Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Neun
Schlangenfisch  

Ich schwimme im Wasser, doch ein Fisch bin ich nicht.
Ich schlängle mich durch das Gras, doch eine Schlange bin ich nicht.
Die See gebiert mich, doch ihr Salz tötet mich.
Versuch nicht, mich zu fangen, denn deine Hände können mich nicht halten.

(Rohirric-Rätsel)

Wilwarin studierte ihr Bild im Spiegel; sie glättete rasch ihr Stirnrunzeln, damit es sich nicht etwa zu dauerhaften Falten formte. Ihr Kleid fiel in einer schimmernden Länge aus hellem Scharlachrot bis zum Boden, und die schmetterlingszarte Seide der Ärmel gestattete einen verlockenden Blick auf anmutige, weiße Arme. Eine weibliche Rüstung, dachte sie, nur dass sie, anders als echte Rüstungen dazu geschaffen war, dem Gegner einen Eindruck zu vermitteln, was darunter lag. Heute Nacht war ihr Ziel Eleganz, doch auch Verführung, in einem Moment Abstand, im nächsten Herausforderung.

Ein Klopfen an der Tür zu ihrem Zimmer kündigte die Ankunft ihrer Mutter an. Frau Silivren warf einen Blick auf sie und klatschte in die Hände.

„Du bist so schön, meine Süße!“

Wilwarin blickte zurück in den Spiegel. Ihr Gesicht war ein vollkommenes Oval, eingerahmt von einem Lockenpaar, das sie sehr wagemutig aus der Frisur hatte entkommen lassen, die das Haar auf ihrem Kopf auftürmte. Ihre Zofe hatte über eine Stunde gebraucht, um diesen trügerisch schlichten Stil fertig zu bringen, der aussah, als würde das Entfernen einer einzigen Nadel dafür sorgen, dass die gesamte, prachtvolle Masse herab fiel.

Die Tochter eines geringeren Herrn aus Lamedon, stammte Wilwarin aus einem schläfrigen, rückständigen Tal, aber sie hatte es schon vor langer Zeit hinter sich gelassen. Mehr noch, sie hatte keinerlei Absicht, jemals dorthin zurück zu kehren. Doch während ihre Schönheit ihr eine befriedigende Anzahl Heiratsanträge von gondoreanischen Edlen eingetragen hatte, setzte sie ihre Ziele höher. Immerhin, wenn ihre Schwester eine Prinzessin werden konnte, warum sollte sie nicht von einem gleichartigen Aufstieg träumen?

Sie nahm eine kleine Schildpattdose von einem niedrigen Seitentisch. Es enthielt einen Vorrat fein zerstoßenen Malachit, unter hohem Kosten aus dem Süden importiert. Sie nahm eine winzige Menge mit der Fingerspitze und strich sie sehr sorgsam auf ihre Augenlider. Sie trat zurück und bewunderte im Spiegel die Wirkung. Die grüne Farbe passte perfekt zu ihren Augen; sie schienen dadurch sogar noch mehr zu funkeln, als sie es von Natur aus taten.

Ihre Mutter seufzte befriedigt. „Du siehst aus wie eine Königin.“

Wilwarin klappte die Dose zu. „Ich habe die Absicht, eine zu werden.“

Ihre Mutter betrachtete sie einigermaßen beunruhigt. „Du bist doch nicht noch immer verärgert über diesen Nachmittag?“

Verärgert? Nein, sie war außer sich vor Wut, wenn sie an die Art und Weise dachte, wie sie von diesem Mädchen ausgestochen worden war. Noch nicht einmal eine der anderen Damen vom gondoreanischen Hof – Veteraninnen in dem Spiel, das sie spielten – sondern eine unschuldige Zwanzigjährige. Etwas von ihren Gefühlen mussten sich auf ihrem Gesicht gezeigt haben, denn ihre Mutter gluckste besorgt.

„Mach dir darüber keine Sorgen, meine Süße. Sie ist keine Konkurrenz für dich! Wieso auch, du bist viel schöner und kultivierter.“

„Sie ist eine Prinzessin, die Tochter eines seiner besten Freunde,“ erinnerte Wilwarin ihre Mutter.

„Aber blind wie eine Fledermaus!“

Wilwarin schloss für einen Moment die Augen. „Kannst du das denn nicht sehen? Genau das ist der Punkt!“ sagte sie scharf. „Sie tut ihm Leid!“

Ihre Mutter zuckte die Achseln. „Nun, natürlich tut sie das, aber - “

„Sie tut ihm Leid, und er interessiert sich für sie,“ unterbrach Wilwarin sie. „Wer weiß, wo das noch hinführt? Er könnte ihr am Ende aus reinem Mitleid die Ehe antragen. Immerhin ist keine Sehkraft vonnöten, um die wichtigste Pflicht einer Braut zu erfüllen.“

Sie hielt sich selbst davon ab, noch mehr zu sagen und holte tief Atem. Ein Blick in den Spiegel offenbarte ein unvorteilhaftes Paar roter Flecken auf ihren Wangen. Es würde nicht gut tun, so gesehen zu werden. Sie zwang die vertraute Maske kühler Höflichkeit über ihre Züge.

„Das Mädchen ist gefährlich.“ Sie nickte ihrer Mutter zu. „Aber wenn ich mich nicht vollkommen irre, dann ist sie auch ahnungslos. Heute bin ich überrumpelt worden, aber das wird mir nicht noch einmal passieren.“

Sie wählte eine dünne Goldkette aus dem Juwelensortiment aus, das ihr Mädchen für sie zurecht gelegt hatte. Ein Anhänger baumelte daran, ein von kleinen Perlen eingerahmter Smaragd, das Geschenk eines Bewunderes. Während sie die Kette über den Kopf streifte, stellte sie befriedigt fest, dass der glitzernde Stein den Blick genau dorthin zog, wohin sie ihn haben wollte. Gondoreanische Edelleute, König der Rohirrim – am Ende waren sie nur Männer.

Sie zupfte sachte an ihrem Mieder, um es sogar noch weiter hinunter zu ziehen und wandte sich nach einem letzten Blick in den Spiegel an ihre Mutter. Aus alter Gewohnheit richtete sie sich auf, um ihre übliche, würdevolle Haltung einzunehmen, und sie bewegte sich gleitend wie ein Kriegsschiff unter vollen Segeln. „Lass uns gehen.“

Die Schlacht hatte gerade erst begonnen, und sie war niemals jemand gewesen, der leicht aufgab. Sie mochte ohne die Vorteile geboren worden sein, die hoher Adel zu bieten hatte, aber sie hatte die Absicht, das mit schierer Entschlossenheit auszugleichen. Immerhin verdiente sie es, Königin von Rohan zu sein.

*****

Lothíriel zog am tiefen Ausschnitt ihres Kleides. „Bist du sicher, dass das hier richtig ist?“ fragte sie ihre Zofe. „Es kommt mir schrecklich tief vor.“

Hareth gluckste. „Lasst es einfach, wie es ist. Verglichen mit dem, was manche der anderen Damen zeigen werden, ist es gar nichts.“

Lothíriel drehte sich langsam im Kreis herum; sie genoss das Flüstern der kühlen Seide und das Gefühl, wie sie sanft an ihren Beinen entlang strich. Sie wünschte, sie könnte sich wenigstens einmal im Spiegel sehen. Die liebe, leichtfertige Faelivren, die Frau ihres Bruders Erchirion, hatte ihr das Kleid letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt und ihr gesagt, dass lebhafte Meeresblau würde die Farbe ihrer Augen hervorheben. Die Rücksichtnahme ihrer Schwägerin hatte sie gerührt, als Faelivren erklärte, dass die Ärmel eng anlagen, damit sie nirgendwo hängen blieben, und dass sie aus dem selben Grund bestimmt hatte, dass der Rock ohne Schleppe genäht wurde, obwohl die zur Zeit sehr in Mode waren.

Üblicherweise bestellte ihre Tante Ivriniel die Kleider für sie, und sie neigte dazu, praktische und konservative Stücke in matten Farben auszuwählen, auf denen man die Flecken nicht sah. Während Lothíriel mit ihr übereinstimmte, dass das Sinn machte, genoss sie es auch, von Zeit zu Zeit ein wirklich hübsches Gewand zu tragen. Mehr noch, es würde ihr das Selbstvertrauen geben, das sie zwischen so vielen Fremden nötig hatte. Wann immer sie an einer der Festivitäten ihres Vaters in Dol Amroth teilnahm, konnte sie nie den Eindruck abschütteln, dass jedermann sie heimlich beobachtete und auf den nächsten Fehltritt der armen, blinden Prinzessin wartete.

„Ihr seht sehr nett aus,“ kommentierte ihre Zofe.

Lothíriel lachte und streckte die Hände aus, um sie zu umarmen. Hareth hatte sich um sie gekümmert, seit sie ein kleines Mädchen war, in leichten und in schwierigen Zeiten.

„Ich danke dir!“

Jemand klopfte an der Tür und Hareth ging hin, um zu öffnen.

„Bist du schon fertig?“ fragte ihr Vater, während er den Raum betrat.

Lothíriel versank in einem verschwenderischen Hofknicks. „Ja, mein Fürst, das bin ich.“

Es folgte ein Augenblick der Stille. „Du siehst schön aus,“ sagte ihr Vater, einen seltsamen Ton in der Stimme.

Ernüchtert fragte sich Lothíriel, ob sie ihn irgendwie an ihre Mutter erinnerte, deren früher Tod ihn in so tiefe Trauer gestürzt hatte.

„Vater?“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stolperte beinahe über den Teppichrand.

Er nahm ihren Arm und stützte sie. „Bitte, sei vorsichtig und beweg dich langsam,“ erinnerte er sie; seine Stimme klang wieder normal. „Wir müssen jetzt gehen, damit wir rechtzeitig dort sind.“

Ihr Vater hatte einen neuen Gehstock für sie mit gebracht; der alte war zerbrochen, als sie den Warg damit schlug. Es war allerdings nicht der erste, der dieses Schicksal erlitt, also hielt er stets Ersatz bereit.

Der Rest der Familie wartete im Vorhof auf sie, und sobald sich alle versammelt hatten, konnten sie aufbrechen. Auf dem sechsten Kreis gelegen, befand sich ihr Stadthaus sehr dicht an dem unterirdischen Durchgang, der hinauf zum Eingang der Veste führte, also mussten sie nicht weit gehen. Sie waren nicht die Einzigen, die eintrafen, und der Tunnel klang von den anderen Stimmen der Gäste und von leisem Gelächter wider.

Sobald sie den Platz mit dem Springbrunnen erreicht hatten, wandten sie sich nach rechts zum Tor von Merethrond, der großen Festhalle. Als Kinder hatten sie freien Zugang zur Veste und ihren Gärten gehabt, und Lothíriel kannte diesen Ort ganz genau. Eines Nachts hatte sie sogar heimlich einen Blick durch eines der hohen Fenster geworfen, die sich auf einer Seite der Halle über die ganze Länge hin zogen – sie hatte auf einen Baum klettern müssen, um das zu tun. Es wurde ein Empfang gegeben, für den Botschafter von Harad. Der Putz der Damen in ihren farbenfrohen Gewändern hatte sie tief beeindruckt, und der Botschafter sah einfach großartig aus in einer ausladenden, karmesinroten Robe, ein Löwenfell über die Schultern drapiert. Sie hatte nicht wissen können, dass sie das nächste Mal, wenn sie hier war, einer der Gäste sein würde.

Tatsächlich war es für sie nichts weniger als ein Wunder, dass ihr Vater ihr erlaubt hatte, überhaupt an der Feier in der Veste teilzunehmen. Er war überaus entsetzt gewesen, als er von den Ereignissen des Nachmittags gehört hatte, und er hätte es gern gesehen, wenn sie sich sofort in ihr Bett zurück gezogen und „den Schrecken fort geschlafen“ hätte, genau wie Alphros. Der Gedanke, die Möglichkeit zu haben, der abendlichen Unterhaltung zu entgehen, hatte Lothíriel kurz in Versuchung geführt. Allerdings war es Éowyns und Faramirs Verlobungsessen, und als Trauzeugin wurde doch sicher von ihr erwartet, dass sie anwesend war. Und nach Éowyns freundlicher Geste, ihr ein so wunderbares Pferd zu schenken, war teilzunehmen das Mindeste, das Lothíriel tun konnte, um sie zu ehren.

Darauf hatte sie ihren Vater hingewiesen, die anschließende Diskussion hatte über eine Stunde gedauert, und an einem Punkt oder dem anderen hatte jedes Familienmitglied daran teilgenommen. Nach Lothíriels Meinung war das einzig Gute, was dabei herauskam, die Tatsache, dass ihr Vater zu abgelenkt gewesen war, um gegen die Anwesenheit von Winterhauch in seinen Ställen zu protestieren. In überraschend kurzer Zeit hatte sich ein Stellplatz für die Stute gefunden, sehr zu ihrer Befriedigung.

Die anderen Höflinge mussten für den Fürsten von Dol Amroth und seine Familie Platz gemacht haben, sobald sie ihn erkannten, denn sehr schnell betraten sie die eigentliche Halle. Das gedämpfte Gesumm Hunderter von Menschen, die mit einander redeten, drang daraus hervor und erinnerte sie an einen riesigen Bienenstock. Die Luft war heiß von den vielen Kerzen, die nötig waren, den großen Raum zu erleuchten, und die vermischten Düfte von Bienenwachs und verschiedenen Parfums sorgten beinahe dafür, dass ihr übel wurde.

„Ich werde dich zuerst König Elessar und Königin Arwen vorstellen.“ sagte ihr Vater.

Lothíriel nickte. Sie wusste, dass, sobald die wichtigen Gäste eingetroffen waren, ein Bankett serviert werden würde, gefolgt von Musik und Tanz bis in die frühen Morgenstunden. Ihr Vater führte sie durch das Menschengewühl und wechselte nur hier und da in kurzes Grußwort. Nach dem dritten Mal gab Lothíriel den Versuch auf, die Leute zu erkennen, mit denen er sprach – der Lärm im Hintergrund war zu laut – und sie gab sich damit zufrieden, höflich zu lächeln. Dann stiegen sie ein paar Stufen hinauf und der Lärmpegel schien leicht nachzulassen. Ihr Vater blieb stehen.

„Mein König, meine Königin,“ sagte er, „darf ich Euch meine Tochter präsentieren?“

Lothíriel versank in einem tiefen Hofknicks. Plötzliche Panik durchflutete sie, als sie daran dachte, dass sie nicht wusste, ob ihr Vater ihrem Lehnsherr von ihrer Blindheit erzählt hatte. Heimlich nährte sie die Hoffnung, als eine von Königin Arwens Hofdamen in Minas Tirith bleiben zu können, also wollte sie einen guten Eindruck machen.

„Willkommen in Minas Tirith, Prinzessin Lothíriel,“ sagte König Elessar. Seine Stimme war kraftvoll und klingend... ein Mann, der es gewohnt war, zu befehlen.

Schwarz und silbern, ging es ihr durch den Sinn, doch dann wurde sie von der Königin begrüßt, und Lothíriel vergaß alles andere. Sie versuchte, die Qualität ihrer Stimme zu erfassen, doch sie entzog sich ihr wie klares Wasser, das ihr durch die Finger rann. Alle Farben und doch keine, immer wieder anders, und doch unveränderlich und wahrhaftig.

Lothíriel konzentrierte sich so stark auf den Versuch, zu entscheiden, welche Farbe zu der Stimme ihrer Königin passte, dass die Bedeutung der Worte vollkommen an ihr vorüber ging. Während sie noch immer auf das letzte, verklingende Echo lauschte, wurde ihr allmählich bewusst, dass jedermann eine Antwort von ihr erwartete.

„Ihr habt solch eine wunderschöne Stimme, singt Ihr?“ Sie sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. Dann errötete sie heftig über ihre Verletzung des Protokolls. Sie sollte ihrer Königin eigentlich keine Fragen stellen!

„Vergebt mir!“ stammelte sie.

Königin Arwen lachte; Sonnenschein, der durch neue Blätter im Frühling strömte. Der riesige Herbstmond, der über dem Meer im Westen unterging. Sternenlicht in einer klaren Winternacht. Lothíriel gab den Versuch auf, einen Vergleich zu finden.

„Ja, ich singe,“ sagte die Elbin. „Mögt Ihr Musik, Prinzessin Lothíriel?“

Lothíriel nickte. „Sehr.“

„Sagt mir, Imrahil,“ sprach der König ihren Vater an, „ist es wahr, was wir über einen Wargangriff diesen Nachmittag gehört haben?“

„Das ist es in der Tat,“ erwiderte ihr Vater.

Einmal mehr wurde der Vorfall in allen erschöpfenden Einzelheiten diskutiert.

Lothíriel hatte den Eindruck, dass der König von Gondor es als persönliche Kränkung empfand, dass die Bestie durch die Postenkette seiner Waldläufer überall entlang der Grenze geschlüpft war. Seine Stimme klang grimmig, als er ihren Vater danach befragte, was genau geschehen war.

„Unglücklicherweise war ich nicht dort,“ erklärte ihr Vater, „aber hier kommt Éomer.“

Nicht nur der König von Rohan, sondern auch das Brautpaar traf in diesem Moment ein. Lothíriel war überglücklich, endlich ihrem Vetter zu begegnen.

„Faramir!“ rief sie aus. Einen Moment später wurde sie hoch gehoben und umarmt.

„Meine kleine Base... gerade erst angekommen und schon in Schwierigkeiten, wie ich höre!“

„Nun, das ist kaum mein Fehler,“ protestierte sie, als er sie wieder absetzte.

„Prinzessin Lothíriel,“ unterbrach der König von Rohan die beiden. „Wie fühlt Ihr Euch?“

Sie lächelte zu ihm auf. „Es geht mir gut,“ versicherte sie ihm. Wieso behandelten sie alle, als würden sie von ihr erwarten, bei der bloßen Erwähnung des Angriffes in Ohnmacht zu sinken? „Es braucht mehr als einen Warg, um mich aufzuhalten.“

Selbst ihr Vater lachte darüber, aber er wurde schnell wieder ernst. „Éomer, mein Freund, ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll.“

„Dann tut es nicht,“ erwiderte der König von Rohan rasch. „Ich habe nur meine Pflicht getan. Es tut mir Leid, dass die Prinzessin ein solches Martyrium durchmachen musste.“

„Hast du gesehen, wo die Bestie herkam?“ fragte König Elessar.

König Éomer erklärte, dass die beiden Edelleute den Warg aufgescheucht hatten, während sie sich auf der Suche nach Jagdbeute befanden. Lothíriel fragte sich plötzlich, ob sie wohl immer noch irgendwo draußen in dem dunklen Wald waren. Als der König von Rohan die beiden zurecht gewiesen hatte, hätte sie nicht um alles in der Welt mit ihnen tauschen mögen. Seine Stimme war so kalt und hart geworden, dass sie geschaudert hatte, und sie hoffte nur, dass er niemals einen Anlass finden würde, mit ihr in diesem Ton zu reden.

In diesem Moment hallte eine Fanfare durch den Saal.

„Das Zeichen, dass das Abendessen aufgetragen ist,“ erklärte König Elessar.

Der Lärmpegel stieg wieder an, während die Leute sich auf den Weg an das Ende der Halle machten, wo die Tische aufgestellt worden waren. Lothíriel zögerte. Sie nahm an, dass sie an der obersten Tafel sitzen würde, aber sie hatte keine Ahnung, neben wen man sie platzieren würde. Wo war ihr Vater hin gegangen?

„Prinzessin Lothíriel,“ sprach der König von Rohan sie an, „darf ich mir die Ehre geben, Euch zum Abendessen zu führen?“

Sie nahm dankbar seinen Arm. „Ja, bitte. Ich habe keine Ahnung, wo ich sitze.“

Er lachte. „Ich verspreche, sicherzustellen, dass Ihr auf dem richtigen Platz endet. Nachdem wir die Trauzeugen bei ihrer Hochzeit sind, glaube ich, dass wir zur Linken meiner Schwester sitzen werden."

Dies kam als willkommene Überraschung. Lothíriel hatte gewusst, dass Faramir den König und die Königin von Gondor gebeten hatte, seine Trauzeugen zu sein, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, wen Éowyn noch ausgewählt hatte. Das gab ihr mehr Vertrauen in ihre Aussichten, die Hochzeitszeremonie ohne irgendwelche größeren Missgeschicke zu überleben.

Anders als es ihre Brüder manchmal taten, hetzte er sie nicht, sondern ließ sich Zeit; er führte sie quer durch die Halle und half ihr, sich auf ihren Stuhl an der Tafel zu setzen.

„Hier sind wir,“ sagte er, während er sich zu ihrer Rechten niederließ. „Und ich verspreche, Euer Weinglas nicht zu bewegen.“

Lothíriel lächelte darüber. Plötzlich kam ihr der Vorfall an der Tafel von gestern Abend eher komisch als peinlich vor. Er hatte wirklich die Gabe, dafür zu sorgen, dass Menschen sich wohlfühlten und in seiner Gegenwart entspannten.

„Und ich werde mein Bestes tun, es nicht über Euch auszuschütten,“ versprach sie ihrerseits. Éomer fuhr damit fort, zu erklären, wie die Gedecke auf den Tischen angeordnet waren, und wo der Rest der Familie saß. Dann trugen die Diener den ersten Gang auf, kleine, lockere Pasteten, mit Spargel gefüllt.

Lothíriel wusste, was sie zu erwarten hatte, denn dieses Mal hatte sie Vorkehrungen getroffen; sie hatte ihre Zofe ausgesandt, um herauszufinden, welche Gerichte serviert werden würden, und in welcher Reihenfolge. Es war ein langes und kompliziertes Menü, aber sie hatte jede Menge Übung, sich diese Art Dinge zu merken. Tatsächlich war es einer der Barden ihres Vaters, der ihr gezeigt hatte, wie sie vorgehen musste. Der Trick war, sich das Bild eines Ortes vorzustellen und dann alle Gegenstände darin zu verteilen. Während man im Geiste durch dieses imaginäre Bild wanderte, wurde man an jeder Biegung daran erinnert, was man dort hin gestellt hatte. Der Barde hatte ihr erklärt, dass er diese Methode benutzt hatte, um sich an komplizierte Balladen zu erinnern, und Lothíriel hatte sie sehr nützlich gefunden. Es war üblich, dafür das Bild eines Hauses zu verwenden, aber statt dessen hatte sie das Bild eines Irrgartens gewählt, wie der, der sich im Garten der Veste befand.

Allerdings half ihr das nicht, das Essen aufzufinden, wenn es erst einmal auf ihrem Teller lag. Als der Diener sich zurückgezogen hatte, streckte sie vorsichtig eine Hand aus, um nach dem Rand des Tellers zu tasten, nur um festzustellen, dass er viel zu groß war, um nur ihre Portion zu enthalten. Natürlich, sagte sie sich selbst, war dies ein Verlobungsabendessen, und von den Gästen wurde erwartet, dass sie sich auf traditionelle Weise eine Platte teilten, genau wie das Brautpaar es tat. Allerdings würde das die Sache für sie nicht leichter machen. Sie hoffte einfach, dass der König von Rohan nicht beleidigt sein würde, wenn sie ihre Finger dazu benutzte, unauffällig nach ihrem Essen zu tasten.

„Darf ich Euch eine Pastete anbieten?“ fragte König Éomer.

Auf den zweiten Gedanken würde es vielleicht gar nicht so übel werden. „Ja, bitte,“ antwortete sie und streckte die Hand aus. Doch anstatt die erwartete Pastete hinein zu legen, hob der König von Rohan ihre Hand hoch und gab einen kleinen Ausruf von sich.

„Ihr wurdet verletzt!“ Seine Stimme klang wieder grimmig.

Lothíriel hatte die Abschürfung ganz vergessen, die sie sich auf einer Handfläche zugezogen hatte, als sie sich an diesem Nachmittag zu Boden warf.

„Oh bitte, es ist nichts.“

Sie hatte die Schrammen zuerst nicht einmal bemerkt, und jetzt, nachdem ihre Zofe etwas Beinwellsalbe darauf gestrichen hatte, würden sie rasch heilen. Tatsächlich kam es ihr albern vor, deswegen einen Aufstand zu machen, nachdem sie fast ihr Leben verloren hatte.

König Éomer drehte ihre Hand, um einen näheren Blick darauf zu werfen; seine Berührung war warm und unerwartet sanft. „Es tut mir Leid.“ Lothíriel erkannte diese Haltung sofort von ihrem Vater und ihren Brüdern wieder. Noch ein weiterer Mann, der meinte, für die Sorgen der Welt verantwortlich zu sein, unfähig und nicht willens, zu akzeptieren, dass sich manche Dinge außerhalb seiner Kontrolle befanden. Das Leben hatte sie gelehrt, dass dies beides war, Stärke und Schwäche zugleich.

„Das muss es nicht,“ erwiderte sie, nur, um plötzlich zu begreifen, dass sie ihm überhaupt nicht anständig für die Rettung ihres Lebens gedankt hatte. Hielt er sie für undankbar?

„Mein König,“ begann sie, „Vergebt mir, das ich Euch nicht schon eher für meine Rettung gedankt habe...“

„Bitte,“ schnitt er ihr auf das Stelle das Wort ab, „Ich hatte Eurem Vater versprochen, Euch sicher wieder zurück zu bringen. Ihr befandet Euch unter meinem Schutz. Tatsächlich mache ich mir Vorwürfe, dass ich keine Bogenschützen mitgenommen habe.“

„Nun, Ihr konntet wohl kaum wissen, dass wir auf einem Vergnügungsritt angegriffen werden würden, oder nicht?“ meinte sie.

„Und doch hätte ich Vorkehrungen treffen sollen.“ Er legte ihre Hand sachte wieder hin. „Es ist schwer, wenn andere den Preis bezahlen müssen.“

„Meint Ihr Euren verwundeten Reiter?“ wagte sie sich vor. „Wie geht es ihm?“

„Er wird leben. Ich habe an den Häusern der Heilung angehalten, um nach ihm zu sehen, aber sie hatten ihn mit Mohnsaft betäubt.“ Er zögerte. „Die Heiler mussten ihm allerdings den Arm abnehmen, den der Warg zerfleischt hat.“

„Oh! Es tut mir so Leid.“ Die Worte klangen schrecklich unzureichend, und Lothíriel empfand Schuld bei dem Gedanken, dass der Mann verwundet worden war, während er über sie wachte.

„Guthláf weiß es noch nicht. Ich werde hingehen und mit ihm reden müssen, morgen früh.“

Guthláf – nicht länger nur ein namenloser Reiter. Lothíriel fragte sich, ob er eine Familie hatte, die daheim in Rohan auf ihn wartete.

„Darf ich mitkommen?“ fragte sie impulsiv.

„Mitkommen? Wieso?“

Sie hatte ihre Entschlossenheit vergessen, nie wieder einen Fuß in die Häuser der Heilung zu setzen. Aber dies war wichtiger. „Ich würde ihm gern danken, dass er mich bewacht hat,“ erklärte sie.

Der König von Rohan zögerte eine lange Zeit. „Es könnte unangenehm werden,“ warnte er sie.

„Ich weiß.“

Immer noch zögerte er.

„Bitte?“

„Also gut.“ Und es schien Lothíriel, dass seine Stimme sich anerkennend erwärmte.

Sie wurden von einem Diener unterbrochen, der den zweiten Gang auftrug, gekochtes Kaninchen auf einem Bett aus Frühlingsgemüse. Einmal mehr musste sich Lothíriel auf das Essen konzentrieren. Sie würde sich nicht vor dem gesamten Hof von Gondor in Verlegenheit bringen, indem ihr schönes, neues Kleid Flecken davon trug. Zu ihrer Erleichterung erwartete König Éomer nicht von ihr, dass sie ein höfliches Gespräch in Gang hielt, während sie aß; statt dessen ließ er sie einfach mit dieser schwierigen Aufgabe fortfahren. Ein kameradschaftliches Schweigen senkte sich zwischen ihnen herab, und Lothíriel stellte fest, dass sie sich entspannte.

Entenstreifen in einer Feigensauce, mit frischen Kräutern gefülltes Spanferkel, Fasan in einer sauren Kirschsauce und all die kleinen Beilagen kamen und gingen ohne Missgeschick. Als Nächstes waren die Rebhuhn-Törtchen an der Reihe, und dann würden endlich die Mandel- und Honigkuchen kommen; sie läuteten den Reigen aus Süßigkeiten ein, der das Bankett abschloss.

Als der Diener verschwunden war, streckte sie vorsichtig eine Hand aus, um nach den Törtchen zu tasten und begegnete statt dessen einer klebrigen Substanz. Sie zog rasch die Finger zurück und wischte sie unauffällig an ihrem Mundtuch ab. Was war denn das gewesen?

Ihre Bestürzung musste sich gezeigt haben. „Stimmt irgend etwas nicht, Prinzessin Lothíriel?“ wollte König Éomer wissen.

Für einen Moment überlegte sie, einfach zu behaupten, dass sie nicht mehr hungrig sei, doch dann beschloss sie, ihm die Wahrheit zu sagen. „Ich habe keine Ahnung, was das da auf unserem Teller ist.“

„Aal in Gelee, glaube ich,“ klärte er sie auf.

Aal? Sie ging rasch die Liste der Gerichte durch, die sie sich gemerkt hatte. „Das ist unmöglich!“

Das schien ihn zu belustigen. „Wieso? Wird auf gondoreanischen Tafeln kein Aal serviert?“

„Wenn es nach dem Menü geht, sollten es Rebhuhn-Törtchen sein.“

„Woher wisst Ihr das?“ fragte er zurück.

Rasch rezitierte sie sämtliche Posten aus dem Gedächtnis. „Sehr Ihr?“ schloss sie triumphierend. „Aale werden nirgendwo erwähnt.“

„Habt Ihr Euch all das vorher gemerkt?“ fragte der König von Rohan, sein Ton ungläubig.

„Natürlich. Das mache ich immer.“

„Aber wieso? Warum nicht einfach um Hilfe bitten?“

Lothíriel biss sich auf die Lippen. Er würde es nicht verstehen; das tat niemand. „Ich möchte nicht die ganze Zeit von jemand anderem abhängig sein,“ versuchte sie zu erklären; sie verspürte eine unerwartete Bitterkeit. „Wann habt Ihr das letzte Mal um Hilfe gebeten?“

Ein kurzes Schweigen sank herab, und Lothíriel schalt sich im Geiste dafür, dass sie sich von ihren Gefühlen hatte mitreißen lassen.

„Letzten Winter,“ sagte König Éomer plötzlich mit gesenkter Stimme.

Lothíriel runzelte die Stirn. Was meinte er damit?

„Letzten Winter,“ wiederholte er, „da musste ich zu Aragorn und Eurem Vater gehen und um Lebensmittel betteln, um uns über den Winter zu bringen. Wir wären sonst verhungert, denn Saruman hatte die meisten unserer Vorräte vernichtet.“

„Oh!“ Sie hatte keine Ahnung davon gehabt. „Es tut mir Leid! Ich wusste nicht...“

„Es spielt keine Rolle,“ unterbrach er sie. „Ich werde tun, was immer nötig ist, damit mein Volk überlebt. Aber,“ seine Stimme wurde weicher, „ich kann ermessen, wieso Ihr nicht gerne um Hilfe bittet. Manchmal ist Nehmen weit schwieriger als Geben.“

Er verstand es! „Ich hasse es, hilflos zu sein und mich ständig darauf verlassen zu müssen, dass die Männer mich retten!“ platzte sie heraus. „Manchmal wünschte ich, ich wäre imstande, zu kämpfen.“

Lothíriel erinnerte sich daran, wie sie ihrem Vater und ihren Brüdern Lebewohl gesagt hatte, als sie zu dem aufbrachen, was, wie sie dachten, ihre letzte Schlacht in Minas Tirith sein würde. Nichts hatte sie so sehr gewollt, wie selbst ein paar Orks zu töten – dafür, dass sie es wagten, ihre Familie zu bedrohen.

Er seufzte. „Kämpfen und Töten ist, was ich gut kann, und doch bin ich zu manchen Zeiten noch immer hilflos. Ich war unfähig, meine eigene Schwester vor den Ränken des Ratgebers meines Onkels zu beschützen.“

„Aber wenigstens könnt Ihr etwas tun.“

„Ich weiß. Doch selbst jetzt, da ich König bin, gibt es noch immer Hungersnot und Krankheit, Orküberfälle...“ Wieder seufzte er. „So oft kommen wir zu spät. Tatsächlich wäre ich auch heute zu spät gekommen, wenn Ihr nicht selbst gehandelt und diesen Warg abgelenkt hättet.“

Lothíriel schauderte bei der Erinnerung. Das Schlimmste war der Gestank nach verfaulendem Fleisch gewesen, der von der Bestie ausging, und nicht zu wissen, welchem Feind sie gegenüber stand. „Ich habe einfach aus einem Reflex heraus gehandelt,“ wischte sie seine Worte beiseite.

„In diesem Fall habt Ihr gute Reflexe. Die meisten Frauen hätten einfach da gestanden, zu verängstigt, um irgend etwas zu tun. Oder sie wären in Ohnmacht gefallen.“

Sie tat das Kompliment mit einem Achselzucken ab. „Dafür hatte ich einfach nicht die Zeit.“

Er lachte. „Nun, wenn Ihr einem Warg entgegen treten könnt, dann solltet Ihr auch imstande sein, um Hilfe zu bitten, wenn Ihr einer Sache begegnet, die Ihr nicht erkennt, wenn sie auf Eurem Teller landet.“

Lothíriel musste grinsen. „In gewisser Weise ist das unendlich viel schwieriger,“ gestand sie. König Éomer lachte.

„Ich sage Euch etwas,“ meinte er einen Moment später in viel leichterem Tonfall. „Sollen wir einen Pakt schließen und ein Zeichen vereinbaren für den Fall, dass Ihr tatsächlich Hilfe braucht?“

„Ein Zeichen?“

„Ja. Erwähnt einfach Aale, und Rohan wird zur Rettung herbei reiten.“

Lothíriel lachte. „Wie die Leuchtfeuer von Anórien, mein König?“

„Ganz genau!“ erwiderte er. „Und wollt Ihr mich Éomer nennen? Alle meine Freunde tun das.“

Lothíriel war sich sicher, dass ihre Wangen verräterisch rot anliefen. „Es wäre mir eine Ehre.“
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Anmerkung der Autorin: Zum Rätsel am Anfang: Aale schlüpfen im Meer aus Eiern, und sobald sie eine gewisse Größe erreicht haben, beginnen sie, die Flüsse hinauf zu wandern; manchmal schlängeln sie sich sogar über Land. Sobald sie ausgewachsen sind, kehren sie ins Meer zurück, paaren sich und sterben dort.


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