Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Vier
Beschützer der Schwachen  

Was sollten die Verhaltensmaßregeln für einen Fürsten sein? Ich sage: er sollte großzügig sein in Gedanken und Tat, gerecht und treu seinen Freunden gegenüber und unbeugsam zu seinen Feinden; doch stets bereit, die zu beschützen, die sich nicht selbst schützen können.
(Mardil Voronwe: Der Fürst)

Der Diener beugte sich vor, um Fürst Imrahil etwas ins Ohr zu flüstern. Zu gut erzogen, um zu lauschen, war Éomer trotzdem sicher, dass er hörte, wie Prinzessin Lothíriels Name erwähnt wurde. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Gastgeber erstarrte, das Weinglas auf halbem Weg zu den Lippen. Dann erhob sich Imrahil so abrupt, dass er beinahe seinen Stuhl umwarf.

„Entschuldigt Ihr mich einen Moment?“ sagte er zu Éomer. „Es hat sich ein kleines, häusliches Problem ergeben, das meine Aufmerksamkeit erfordert.“

„Ja, gewiss,“ erwiderte Éomer höflich, aber er glaubte nicht, dass der Fürst ihn gehört hatte, denn der war in diesem Moment bereits auf halbem Weg zu der Tür, die aus dem Speisesaal führte.

Éomer sah ihm nachdenklich dabei zu, wie er hinaus ging. Bis heute Abend hatte er seinen Freund für vollkommen unerschütterlich gehalten. Sie hatten in der letzten Schlacht außerhalb des Morannon Seite an Seite gestanden, und selbst, als er dem sicheren Tod ins Auge sah und dem Ende von allem, was ihnen lieb war, war Imrahil ruhig und voller Würde geblieben, entschlossen, neben dem König sein Bestes zu geben und auf eine Weise zu sterben, die seinen Vorfahren Ehre machte.

Nun hatte er binnen eines einzigen Abends gleich mehrmals erlebt, wie der Fürst von Dol Amroth aus der Fassung geriet. Zuerst, als er, Éomer, die Prinzessin aus dem Garten herein begleitet hatte; sein Freund hatte überaus bestürzt drein geschaut und war noch eine ganze Weile danach nicht sein übliches, gelassenes Selbst gewesen. Rückblickend fragte sich Éomer, ob Imrahil wohl unangenehm überrascht gewesen war, dass er die Blindheit seiner Tochter entdeckt hatte, oder ob er sich mehr Sorgen darüber machte, was sie zu ihm gesagt haben mochte. Dass man sich nicht darauf verlassen konnte, dass sich die Prinzessin von Dol Amroth an die Art unverfänglicher Gesprächsthemen hielt, die die anderen Damen von Gondor bevorzugten, war ihm bald danach klar geworden.

Éomer hätte beinahe laut über Imrahils Gesicht gelacht, als seine Tochter unschuldig in Grundzügen darlegte, wie sie sich vorstellte, die Kontrolle der Hundebevölkerung von Dol Amroth zu lösen. Auf gewisse Weise war es ziemlich tröstlich, dass er nicht das einzige männliche Wesen war, das durch ihre Themenwahl in Verwirrung geriet.

Die Bediensteten waren makellos geschult und trugen nun eine eindrucksvolle Sammlung von Süßigkeiten auf; sie reichte von ihm vertrauten Honigkuchen über gezuckerte Mandeln zu exotisch aussehenden Delikatessen, die weit aus dem Süden importiert wurden. Frau Annarima und Elphir hielten tapfer ein ziemlich zusammenhangloses Gespräch über die Unterhaltungen vom vergangenen Abend in der Veste in Gang, aber Éomer bemerkte, dass sie ständig unruhige Blicke in Richtung der Tür warfen, durch die Imrahil verschwunden war. Was Amrothos anging, so hatte er es ganz und gar aufgegeben, so zu tun, als würde er ihnen zuhören.

Als die Tür sich kurz danach öffnete, verfielen alle in Schweigen und blickten erwartungsvoll auf. Es war allerdings nur der selbe ältere Diener, der Imrahil geholt hatte. Dieses Mal trat er neben Elphir und flüsterte ihm ins Ohr.

„Ich komme.“ Der Prinz nickte; eine Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen.

Als er aufstand, erhob sich seine Frau ebenfalls von der Tafel.

„Wenn Ihr uns entschuldigen wollt, mein König,“ sagte sie glatt und nahm den Arm ihres aufgeschreckt dreinschauenden Gatten.

Er wurde mit Amrothos allein gelassen. Die Tür schloss sich mit einem sachten Klicken hinter dem Prinzen und der Prinzessin von Dol Amroth, und die Diener füllten leise ihre Gläser nach. Éomers Blick fiel auf den Weinfleck, der das Resultat von Lothíriels früherem Missgeschick war. Er war inzwischen fast trocken. Er fragte sich, was seine Schwester wohl von ihrer Trauzeugin halten würde. Es war nicht das erste Mal, dass er eingeladen wurde, an Imrahils Tafel zu speisen, aber er musste zugeben, dass es diesmal am unterhaltsamsten gewesen war. Statt des üblichen, reichlich förmlichen Geplauders über den Hof von Gondor war das Gespräch abwechslungsreich und anregend gewesen. Die beiden jüngsten Abkömmlinge der Familie schienen eine belebende Wirkung zu haben, selbst wenn das nicht immer ihre Absicht war.

Amrothos hatte sich damit beschäftigt, eine der Orangen auszuwählen, die in einem Obstkorb mitten auf dem Tisch kunstvoll angeordnet waren, und jetzt bot er Éomer ebenfalls eine an. Ihre Augen begegneten sich, und plötzlich grinste Amrothos.

„Oh, gehen wir einfach mal nachsehen,“ schlug er vor und legte die Frucht wieder hin.

„Wenn Ihr das sagt,“ stimmte Éomer bereitwillig zu.

„Nun, ich kann Euch wohl kaum so ganz allein hier sitzen lassen, oder nicht?“ sagte Amrothos und zwinkerte ihm zu, „und ich sterbe beinahe vor Neugier, herauszufinden, was dieses kleine häusliche Problem sein mag. Ihr nicht?“

Éomer stutzte und musste lachen. „Ja, das tue ich,“ gab er zu.

*****

Sie trafen als Letzte ein. Ein Diener hatte sie zögernd zu einem kleinen, kopfsteingepflasterten Stallhof gewiesen, der dem Haupttor gegenüber lag, und als sie dort ankamen, fanden sie den gesamten Haushalt versammelt, der dabei zuschaute, wie sich das Spektakel entfaltete.

Prinzessin Lothíriel befand sich mitten auf dem Hof; ihr Neffe hielt sich an ihren Röcken fest, und sie stand ihrem Vater, Elphir und seiner Frau gegenüber. Sie sprachen leise miteinander. Die Fackeln, die an allen vier Wänden in Haltern steckten, warfen ihr flackerndes Licht über die Szenerie. Was allerdings Éomers Aufmerksamkeit auf sich zog, war das Pony, dessen Führleine sie festhielt; ein einzigartig traurig aussehendes Vieh. Er brauchte einen Moment, seine grobe, räudige Haardecke in sich aufzunehmen, die Rippen, die seitlich herausragten und die teilnahmslose Art,mit der es den Kopf hängen ließ, und er war sehr erstaunt, ein solches Tier in den Ställen von Fürst Imrahil vorzufinden.

Dann entdeckte Éomer die Reiter seiner kleinen Leibwache, die in der Küche gegessen hatten, und er winkte Éothain, den Hauptmann, zu sich herüber.

„Was geht hier vor?“ fragte er.

Sein Hauptmann zeigte einen sorgsam neutralen Gesichtsausdruck, während er ihm und Amrothos zunickte. „Es scheint, dass die Prinzessin das Pferd gekauft hat, aber Fürst Imrahil ist mit ihrem Geschmack nicht einverstanden.“

Éomer war nicht überrascht. Neben ihm stöhnte Amrothos. „Sie hat es gekauft? Wozu das denn?“

„Scheinbar, um es davor zu bewahren, zum Abdecker geschickt zu werden.“

Bei sich dachte Éomer, dass er mit der Entscheidung des früheren Besitzers übereinstimmte. Was konnte man auch anderes mit einem Tier anfangen, das so erbärmlich aussah?

„Ein Pony!“ rief Amrothos aus. „Konnte sie nicht bei Hunden bleiben? Das wird schlimmer und schlimmer!“

Beim Ausruf seines Sohnes hatte Imrahil zu ihnen hinüber gesehen und nickte ihnen jetzt einen gequälten Gruß zu. Éomer fühlte sich genötigt, zu ihm zu gehen, obwohl er nicht den geringsten Wunsch hatte, in einen Familienstreit verwickelt zu werden.

„Ich werde nicht zulassen, dass mein kostbarer Sohn mit diesem von Flöhen übersäten Knochensack gesehen wird!“ schalt Frau Annarima soeben heftig, und dann nahm sie sich zusammen, als sie ihn bemerkte.

Ihr kostbarer Sohn sah entschieden rebellisch aus. Éomer hatte den Jungen kennen gelernt, als er das letzte Mal mit Imrahil zu Abend gegessen hatte, und er hatte ihn ein wenig langweilig und unnatürlich reserviert gefunden, ganz anders als die Kinder der Rohirrim. Jetzt sah er viel mehr wie ein ganz normaler Sechsjähriger aus.

„Es ist nicht gerecht!“ protestierte er.

„Alphros, du musst begreifen, dass das Leben nicht immer gerecht ist,“ versuchte sein Vater ihn zu beruhigen und kauerte sich hin, um seinem Sohn ins Gesicht zu sehen, „und dieses Pony ist viel besser dran, wenn man es von seinem Leiden erlöst."

„Du musst darauf vertrauen, dass wir Erwachsenen am Besten wissen, was zu tun ist,“ pflichtete Fürst Imrahil ihm bei. Éomer hatte das Gefühl, dass der Fürst dieses Argument nicht zum ersten Mal benutzte.

„Tante Lothíriel ist erwachsen, und sie denkt genau wie ich,“ gab Alphros sofort zurück und blickte triumphierend zu seinem Großvater auf.

Frau Annarima öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihr Gatte kam ihr zuvor.

„Das genügt, Alphros,“ sagte Elphir und stand auf. „Deine Mutter und ich haben entschieden, dass das Tier verschwindet, und zwar endgültig.“

Prinzessin Lothíriel hatte dem gesamten Austausch mit fest zusammen gepressten Lippen und einem Gesicht gelauscht, das weiß und angespannt war.

„Nein, das wird es nicht,“ sagte sie flach. „Galador bleibt hier. Ich habe ihn gekauft. Er gehört mir.“

Imrahil schaute drein, als sei er vom Donner gerührt. „Galador?“ fragte er. „Die haben es gewagt, dieses... Tier nach unserem Vorfahren zu benennen, dem ersten Fürsten von Dol Amroth?“

„Nein, sie haben ihm gar keinen Namen gegeben,“ gestand die Prinzessin. „Das war Alphros' Idee.“

Éomer hatte Mühe, über den entsetzten Gesichtsausdruck seines Freundes nicht zu lachen, und hinter sich hörte er etwas, das ebenfalls verdächtig nach unterdrücktem Gelächter klang. Amrothos hatte sein Gesicht in den Händen vergraben, und seine Schultern zuckten.

„Wo hast du ihn überhaupt gefunden?“ fragte er seinen Neffen, als er sein Vergnügen bemeistert hatte. „Du könntest sicherlich ganz Minas Tirith absuchen und kein kläglicheres Geschöpf auftreiben.“

Seine Schwester runzelte die Stirn, aber es war Alphros, der die Frage seines Onkels beantwortete. „Minardil hat mir von ihm erzählt,“ erklärte er.

„Wer ist Minardil? fragte Amrothos geduldig.

„Er ist der Sohn von Alphros' persönlicher Leibwache,“ erwiderte seine Schwester, „und nur ein Jahr älter als Alphros. Was das Pony angeht, es gehörte dem Besitzer dieser kleinen Taverne die Straße hinunter.“

„Die Jungfer und der Drache?“ fragte Frau Annarima ungläubig. „Du hast meinen Sohn an diesen Ort gebracht?“

„Er war völlig sicher. Wir haben Minardils Vater mitgenommen, und sie waren sehr höflich,“ entgegnete die Prinzessin beruhigend.

Éomer war der Leibwache des Jungen begegnet, einem großen, verdrießlichen Mann mit einem Ruf, der dazu passte, und er hatte überhaupt keinen Zweifel, dass der Besitzer der Taverne peinlich genau darauf bedacht gewesen war, zu der Prinzessin höflich zu sein, die obendrein den Einfluss ihres Vaters im Rücken hatte.

Frau Annarimas Stimme stieg um eine Oktave. „Weißt du, was für eine Art Gesellschaft sich in dieser Taverne herumtreibt?“

„Nicht wirklich,“ gab Prinzessin Lothíriel zu. „Wieso? Weißt du es denn?“

Jemand in der Menge kicherte, und die Prinzessin lief langsam rot an; offensichtlich wurde ihr erst jetzt klar, wovon ihre Schwägerin sprach.

„Die Art, wie du uns hier zum Gespött machst, ist schändlich!“ zischte Frau Annarima wütend.

„Das tue ich nicht,“ antwortete Prinzessin Lothíriel ruhig. „Du bist es, die hier einen Aufruhr veranstaltet. Alles, was ich getan habe, war, dieses arme Pony davor zu bewahren, getötet zu werden, und jetzt brauche ich einen Stand in den Ställen.“

Ihre Stimme war fest und vernünftig und wieder vollkommen selbstsicher. Éomer starrte sie voller Überraschung an. War dies das selbe Mädchen, das über eine solche Kleinigkeit wie ein verschüttetes Glas Wein am Essenstisch so in Verlegenheit geraten war? Das Pony gab ein kleines Wiehern von sich, fast so, als bekäme es das Streitgespräch mit, und die Prinzessin streckte sofort eine beruhigende Hand aus.

„Keine Sorge, mein Kleiner,“ sagte sie sanft, „du bist jetzt in Sicherheit.“ Ihre Finger streichelten den struppigen Hals. Das Pony hob den Kopf und für einen Moment spitzte es die Ohren.

„Seht ihr,“ meldete Alphros sich zu Wort. „Alles, was Galador braucht, ist Ruhe und etwas Futter.“

„Nun, in meinen Ställen bekommt er das nicht,“ sagte Imrahil mit Festigkeit, „und sie sind sowieso voll. Es ist überhaupt kein Platz mehr frei.“

„Viel Platz braucht er nicht,“ argumentierte seine Tochter. „Vielleicht könnte er sich einen Pferdestand mit einem der anderen Ponys teilen.“

Elphir blickte drein, als sei er über diesen Einfall entsetzt. „Was denn, und die Flöhe und Eru weiß was für Krankheiten soll er dann auch noch mit ihnen teilen?“

Zum ersten Mal war die Prinzessin leicht beunruhigt. „Vielleicht ist das keine gute Idee,“ stimmte sie zu. „Dann werden wir eben einen Stand in einem der Gasthäuser mieten.“

„Einen Stand mieten?“ echote Frau Annarima. „Die Gasthäuser sind für die Hochzeit vollkommen überfüllt. Und weißt du, wie viel das kostet? Wer wird für all das bezahlen?“

Prinzessin Lothíriel zögerte, und ihre Schwägerin nutzte den Vorteil sofort.

„Wie hast eigentlich du für dieses Tier bezahlt?“ fragte sie. „Du hast kein Geld.“

Alphros klammerte sich noch fester an die Röcke seiner Tante und blickte flehend zu seiner Mutter auf. Für einen Moment schwankte sie, doch dann verschränkte sie die Arme vor der Brust.

„Nun?“ fragte Frau Annarima.

„Ich habe ihn in Vaters Namen gekauft,“ gestand die Prinzessin.

„Ich wusste es!“ rief ihre Schwägerin triumphierend aus. „Wie viel hast du dafür bezahlt?“

„Zwei Silberkronen,“ sagte Prinzessin Lothíriel zögernd, und Éomer schüttelte den Kopf. Das war der Preis für ein kräftiges Packpferd, nicht für so ein minderwertiges Tier wie dieses, und er war sich ziemlich sicher, dass die Prinzessin das auch wusste.

„Großvater kann ihn mir zum Geburtstag schenken,“ warf Alphros heldenhaft ein. „Bis dahin sind es nur noch sechs Monate.“

„Es sind noch sieben Monate,“ korrigierte ihn seine Mutter, „und außerdem, was würdest du denn damit tun? Du hast schon ein anständiges Pony zum Reiten.“

Prinzessin Lothíriel hatte sich Imrahil zugewandt. „Bitte, Vater,“ flehte sie, „ich brauche nur irgendwo einen Platz für ein paar Tage, und sobald er kräftiger ist, können wir ihn heim nach Dol Amroth schicken. Ich bin sicher, ich finde dort jemanden, der ihn aufnimmt.“

Imrahil zögerte, sichtlich hin-und her gerissen zwischen dem Verlangen, seiner Tochter eine Freude zu machen und der Tatsache, dass es lächerlich war, diese Art Tier den ganzen Weg nach Dol Amroth zu verschiffen. Lady Annarima hatte solcherlei Bedenken nicht.

„Du meinst, du drängst ihn jemandem auf, wie du es schon früher getan hast!“ schnappte sie. „Wer würde sich freiwillig so ein vollkommen unnützes Tier antun?“

„Er ist nicht unnütz!“ schnappte Prinzessin Lothíriel zurück. „Man hat ihn bloß zu sehr geschunden, und er braucht Zeit, um sich zu erholen. Du würdest auch nicht so gut aussehen, wenn du den ganzen Tag schwere Lasten schleppen müsstest, mit dem bisschen Futter auskommen müsstest, das du aufschnappst, und wenn man dich jedes Mal mit einem Stock prügelt, sobald du strauchelst!“

Bei diesen Worten verschlug es den Männern die Sprache, und Annarima verfärbte sich zu einem höchst unvorteilhaften Purpurton. „Du wagst es, mich mit diesem Ding zu vergleichen?“ keuchte sie.

Amrothos wandte sich ab; er schien an irgendetwas zu ersticken. Éomer hatte selbst alle Mühe, bei dem Bild der eleganten Frau Annarima als armseliges, schmuddeliges Pony ernst zu bleiben.

Imrahil räusperte sich. „Ich bin sicher, so hat Lothíriel es nicht gemeint,“ ging er dazwischen.

Für einen Moment trug Prinzessin Lothíriel den selben rebellischen Gesichtsausdruck wie ihr kleiner Neffe, aber dann entschuldigte sie sich. „Es tut mir Leid, Annarima, ich wollte dich nicht kränken,“ sagte sie.

„Ja, ich bin sicher, sie wollte nicht andeuten, dass du ein mit Flöhen übersäter Knochensack bist,“ warf Amrothos ein, wobei er die eigenen Worte seiner Schwägerin von vorhin zitierte.

Das war nicht wirklich hilfreich. Die Augen von Frau Annarima verengten sich zu Schlitzen. „Ihr beide seit weniger als einen Tag hier, und schon macht deine Schwester sich zu einem vulgären Gespött und versucht, die edle Retterin zu spielen," schlug sie zurück. „Alphros ist ein Kind und weiß es nicht besser, aber sie sollte es wissen. Schau dir doch bloß dieses hässliche Vieh an!“

Die Prinzessin war weiß geworden und richtete sich jetzt zu ihrer vollen Größe auf, so gering die auch war. „Das kann ich nicht,“ sagte sie still, „aber das ist auch nicht nötig. Was ich weiß, ist, dass ich nicht einfach vorübergehen kann, während sie dieses arme Ding umbringen, einfach, weil es nicht länger von Nutzen ist.“

„Lothíriel,“ sagte ihr Vater,“ glaub mir, so ist es das Beste. Was würdest du mit ihm machen?“

„Ich weiß es nicht,“ gestand sie.

„Wir brauchen nicht noch ein Pferd, und es ist sowieso kein Platz in den Stallungen,“ sagte Elphir sanft, aber nachdrücklich. „Es ist Zeit, diesen Tatsachen ins Gesicht zu sehen.“

Éomer bemerkte, dass sie wieder damit angefangen hatte, ihre Ärmelsäume zu verdrehen, die jetzt anfingen, ziemlich zerfranst auszusehen.

„Lothíriel,“ sagte ihr Vater, „erinnerst du dich, dass du mir daheim in Dol Amroth versprochen hast, du würdest beim nächsten Mal erst nachdenken, bevor du handelst?“

„Ich weiß,“ erwiderte sie; ihre Stimme war ein wenig brüchig. „Und ich habe mich an mein Versprechen erinnert, aber ich musste etwas tun. Sie wollten ihn gleich als Erstes morgen früh umbringen.“

Fürst Imrahil seufzte. „Tochter, ich weiß, du meinst es gut, aber du musst lernen, deine plötzlichen Einfälle im Zaum zu halten. Erst Hunde, nun ein Pony, was wird es das nächste Mal sein? Ein Mûmak?“

Sie lächelte zittrig. „Wenn er gerettet werden muss...“

Ihre Brüder lächelten, und Amrothos trat neben sie und legte ihr sachte einen Arm um die Schultern. „Kleine Schwester,“ sagte er, „es ist wahr, du kannst einfach nicht jedes Unrecht in Ordnung bringen.“

„Ich weiß,“ sagte sie und wischte sich zornig die Augen mit dem Ärmel, „aber trotzdem...“

Ihre Stimme irrte ab und neben ihr blickte Alphros zu Boden und scharrte mit den Stiefeln über das Kopfsteinpflaster. Der Wind war aufgefrischt und das Licht, das die Fackeln warfen, flackerte wild. Trotz der Wärme des Tages war es noch Frühling, und die Nachtluft hatte sich abgekühlt. Die Prinzessin streckte eine Hand nach dem Pony aus, und als es zitterte, streichelte sie es liebevoll. Éomer beobachtete, wie sie ihre schlanken, weißen Finger an der verfilzten Mähne entlang und über die Nase hinunter gleiten ließ, als versuchte sie, sich deren Form einzuprägen. Das Pony gab ein leises Schnauben von sich; es war offensichtlich an eine so freundliche Behandlung nicht gewöhnt.

„Ich nehme ihn,“ sagte Éomer.

Jedermann drehte sich um und starrte ihn an. Hatte er diese Worte wirklich gesagt? Hinter ihm schluckte Éothain einen Protest hinunter, und die Schaulustigen flüsterten überrascht untereinander. Er räusperte sich.

„Ich nehme ihn,“ wiederholte er.

„Mein König,“ sagte die Prinzessin unsicher, „ich wusste nicht, dass Ihr hier seid. Was meint Ihr damit?“

„Wir können immer ein weiteres Packpferd brauchen,“ erwiderte er ungezwungen. „Ich werde mich darum kümmern, dass er ordentlich gefüttert wird, und ich bin sicher, er wird uns von Nutzen sein.“

„König Éomer,“ protestierte Éothain hinter ihm; er sprach Rohirric. „Wir haben reichlich Packpferde, wir brauchen nicht noch ein weiteres!“

„Nicht jetzt,“ schnitt Éomer ihm das Wort ab, obwohl er im Geheimen vollkommen mit seinem Hauptmann übereinstimmte. Tatsächlich war selbst das Geringste unter ihren Ponys ein Fürst, verglichen mit diesem traurigen Stück Pferdefleisch.

„Seht ihr?“ sagte die Prinzessin von Dol Amroth triumphierend. „Der König von Rohan höchstpersönlich stimmt mir zu, dass Galador nicht unnütz ist. Und niemand weiß mehr über Pferde.“

Éomer wagte nicht, Éothains Blick zu begegnen. „Ihr schmeichelt mir,“ sagte er bescheiden.

„Nicht im Mindesten,“ versicherte sie ihm mit einem freundlichen Lächeln, doch dann verdunkelte sich plötzlich ihr Gesicht. „Ihr werdet Euch nicht heimlich seiner entledigen, oder?“ fragte sie.

Dieser unwürdige Gedanke war ihm durch den Sinn gegangen, wenn auch nur kurz. „Das werde ich nicht,“ versprach er.

„Bei Eurer Ehre als König?“ fragte sie hartnäckig. Hinter ihr schnappte Annarima angesichts ihrer Anmaßung nach Luft.

Er blickte in diese grauen Augen hinunter, die im unruhigen Fackelschein fast schwarz wirkten. „Bei meiner Ehre,“ sagte er und wurde mit ihrem strahlenden Lächeln belohnt. Es war unheimlich, wie genau sie zu wissen schien, wohin sie schauen musste.

Dann wandte sie sich an das Pony und bedachte es mit einem sogar noch strahlenderen Lächeln. „Hast du gehört, Galador?“ sagte sie. „Dies ist dein neuer Herr. Er wird von nun an für dich sorgen.“

Sie reichte ihm das Ende des ausgefransten Seiles hinüber, als wäre es der Schlüssel zu etwas Kostbarem und Seltenen.

„Ihr werdet es nicht bereuen,“ versicherte sie ihm.

*****

Später an diesem Abend ritt Éomer die gewundene Straße hinunter, die zum Haupttor führte, begleitet von seinen Wachen. An einem Führungsseil hinter ihm kam der „Galante Galador“, wie seine Männer das Pony bereits betitelt hatten. Er hatte kurz erwogen,einen seiner Reiter zu bitten, das Seil zu nehmen, hatte aber entschieden, dass das eines Königs unwürdig wäre. Nebenbei mochte ihm das die Lektion erteilen, in Zukunft seine plötzlichen Einfälle besser im Zaum zu halten. Er wusste immer noch nicht, was ihn geritten hatte, diese fatalen Worte zu sagen, aber sobald er sie einmal ausgesprochen hatte, konnte er sie natürlich nicht mehr zurücknehmen.

Wenigstens war Feuerfuß in keiner Weise beleidigt; er hielt das Pony offenbar für weit unter seiner Würde. Nun war die Hauptsorge des Königs von Rohan die, wie er dieses Tier seinem Knappen erklären sollte, der das zweifelhafte Vergnügen haben würde, sich darum zu kümmern. Sie würden es einfach in einem Pferch weit außer Sichtweite unterbringen müssen.

Als sie das Große Tor passierten und sich nordwärts in Richtung ihres Lagers wandten, verteilten sich seine Reiter zu ihrer üblichen Wachformation. Die Straße war von Menschen überfüllt, die zu Besuch gekommen waren oder vom Jahrmarkt zurückkehrten, und anfangs ging es nur allmählich voran. Erst als sie die letzten Zelte hinter sich gelassen hatten, konnten sie eine schnellere Gangart einlegen. Der Mond war inzwischen in den Zenith gestiegen und die Pferde hatten keine Schwierigkeiten, den Weg zu finden. Es war nicht weit, aber nach einer Weile fing das Pony an zu lahmen, so dass sie wieder langsamer wurden. Irgendetwas sagte Éomer, dass die Prinzessin von Dol Amroth durchaus das Wohlergehen seines Schützlings überprüfen mochte, und es würde nicht gut sein, zugeben zu müssen, dass er vor Erschöpfung tot umgefallen war, ehe sie noch das Lager erreicht hatten.

Der Pelennor war mit den Lagern derer übersät, die nicht das Glück gehabt hatten, einen Schlafplatz in einem Gasthaus zu finden, und er war viel zu tief in Gedanken, um ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Wachen bemerkten wohl, dass die Bewohner eines bestimmten, kleinen Lagers kamen, um ihnen beim Vorbeireiten zuzuschauen, doch das war widerum nichts Ungewöhnliches. Der König von Rohan hatte sich inzwischen eine ziemliche Berühmtheit erworben.

Was seine Wachen natürlich nicht hörten, waren die Worte, die zwei der Männer wechselten, nachdem die Rohirrim sie hinter sich gelassen hatten.

„Ist er das, Herr?“ fragte der Kleinere der beiden.

Der andere Mann nickte langsam und sah dem König von Rohan nach. Er trug die schlichte, wollene Tunika eines Kaufmanns, aber an seiner Seite war ein Schwert gegürtet, und als er zu ihrem kleinen Feuer zurückkehrte, bewegte er sich mit der katzenhaften Anmut eines geborenen Kriegers.

„Ja ,“ sagte er heiter.

Muzgâsh, Sohn des Uldor, hatte sich selbst keinen Wein oder andere fleischliche Vergnügungen gegönnt, seit er vor drei Monaten die Stadt der Schlangen verlassen hatte, ganz, wie die Regeln es verlangten. Nun allerdings, da er seinem Ziel einen Schritt näher gekommen war, ließ er sich von einem seiner Diener einen Becher Wein eingießen, um zu feiern.

Süß und von üppiger, roter Farbe, erinnerte er Muzgâsh an frisch vergossenes Blut.

Er lächelte.


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