Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Siebzehn
Nachspiel 

Der reiche Mann kennt seinen Wert
Der standhafte Mann kennt seine Ansichten
Der weise Mann kennt sein Herz

(Sprichwort aus Rohan)

„Éomer König?“

Mit einem Stöhnen rollte Éomer sich herum und öffnete ein Auge. Es drang gerade ausreichend Morgenlicht in sein Zelt, dass er die sparsame Möblierung sehen konnte.

„Was ist los?“ krächzte er.

Oswyn öffnete die Zeltklappe und steckte seinen Kopf herein. „Euer Morgenbad, Herr.“

Éomer setzte sich behutsam auf und bedeutete ihm, herein zu kommen. Oswyn hatte schon vor langer Zeit gelernt, seine Gegenwart anzukündigen, bevor er eintrat, denn als er es beim ersten Mal versäumt hatte, hatte das zur Folge, dass sein König splitterfasernackt aus dem Bett schoss, einen Dolch in jeder Hand. Eine Angewohnheit, die ihm vom Krieg geblieben war, und eine, die Éomer würde ablegen müssen, wenn er heiratete. Ihm entfuhr ein weiteres Stöhnen.

Sein Knappe rollte eine niedrige, hölzerne Wanne herein, stellte sie in eine Ecke und ging dann, um Wasser zu holen. Éomer stützte den Kopf in die Hände. Er pochte leicht; nicht wirklich ein Kater, aber eindeutig mehr als nur Kopfweh. Als er in der Nacht zuvor zurück gekommen war, hatte er sich einer Gruppe von Reitern angeschlossen, die Éowyns bevorstehende Hochzeit feierte. Sie hatten rings um das Feuer gesessen, sich an vergangene Zeiten erinnert und Krüge mit Bier herum gereicht. Er hätte sich zurückhalten sollen. Oder war es die Nachwirkung einer ganz anderen Art Rausch?

Einen Moment später tauchte Oswyn mit zwei Eimern wieder auf und setzte sie neben der Wanne ab, sorgsam darauf bedacht, kein Wasser auf dem Boden zu verschütten. Dann beschäftigte er sich damit, Handtücher und frische Kleidung heraus zu legen. Éomer hüllte sich in einen Morgenmantel, schlenderte hinüber und prüfte das Wasser mit einer Zehe. Frisch aus den Bergen und eisig kalt, wie üblich. Trotzdem würde es ihm nach dieser Nacht gut tun.

Sein Knappe richtete sich auf, ein Paar Stiefel in der einen Hand. „Möchtet Ihr, dass ich Euch etwas heißes Wasser hole, Herr?“

Éomer schüttelte den Kopf und zuckte zusammen. „Nein, es ist gut so.“ Das gesamte Wasser musste von einem nahe gelegenen Fluss her gebracht werden, und er wollte der Dienerschaft nicht mehr Arbeit machen als nötig. Sollten die Damen und Kinder ihre heißen Bäder nehmen, er kam auch so zurecht.

Außerdem winkte er ab, als sein Knappe anbot, ihm zu helfen. „Ich bin noch nicht alt und schwächlich, Oswyn. Du kannst gehen und Feuerfuß fertig machen.“ Sein Knappe nickte und duckte sich aus dem Zelt.

Nun, wäre es seine Frau gewesen, die anbot, ihm zur Hand zu gehen, dann wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Éomer unterdrückte den Gedanken rigoros. Wieso bestand sein unruhiger Geist darauf, in diese Richtung abzuschweifen? Natürlich wusste er, wieso... obwohl er noch immer keine Ahnung hatte, was am Abend zuvor in ihn gefahren war. Immerhin war Lothíriel nicht die erste hübsche Frau, die er je in den Armen gehalten hatte – aber die erste Prinzessin. Zu denken, dass er geglaubt hatte, seinen Hang, verrückten Regungen nachzugeben, fest unter Kontrolle zu haben! Immerhin hatte er nicht die absolute Narretei begangen, sie in Sichtweise aller zu küssen.

Sein Blick fiel auf einen kleinen Tisch, der in einer Ecke seines Zeltes stand, und er sah das blaue Band, das darauf lag. Éomer hob es auf und ließ das glänzende Gewebe durch seine Finger gleiten. Wusste Lothíriel, auf was sie sich eingelassen hatte? Er hatte eher seine Zweifel daran, und er wusste, dass er kein Recht hatte, seine Auslöse zu beanspruchen... es sei denn, er hätte außerdem die Absicht, um ihre Hand anzuhalten. Irgend etwas anderes zu tun würde bedeuten, das vorbehaltlose Vertrauen in ihren Augen zu zerstören.

Eine blinde Königin? Zum ersten Mal ließ er sich diese Vorstellung durch den Kopf gehen. Seine Ratgeber würde wahrscheinlich beim bloßen Gedanken daran der Schlag treffen. Abgesehen von ein paar wenigen würden sie niemals imstande sein, über Lothíriels Blindheit hinaus zu sehen und ihren Mut und ihre seltene Aufrichtigkeit zu erkennen. Ihre Jugend und Unerfahrenheit sprachen ebenfalls gegen sie. Königin der Mark zu sein, war eine schwere Bürde, um sie auf so schmale Schultern zu laden. Hatte er das Recht, auch nur daran zu denken?

Er ließ das Band wieder auf den Tisch fallen und ballte seine Hände zu Fäusten. Wieso musste die Krone an ihn übergehen? Als Dritter Marschall der Riddermark wäre er frei gewesen, zu heiraten, wen immer er wollte, doch jetzt war er von unsichtbaren Fesseln gebunden: Pflicht und Liebe. Wieso musstest du sterben, Théodred? Keine Antwort. Jetzt würde es niemals mehr eine Antwort geben.

Mit einem Seufzer ließ Éomer den Morgenmantel fallen und stieg in die Wanne. Einen Moment lang betrachtete er die Schöpfkelle, die an einer Seite lehnte, doch dann zuckte er die Achseln und hob einen der Eimer hoch. Entschlossen leerte er ihn über seinem Kopf aus. Der Schock des kalten Wassers, das ihm den Körper hinab rann, vertrieb den letzten Rest Schlaf aus seinem Geist, und er fluchte unwillkürlich.

“Éomer?”

Er erkannte die Stimme seiner Schwester und wurde nur noch munterer.

„Éowyn! Du kannst nicht herein kommen!“

Sie lachte. „Beeil dich! Es wird Zeit, und ich habe dir Frühstück mitgebracht.“

Da er sich nicht sicher war, wie lange die Geduld seiner Schwester anhalten würde, beendete er hastig seine Waschung, trocknete sich ab, schlüpfte in ein Paar Hosen und in seine Stiefel. Als nachträglichen Einfall nahm er ein gewisses blaues Band und stopfte es sich in die Tasche. Er wollte bestimmt nicht, dass seine Schwester es zu sehen bekam. Dann hielt er die Zeltklappe hoch, damit Éowyn eintreten konnte. Sie schlüpfte herein und stellte das Tablett, das sie trug, auf dem Tisch ab. Köstliche Düfte stiegen davon auf, und Éomer knurrte der Magen.

Éowyn betrachtete ihn kritisch von oben bis unten. „Nun, mein stattlicher Bruder, du bist noch nicht angezogen? Wenn du so hinaus gehst, dann fällt die Hälfte der Frauen im Lager bei deinem Anblick in Ohnmacht.“

Er lächelte angestrengt und widmete sich der Schüssel voll Haferbrei, die sie mitgebracht hatte. Er hatte das sinkende Gefühl, dass es nur eine Frau gab, von der er wollte, dass sie seinetwegen in Ohnmacht fiel, und bei seinem Anblick würde sie das wohl kaum tun. Allerdings würde er das seiner Schwester nicht erzählen. Erst einmal wollte er seine eigenen, wirren Empfindungen über die Ereignisse des vergangenen Abends in eine gewisse Ordnung bringen.

Außer dem Haferbrei gab es auf dem Tablett auch noch frisch gebackene Brötchen, einen kleinen Topf Honig und einen Becher brühheißen Tee. Éomer spürte, wie seine Kopfschmerzen nachließen, während er sich den leeren Magen füllte. Éowyn wanderte zu den Kleidern hinüber, die sein Knappe für ihn bereit gelegt hatte und wählte ein Hemd und eine Tunika aus.

„Zieh die hier an,“ sagte sie.

Sobald er das getan hatte, trat sie hinter ihn und rubbelte sein Haar trocken „Wir wollen doch nicht, dass die Leute denken, du wärst ein Barbarenkönig aus den Nordlanden.“

Unwillkürlich lächelte er. „Aber das ist es, was ich bin. Genau wie du eine wilde, ungezähmte Schildmaid bist.“

Sie versetzte ihm einen spielerischen Stoß ins Kreuz. „Ich bin nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil, morgen um diese Zeit werde ich eine kultivierte Edeldame von Gondor sein.“

Éomer verschluckte sich bei dieser Vorstellung beinahe an seinem Tee. „Ja, da bin ich sicher. Im Garten wirst du sitzen und sticken. Hat Faramir eigentlich die geringste Ahnung, auf was er sich da eingelassen hat?“

Éowyn lachte und fing an, sein Haar auszukämmen. „Du wirst bald jemand anderen finden müssen, der das hier für dich tut,“ bemerkte sie im Plauderton.

„Hmmm.“ Éomer fühlte sich leicht aufgeheitert und musste ein Grinsen verbergen. Er hatte bereits vermutet, dass es nicht schwesterliche Fürsorge gewesen war, die Éowyn zu so früher Stunde in sein Zelt führte, sondern eher schwesterliche Neugier.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis Éowyn es nicht länger aushielt. „Oh, komm schon, Éomer! Raus damit, was ist gestern Abend zwischen dir und Lothíriel vorgefallen? Imrahil sah aus, als wäre er nicht allzu erfreut darüber.“

„Gar nichts ist vorgefallen.“ Noch nicht. Ohne Vorwarnung durchflutete ihn die Erinnerung daran, wie er Lothíriels glatte Haut liebkost hatte, und er begriff, dass er es nicht über sich bringen würde, auf das Einlösen seines Pfandes zu verzichten. Ihre dunklen, blicklosen Augen hatten seine Seele gepackt.

Éowyn berührte ihn zögernd an der Schulter. „Aber...“

Er drehte sich um und nahm sie sanft bei den Handgelenken. „Schwester, du wirst mir schon zutrauen müssen, meine eigenen Angelegenheiten zu regeln. Ich bin ein erwachsener Mann, weißt du?“ Obwohl er sich bis jetzt nur in eine regelrechte Patsche gebracht hatte. Und während er nicht glaubte, dass Lothíriel irgendetwas gegen die Art einzuwenden hatte, wie er mit ihr umgegangen war, hatte er doch eine ziemlich genaue Vorstellung, was Imrahil dazu sagen würde.

Éowyn betrachtete suchend sein Gesicht, und was immer sie dort auch las, ließ sie besorgt die Stirn runzeln. „Ich weiß. Ich möchte nur, dass du glücklich bist.“

Éomer berührte sie flüchtig an der Wange. „Das werde ich sein. Mach dir keinen Kummer meinetwegen, denk an dich und Faramir.“ Draußen vor dem Zelt konnte er das Klingeln von Zaumzeug und ein vertrautes Wiehern hören. „Oswyn hat die Pferde gebracht,“ sagte er. „Zeit zum Aufbruch.“

Ehe sie ins Freie traten, hob er seinen Umhang auf und befestigte ihn mit einer runden, goldenen Fibel an der Schulter. Einen Moment lang ließ er seine Finger auf dem vertrauten Emblem des laufenden Pferdes ruhen, umgeben von einem verzwickten Muster aus ineinander verschlungenen Linien. Sie hatte seinem Vater gehört, und er hoffte, dass sie eines Tages seinem Sohn gehören würde. Er seufzte.

Nachdem er Feuerfuß begrüßt hatte, überprüfte Éomer automatisch den Stand der Sonne. Es war schon später Vormittag, aber seine Männer waren alle bereit, und sie würden sofort losreiten können. Er schwang sich auf den Hengst und gab das Signal zum Aufbruch.

Herr Girion von Lossarnach hatte seine Adelswürde nach dem Tod seines Vaters, Forlong dem Dicken, auf den Pelennorfeldern geerbt, und sein Landbesitz lag im Schatten der Weißen Berge. Um dort hin zu kommen, mussten sie zuerst nach Süden reiten, zwischen Minas Tirith und dem Harlond hindurch. Die Pferde waren auf einen Galopp erpicht und sie machten gutes Tempo, so dass sie in weniger als einer Stunde das Südtor des Rammas Echor erreichten, wo sie sich nach Westen wandten.

Verschiedene andere Gruppen von Reitern, die das selbe Ziel hatten, schlossen sich ihnen an, während sie sich auf den Weg ein breites Seitental hinauf machten, das ein Fluss in die Flanken des Mindolluinberges gegraben hatte. Bauernhöfe säumten die Straße, mit Storchennestern, die bedenklich auf den Schornsteinen das Gleichgewicht hielten, und jedes Mal, wenn sie an einem Hof vorbei kamen, rannten die Kinder herbei, kletterten auf die Zäune und riefen angesichts der exotisch aussehenden Rohirrim. Die Felder wirkten sorgsam gepflegt, die Schweine, Kühe und anderen Tiere wohl genährt... ein fruchtbares Land, das Éomer an die Westmark erinnerte.

Nach einer Weile begann die Straße, die westliche Seite des Tales zu erklimmen; sie führte durch dichtes Unterholz hinauf auf ein grasiges Plateau. Die Herren von Lossarnach hatten an seinem Rand eine kleine Jagdhütte errichtet, und hier sollte die Jadgesellschaft sich sammeln. Als sie näherkamen, konnten sie aufgeregtes Hundegebell hören, und auf einer Seite stand eine Reihe Sitzstangen, wo die Falkner ihre Vögel beaufsichtigten. Ein kleiner Hof lag vor dem Haus, mit Ställen auf beiden Seiten. Er war gedrängt voll mit Menschen und Pferden, doch Éomer konnte ihren Gastgeber ausmachen, der auf den niedrigen Stufen stand, die zur Tür hinauf führten; er sprach mit Aragorn und Arwen. Herr Girion hatte die legendäre Statur seines Vaters geerbt und war daher leicht zu finden.

Éomer durchsuchte rasch die Menge; er bemerkte, dass Faramir und seine Waldläufer auf dem Weg zu ihnen waren, aber er war hauptsächlich an einem anderen Anblick interessiert. In einer Ecke wartete eine Gruppe Schwanenkrieger bei ihren Pferden, und er konnte sowohl Imrahil als auch Amrothos ausmachen. Das bedeutete doch sicherlich, dass die Prinzessin von Dol Amroth ebenfalls an der Veranstaltung teilnahm.

Es war ein beunruhigendes Ausmaß an Selbstbeherrschung vonnöten, sich nicht sofort auf die Suche nach ihr zu machen wie ein liebeskranker Jüngling, sondern hinzugehen und zuerst seinen Gastgeber zu begrüßen.

„König Éomer!“ rief Herr Girion mit seiner dröhnenden Stimme aus. „Wie schön, Euch zu sehen!“

Éomer war Girion auf dem Marsch zum Schwarzen Tor begegnet und empfand großen Respekt für ihn. Als er ihm Éowyn vorstellte, verbeugte der Mann sich tief. „Die unvergleichliche Weiße Herrin von Rohan.“ Er wandte sich zu Faramir. „Nun, wäre ich zwanzig Jahre jünger, ich würde gegen Euch um die Hand dieser lieblichen Dame antreten.“

Faramir grinste. „Ihr genießt Euren Stand als wohlhabender Witwer viel zu sehr, um das zu tun.“

Girion griff sich ans Herz. „Ihr verletzt mich! Oder fürchtet Ihr Euch davor, was für einen furchterregenden Rivalen ich abgeben würde?“

Selbst Éowyn, deren Blick bei dieser Art Komplimente üblicherweise glasig wurde, musste lachen.

Girion strahlte sie an. „Ich habe König Elessar und Königin Arwen gerade erzählt, was für ein ausgezeichnetes Mahl wir für Euch vorbereitet haben. Doch zuerst die Jagd!“ Er fuhr damit fort, die unterschiedlichen Vergnügungen aufzuzählen, die er für sie arrangiert hatte. „Meine Männer haben die Spur eines Rehrudels aufgenommen, es gibt ein paar Wildschweine und sogar einen großen Hirsch, auf den Ihr Jagd machen könnt. Für die Damen mit ihren Falken haben wir Fasanen vorbereitet, Rebhühner, Enten und Waldtauben, die sie hier auf dem Plateau jagen können.“

Éomer nickte höflich, doch seine Aufmerksamkeit irrte erneut ab. „Ich muss gehen und Imrahil begrüßen,“ entschuldigte er sich einen Moment später.

„Tu das,“ sagte seine Schwester und versuchte vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken. Während er sich zum Gehen wandte, sah er noch, wie Aragorn und seine Königin einen vielsagenden Blick wechselten.

Er brauchte eine Weile, den Vorhof zu überqueren, weil er mit allen, die er kannte, Grüße austauschen musste, aber wenigstens machte ihm jedermann Platz – einer der Vorzüge, wenn man König war. Er hatte den Kreis der Schwanenkrieger beinahe erreicht, als er Lothíriel entdeckte. Sie lehnte ihren Kopf an den Hals von Winterhauch und streichelte das weiche Fell des Pferdes, und irgendetwas an ihrem Benehmen ließ ihn innehalten. Sie sah fast verzagt aus, wie sie leicht gebeugt dastand und sich an den Trost klammerte, den die Stute ihr bot. Dann sah er einen Moment lang ihr Gesicht. Ein Ausdruck tiefen Unglücks lag darauf; sie hielt die Augen geschlossen, als wollte sie die Welt aussperren. Bei diesem Anblick spürte Éomer, wie plötzliche Wut sich in ihm entzündete. Was war die Ursache? Hatte ihr Vater sie gescholten, weil sie am Abend zuvor mit ihm auf die Trittsteine hinaus gekommen war?

„Lothíriel!“ rief er, und sie fuhr heftig zusammen. Auf der Stelle verwünschte er sich selbst dafür, dass er seine Gegenwart nicht auf eine gesittetere Weise angekündigt hatte. Was war bloß in ihn gefahren?

Sie straffte den Rücken und wandte sich ihm zu, das Gesicht sorgsam ausdruckslos. „König Éomer.“

Er fühlte sich, als sei er zum zweiten Mal an diesem Tag unter einen kalten Wasserguss geraten. König Éomer? Er hatte gedacht, die Titel wären sie losgeworden. Ein sinkendes Gefühl drang ihm in den Magen.

„Lothíriel,“ sagte er noch einmal, diesmal leiser. „Vergebt mir, dass ich Euch erschreckt habe.“

„Das macht nichts.“

Sie umklammerte Winterhauchs Zügel wie eine Rettungsleine, und von dem Druck wurden ihre Knöchel weiß. Éomer musste mit aller Gewalt den Drang niederkämpfen, sie an Ort und Stelle in die Arme zu nehmen. Er wünschte sich verzweifelt, sie dazu zu bringen, dass sie ihn anlächelte, wie sie es am Abend zuvor getan hatte. Oder statt dessen den zu strecken und zu vierteilen, der diesen Kummer verursacht hatte, wer auch immer es war. Bevor er ihn in kleine Stücke hackte, ihn in Öl siedete und ihm danach den Garaus machte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Es macht sehr wohl etwas,“ sagte er sanft. „Mir jedenfalls.“

In diesem Moment kam Imrahil hinter ihr heran, legte ihr schützend eine Hand auf die Schulter, und gleichzeitig erschien Amrothos auf ihrer anderen Seite. Zwei vollkommen gleiche, graue Augenpaare betrachtete ihn mit offenem Missfallen von oben bis unten; dazu passte die Kälte in ihren Stimmen, als die beiden ihn begrüßten.

„Alles in Ordnung, Liebstes?“ fragte Imrahil.

„Ja, natürlich.“ Sie machte einen Schritt rückwärts, hinein in die Zuflucht der Gegenwart ihres Vaters.

Was war geschehen? Dies war nicht die selbe Frau, die ihn bei ihrem Abschied in der letzten Nacht mit solch offener Freude angelächelt hatte, so beherrscht und selbstsicher. Es konnte nicht an etwas liegen, das er getan hatte, es musste der Einfluss ihres Vater sein. Er starrte Imrahil finster an, und der starrte auf die selbe Weise zurück. Und doch schien es ihm einen Moment lang, dass unter der Feindseligkeit des Fürsten Überraschung verborgen lag, und Besorgnis.

Éomer, der sich den Kopf darüber zerbrach, wie er sie dazu bringen konnte, ohne Beaufsichtigung mit ihm zu reden, trat einen Schritt dichter heran. „Lothíriel, würdet Ihr gern einen kurzen Spaziergang mit mir machen?“

Ein Ausdruck des Schreckens huschte über ihr Gesicht. „Ich denke nicht, dass wir Zeit dafür haben,“ stammelte sie. „Wird die Jagd nicht bald beginnen?“

Éomer warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Girion stand noch immer auf den Stufen seiner Jagdhütte, machte weit ausholende Gesten und sprach mit Aragorn und Arwen. „Es ist noch reichlich Zeit.“ Er senkte die Stimme. „Ich muss mit Euch reden.“

Sie zögerte. Neben ihr wurde Imrahil sichtlich zornig. „Vielleicht ein anderes Mal. Wie meine Tochter soeben sagte, die Jagd fängt bald an.“

Éomer starrte ihn herausfordernd an. „Noch eine ganze Weile nicht.“

Er ignorierte den anderen Mann und wandte sich an Lothíriel. „Bitte?“ sagte er; er mühte sich, dass sie die Dringlichkeit in seiner Stimme hören konnte.

Noch immer zögerte sie; die Finger, die die Zügel von Winterhauch hielten, öffneten und schlossen sich krampfhaft. Was hatte Imrahil über ihn gesagt, um diese Ängstlichkeit zu verursachen?

„Wisst Ihr, ich werde nicht aufgeben, bis Ihr einwilligt,“ sagte er. Es war ein letztes, verzweifeltes Drängen, und er verschränkte die Arme vor der Brust. In diesem Moment war er entschlossen, es tatsächlich nicht zu tun.

Lothíriel schien zu erkennen, dass er nicht leicht nachgeben würde. „Also schön,“ stimmte sie zu, „ein kurzer Spaziergang.“

„Tochter...“

Lothíriel schüttelte den Kopf. „Ich komme zurecht, Vater. Amrothos kann uns ja begleiten und über mich wachen.“ Sie klang bitter.

Dann hob sie das Kinn, und die Art, wie sie Éomer zunickte, konnte man nicht als freundlich bezeichnen. „Zeigt mir den Weg.“

Als er ihr seinen Arm anbot, nahm sie ihn, legte jedoch nur ganz leicht ihre Hand darauf; sie berührte ihn kaum. In unbehaglichem Schweigen gingen sie über den Vorhof und um eine Ecke des Hauses herum. Ein paar leicht vernachlässigte Apfelbäume standen dort im hohen Gras. Éomer bedeutete seinen Wachen, zurückzubleiben und auf ein leises Wort von Lothíriel tat Amrothos dasselbe; er lehnte sich gegen die Mauer des Hauses und beobachtete die beiden mit zusammen gekniffenen Augen. Éomer geleitete Lothíriel in den Schatten einer der Bäume, wo sie außer Hörweite sein würden. Das Gebell der Hunde und der Lärm der versammelten Gäste, die sich miteinander unterhielten, wurde hier durch das massive Haus gedämpft.

In dem Moment, als er stehen blieb, nahm Lothíriel ihre Hand von seinem Arm. Éomer betrachtete sie prüfend. Sie trug ein hübsches Reitgewand, das Oberteil so eng geschnitten, dass es die Aufmerksamkeit auf sich lenkte und ihre schmale Taille betonte. Und doch wirkte sie trotz der warmen, roten Farbe bleich und abgespannt.

„Was ist los, Lothíriel?“ fragte er. „Ist Euer Vater über uns verärgert?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts, womit ich nicht zurecht käme.“

„Was macht Euch dann Kummer?“ Irgendetwas in ihrem Gesicht warnte ihn allerdings, dass sie es nicht schätzen würde, wenn er sie in die Arme nahm, obwohl er sich verzweifelt wünschte, es zu tun.

„Ein wenig Kopfschmerzen, das ist alles.“

Sie wandte sich von ihm ab und rieb mit der Hand über die Rinde des Apfelbaumes, als suchte sie nach Ablenkung. Während er diese langen, eleganten Finger beobachtete, wurde er ganz plötzlich von dem Verlangen gepackt, sie zu spüren, während sie durch sein Haar glitten. Oder über seine Haut? Mit einem Ruck lenkte er seine Gedanken wieder zu der Angelegenheit zurück, mit der er es gerade zu tun hatte.

„Wollt Ihr es mir nicht sagen? Ich bin sicher, ich kann Euch beistehen.“

Bei diesen Worten wirbelte sie herum, als sei die Grenze des Erträglichen überschritten. „Ihr wisst ganz genau, was los ist. Oder wenigstens solltet Ihr das.“

Er konnte sich nicht helfen, er musste nach ihrer Hand fassen. „Was meint Ihr damit?“

„Wie könnt Ihr so etwas fragen, nach dem, was Ihr gestern Abend getan habt!“ schnappte sie, zog ihre Hand zurück und machte einen Schritt rückwärts. „Rührt mich nicht an!“

In diesem Moment dämmerte es Éomer, dass der Mann, der gestreckt, gevierteilt und dann in kleine Stücke gehackt werden sollte, er selbst war.


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