Ein erster Riss in der Deckung
von Cúthalion

Er atmet die feuchte, faulig riechende Luft voller Erleichterung ein. Im dämmrigen Asyl dieses Kerkers ist er der Meister aller Dinge. Hier ist er sicher.

Seine Augen folgen den säuberlichen Reihen der Flaschen und Phiolen auf den soliden Regalen; liebevoll zählt er die Flüssigkeiten, die Essenzen und Pulver hinter dickem Glas und versiegeltem Ton. Er setzt sich hinter sein Pult und faltet lange, bleiche Finger auf dem schwarzen, polierten Holz. Hier ist es, wo er den Jungen, der überlebt hat, zum ersten Mal als einen seiner Schüler zu sehen bekam… wie er eifrig Einzelheiten aus dieser albernen Einführungs-Ansprache auf sein Pergament kritzelte, die er sich über die Jahre hinweg ausgedacht hat. Mit einer Mischung aus kalter Anspannung und schicksalsergebener Ruhe sah er ihn dort sitzen… das dunkle, zerzauste Haar, das blasse, schmale Gesicht.  

Überwältigt. So kam ihm Harry Potter damals vor… wie er in eine neue, völlig unbekannte Welt hineinstolperte, wie seine Füße die ersten unsicheren Schritte versuchten auf dem Weg hinein in die Zauberei. Ein anderer Lehrer wäre vielleicht imstande gewesen, sich an seine eigenen, zaudernden Anfänge zu erinnern, hätte vielleicht eine spontane Kameradschaft empfunden… aber er konnte es nicht. Alles, was er in diesem plötzlichen, bitteren Bruchteil einer Sekunde sah, war die Ähnlichkeit des Jungen mit seinem Vater. Er sah aus wie James. Zum Henker mit diesem nervtötenden, kleinen Schuft… um Himmels Willen, er war James wie aus dem Gesicht geschnitten.

Er reibt sich die brennende Stelle über den Handgelenk, und die Erinnerung an Fudge treibt zurück in seinen Geist. Dieser hirnlose Narr. Er schwankt am Rande eines gähnenden Abgrundes, aber er weigert sich, die bedrohlichen Tiefen direkt unter seiner Nase zu erkennen… sogar das Dunkle Mal hat nicht ausgereicht, seine Meinung zu ändern. Und wieder war da Harry… eine erschreckend zerbrechliche Gestalt unter der weißen Decke des Bettes im Krankenflügel, die Augen eigentümlich nackt ohne seine Brille. Ein Kind, gefährlich nahe daran, zusammenzubrechen, die Wahrheit über die Rückkehr des Dunklen Lords wie Feuer in jede erschöpften Linie seines Gesichtes gesengt. Das war die zweite Gelegenheit, bei der er sich den Jungen genauer ansah… und jetzt weiß er, dass er das nicht hätte tun dürfen, weiß es mit erschütternder Gewissheit.

Die letzten paar Jahre sínd wie der Aufstieg auf einen Berg gewesen, und der felsige Abhang ist mit jedem mühsamen Schritt steiler und steiler geworden. Er fordert das Schicksal heraus und spielt ein Spiel, das ihn früher oder später das Leben kosten wird. Anders als Fudge ist der Dunkle Lord kein Narr. Eines Tages wird er den Preis zahlen müssen für sein wahnwitziges Doppelspiel, und er wird ihn mit Fleisch und Blut zahlen.

Nicht dass er sich davor fürchtet. Die einzige Furcht, die in seinem Herzen noch übrig bleibt, ist die, dass er sie enttäuschen könnte. Nicht Dumbledore, der ihm dieses Versprechen abgerungen hat. Nicht dem Jungen… ganz sicher nicht den Jungen. Aber der Gedanke, dass sie über ein etwaiges Versagen enttäuscht sein könnte, sorgt dafür, dass sich seine gesamte Seele in hilfloser Qual krümmt.

Das heißt, wenn er denn überhaupt noch eine Seele hat.  

Er muss seinen kühlen Kopf wahren, seine unbeirrbare Fähigkeit, auf dem dünnen Seil zwischen Loyalität und Betrug zu tanzen. Dies ist nicht der Augenblick, zu erforschen, was er entdecken könnte, wenn er das Wagnis einginge, sein Herz und seine Seele ihrem Sohn zu öffnen.  

Um die Sicherheit des Junge willen kann er sich nicht gestatten, etwas anderes für ihn empfinden als das, was er schon in den vergangenen vier Jahren empfunden hat… die übliche, ungeduldige Abneigung, die unruhige, verzweifelte Verpflichtung, dieses wiedergeborene Symbol seiner elenden Jugend und seiner tiefsten Demütigung zu beschützen.  

Er muss Harry hassen, um ihn am Leben zu erhalten.

Für einen kostbaren, verbotenen Moment erlaubt er sich, in der geheimen Erinnerung an Lilys Gesicht zu schwelgen. Helle Haut, Haar wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in einem, ein Blick, klar und geradeheraus, tief und grün, ein durchbohrendes Messer, ein bodenloser Brunnen der Zeit. Nur einen ganz kurzen Moment… eine fast unmerkliche Berührung von Wärme, von Anmut und Schönheit, bevor er sich entschlossen wieder abschirmt. 

Er schirmt sich auch gegen die Wahrheit ab… die Wahrheit, die sich ihm in demselben Moment offenbart hat, als er den Jungen in diesem Bett im Krankenflügel sah. Er muss die plötzliche Erkenntnis vergessen, dass Dumbledore Recht hat… dass Harry nicht nur der Sohn seines Vaters ist, dass er viel mehr geerbt hat als James Potters schlechte Angewohnheiten und seine unverschämte Arroganz.

Er ist auch Lilys Kind.

Merlin, er verabscheut ihn wirklich und wahrhaftig, diesen verwöhnten, kleinen Bengel mit der unbeirrbaren Fähigkeit, sich in Schwierigkeiten zu bringen und jede tödliche Gefahr in Reichweite anzuziehen. Er wird mit Sicherheit einen schmerzhaften Tod sterben, während er versucht, ihn vor Voldemorts Händen zu bewahren. Aber trotzdem –

Hölle und Verdammnis, er hat ihre Augen.


FINIS


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