumgerutscht und betrachtete seinen neuen Freund mit Interesse. Er hatte noch nie einen so großen Hobbit gesehen. Heiler Wühler war sehr dick, aber dieser Hobbit war zweimal so lang. Außerdem spross ihm merkwürdiges Zeug aus dem Gesicht, und seine Haare hatten keine Locken mehr. Er musste etwas sehr Schlimmes getan haben, dass ihm das passiert war! Merkwürdig angezogen war er auch - einfache Sachen, allesamt aus einem verblichenen Dunkelgrün. Frodo schaute auf sein eigenes, hellblaues Hemd und seine dunkelgrünen Hosen hinunter, und dabei richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Estels Füße... oder besser auf die Tatsache, dass sie fehlten. Estels Hosen setzen sich einfach fort, bis sie in schlammige Lederstiefel übergingen, aber es ragten keine netten, pelzigen Füße darunter hervor. 

Frodo deutete voller Entsetzen darauf. "Keine Füße!", und er brach prompt erneut in Tränen aus.

"Oh nein, Da, mein Kleiner. Ist schon gut... ich habe Füße," Estel bemühte sich, ihn zu beruhigen. Während er Frodo in einer Armbeuge hielt, streckte er sein langes Bein und arbeitete sich aus einem Stiefel heraus. Die Socke, die dabei zum Vorschein kam. war nicht gerade ein tröstlicher Anblick, also zog er sie ebenfalls aus und wackelte für Frodo mit den Zehen. "Schau mal - ich habe Füße."

Frodo hörte auf zu weinen und betrachtete erschrocken den schmutzigen und haarlosen Fuß, der ihm zur Inspektion hingehalten wurde. Er war nicht beeindruckt. Er wusste, dass kleinen Hobbitkindern, die ihre Möhren nicht aufaßen, die Fußbehaarung ausfiel. Sein neuer Freund tat ihm sehr Leid.

"Möhren aufessen - wachsen wieder!" sagte er, streckte die Hand aus und tätschelte den armen, nackten Fuß. Auf dem Weg zurück zu Estels Schoß klaubte er die abgelegte Socke auf und zog sie über seinen eigenen Fuß. Sie reichte hinauf bis über sein Knie und bis zum Ende seines Oberschenkels, wo sie Falten warf, weil es nicht weiterging.

"Also, das ist eine hübsche Sache, um ein Elbenprinzlein einzuhüllen," lachte Estel, und Frodo klatschte entzückt in die Hände, während sein eigenes, schrilles Gelächter in das tiefe von Estel mit einstimmte.

"Ich höre ihn!"

Estel erstarrte, Eine Stimme kam vom Rand des Wäldchens... die Stimme einer Frau. Vorsichtig setzte er Frodo auf den Boden und packte seinen Stiefel. Er hielt inne,unfähig, sich zurück zu halten, und liebkoste die weiche, volle Kinderwange. Frodo blickte zu ihm auf und lächelte strahlend. "Dankeschön."

"Gern geschehen," flüsterte Estel und war verschwunden.

 *****

 "Frodo!" Primula hob ihren kleinen Jungen hoch und hielt ihn ganz fest.

"Mammi!" rief Frodo entzückt.

Drogo kam ziemlich kurzatmig hinter seiner Frau her gekeucht. 

"Frodo, mein Kleiner. Du darfst nicht einfach so weglaufen," schalt Primula, umarmte Frodo und küsste sein Gesicht und seinen Hals. Frodo hielt sich an ihren Haaren fest und drückte seine Wange an die ihre.

"Keine Angst," erklärte er ihr.

Primula drehte sich um und trug ihren Sohn den Abhang hinauf aus dem Schatten der Bäume zu ihrem Smial, während sie ihn noch immer abküsste und ausschalt.

"Was ist denn das?" fragte Drogo; er hatte die Sauerampferblätter bemerkt, die noch immer am Arm seines Sohnes klebten. "Und das!" Er war beinahe noch verblüffter über das merkwürdige, wollige Kleidungsstück an Frodos Bein.

Primula pflückte die Blätter herunter und betrachtete die Überreste der Nesselquaddeln. Sie runzelte verwirrt die Stirn. "Wie hat er bloß wissen können, dass man Sauerampferblätter nehmen muss?" Sie blickte zu dem Wäldchen zurück, konnte aber kein Zeichen eines anderen Hobbits sehen.

"Und wer hat ihm das hier angezogen?" Drogo zog die Socke herunter, aber Frodo hielt sie fest. "Meins!"

"Was ist das denn eigentlich?" fragte Primula.

"Das ist eine Socke," sagte Drogo. "Ich habe mal bei Bilbo eine gesehen; einer seiner Zwergenfreunde hatte sie da gelassen."

Frodo packte seine Socke und schwenkte sie durch die Luft. "Estel!" lachte er. "Frodo ihm sagt Möhren aufessen."

Drogo seufzte. "Irgendwie glaube ich, das ist eines von den Geheimnissen, denen wir nie auf den Grund gehen werden."

"Also, wir haben Kuchen zum Tee, und ich habe mein kleines Kerlchen wieder," sagte Primula. Frodo wedelte ihr mit seinem Schatz vor dem Gesicht herum. "Und eines weiß ich - wo immer das da her kommt, sobald wir wieder daheim sind, landet es in der Wäsche."

Als die Dämmerung damit begann, ihren Mantel über dem Auenland auszubreiten, machte sich ein großer Schatten rasch auf den Weg aus der Deckung des Wäldchens heraus und verschwand in der Dunkelheit. Als er die Grenzen des Auenlandes sicher errecht hatte, bildete sich eine Blase auf einem Zeh, wo der Stiefel über den bloßen Fuß scheuerte.  

Zurück im Smial, geschützt und bewahrt, lag ein kleiner Hobbitjunge zusammen gerollt in seinem Bett; er schlief tief und fest und hielt eine frisch gewaschene Socke in seiner Faust.


ENDE


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