Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Einundzwanzig
Glühwürmchen

Man wird den wahren Anführer an der Weise erkennen, mit der er die Umstände, denen er sich gegenübersieht, zu seinem Vorteil wendet.
(Hyarmendacil: Die Kunst des Krieges)

Éomer zögerte unten an der Treppe; plötzlich wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, wo sich Lothíriels Zimmer befand. Eine Dienerin, die einen Stapel sauberes Leinen bei sich trug, kam an ihm vorbei und warf ihm einen neugierigen Blick zu, aber er hielt sich selbst davor zurück, sie nach der Richtung zu fragen. Er wollte den Tratsch über sich und die Prinzessin von Dol Amroth nicht noch mehr anfachen. Und was, wenn Lothíriel bereits ins Bett gegangen war?

Noch mehr Dienstboten kamen während ihrer Botengänge an ihm vorbei, und er kam sich langsam immer auffälliger vor, als sich hinter ihm eine der Seitentüren öffnete. Eine grauhaarige Frau trat ein; er erkannte sie als die Zofe wieder, die vorhin im Vorhof nach Lothíriel gesucht hatte. Sie erkannte ihn ebenfalls, denn als er eine Hand ausstreckte, blieb sie stehen und knickste respektvoll.

Wie hatte Lothíriel sie doch gleich genannt? „Hareth, nicht wahr?“

„Ja, mein König.“

„Hareth, würdest du deiner Herrin eine Nachricht bringen und sie bitten, dass ich mit ihr sprechen darf?“

Sie legte den Kopf schräg und betrachtete ihn scharf. „Die Prinzessin hat sich bereits zurück gezogen.“

Er setzte sein bestes Lächeln auf. „Ich weiß, aber ich würde trotzdem gern mit ihr reden.“

Unter ihrem steten Blick geriet sein Lächeln ins Schwanken. Sie hatte wirklich die Gabe, ihm das Gefühl zu geben, er sei ein kleiner Junge.

„Es ist wichtig,“ fügte er leise hinzu.

Ihre Augen schienen sich in ihn hinein zu bohren. „Lothíriel hat zwei schwere Tage hinter sich. Sie verdient, nicht noch mehr aus der Fassung gebracht zu werden.“

„Ich hatte nie die Absicht, sie aus der Fassung zu bringen!“ rief er aus, dann senkte er hastig die Stimme. „Das ist der Grund, weshalb ich mit ihr reden muss... bitte.“

Hareth betrachtete sein Gesicht sehr genau, dann schien sie zu einer Art Entscheidung zu gelangen. „Die Prinzessin hat behauptet, sie hätte Kopfschmerzen.“ Sie deutete zurück dorthin, woher sie gekommen war. „Lothíriel wollte etwas frische Luft schnappen und macht einen Spaziergang.“

„Im Garten?“

Die Zofe nickte. „Gleich um die Ecke ist ein kleiner, abgeschlossener Küchengarten.“ Plötzlich grinste sie. „Vielleicht sollte jemand nach ihr schauen?“

„Das glaube ich auch.“ Einen Moment lang drückte er ihr die Hände. „Ich danke dir!“

*****

Das kalte Wasser fühlte sich gut an an ihren schmerzenden Füßen. Lothíriel ließ sich auf der niedrigen Einfassung des Brunnens nieder und raffte ihre Röcke noch ein bisschen mehr. Sie hatte zwar ein bequemeres Gewand angezogen, bevor sie herauskam, trotzdem wollte sie nicht, dass es nass wurde. Sie holte tief Atem und genoss die kühle Nachtluft, die ihr Gesicht liebkoste und die Tatsache, endlich allein zu sein nach einem Tag, an dem sie das Gefühl gehabt hatte, jedermann würde sie anstarren. Grillen erfüllte den Garten mit ihrem Zirpen, und leises Rascheln erzählte von kleinen Geschöpfen, die im hohen Gras ihren Geschäften nachgingen. Bevor sie sie verließ, hatte Hareth angemerkt, dass dieser Teil des Gartens immer noch ein wenig vernachlässigt aussah, aber das war Lothíriel ganz recht. Sie wollte mit ihren Gedanken einfach ein Weilchen allein gelassen werden.

Sie wackelte mit den Zehen, und das Wasser leckte sachte an ihren Schienenbeinen. Von jenseits der Mauern drangen schwache Festgeräusche an ihr Ohr: Lachen und Gesang und hin und wieder ein Horn, das geblasen wurde. Musik wehte aus Richtung der Halle durch die Luft – eine lebhafte Rohirric-Melodie – und sie runzelte die Stirn. Früher an diesem Abend hatte König Elessar sie um eine Runde auf dem Tanzboden gebeten, und sie konnte seine Worte nicht vergessen. Ich kenne Éomer gut, hatte er gesagt, seine Stimme gütig und sicher, und glaubt mir, es gibt keinen Mann, der ehrenhafter ist als er. Sie hatte nicht gewusst, was sie sagen sollte, und nur wortlos gelächelt. Zum Glück hatte der König sie nicht weiter gedrängt, und der Tanz war bald darauf zu Ende gegangen. Eine gute Sache, denn für einen Moment war sie versucht gewesen, ihren ganzen Kummer vor König Elessars mitfühlendem Ohr auszuschütten.

Das Knirschen langsamer Schritte auf dem Kiesweg ließ sie erstarren. Sie wusste mit fast beängstigender Gewissheit, dass dies keine Wache war, die ihre Runde machte, sondern er.

„Lothíriel?”

Die leise Stimme ließ sie erschaudern, und sie wollte aufspringen und zu ihm rennen. Lothíriel packte den Steinrand des Brunnens ein wenig fester.

„Was wollt Ihr?“ Sogar für ihr eigenes Ohr klangen ihre Worte scharf.

„Darf ich für einen Moment mit Euch reden?“

„Ich kann Euch wohl kaum aufhalten, nicht wahr?“

„Lothíriel, Ihr könnt mich mit einem einzigen Wort aufhalten.“

Sie grübelte darüber nach. Éomer war ihr immer so selbstsicher vorgekommen – der König von Rohan, Herr seines Geschicks – und nun hörte sie in seiner Stimme eine merkwürdige Verwundbarkeit.

„Dann also einen Moment,“ willigte sie ein und neigte den Kopf.

Er kam nicht näher, sondern hielt sich ein paar Schritte von ihr entfernt. „Ihr wisst, ich bin kein Dichter oder Diplomat. Bitte vergebt mir, wenn ich Euch kränke, aber die Rohirrim geben einer klaren Sprache den Vorzug. Ich hatte immer das Gefühl, bei Euch wäre es genauso.“

Sie schluckte. „Das stimmt.“

Er fing an, auf und ab zu gehen. „Lothíriel, ich weiß, ich habe Euch um etwas gebeten, wozu ich kein Recht hatte. Ihr seid so jung und unerfahren - “

Unerfahren? Wollte er damit sagen, dass sie seinem ehrlosen Vorschlag mit etwas mehr Erfahrung vielleicht zugestimmt hätte? Sie öffnete den Mund, um ihm eine scharfe Antwort zu geben, als König Elessars Worte ihr erneut durch den Sinn gingen. Es gibt keinen Mann, der ehrenhafter ist als er. Wie konnte sie so entsetzlich verwirrt sein? Es fühlte sich an, als ob Herz und Verstand sie in zwei verschiedene Richtungen zögen und sie damit in Stücke rissen.

Lothíriel vergrub das Gesicht in den Händen. „Was meint Ihr damit?“

„Was ich meine, ist, dass jedes Mal, wenn ich Euch berühre, mein Verstand sich davon zu machen scheint. Könnt Ihr mir ehrlich sagen, dass Ihr nicht das selbe empfindet?“

„Zwischen uns kann es nichts geben!“ Zu ihrer Schande war es mehr ein Schluchzen als eine Weigerung.

„Wieso nicht?“

„Weil...“ Es war, als würde ihr Herz in kleine Stücke geschnitten. Sie holte tief Atem und fuhr stockend fort. „Weil Ihr -“

Ganz plötzlich war da ein schreckliches, krabbelndes Gefühl in ihrem Haar. „Was ist das denn?“ Sie hob eine Hand, um das Insekt weg zu wischen, das auf ihrem Kopf gelandet war – was immer es auch sein mochte – als ein anderes gegen ihre Schulter prallte. Dann verfingen sich noch mehr davon in ihren Haaren und flatterten wie wild, und eines flog ihr fast in den Mund. Wo waren die alle her gekommen?

„Lothíriel, lasst mich - “

In Panik sprang sie auf und schlug mit den Händen nach ihren winzigen Angreifern; es war ihr egal, dass ihr Kleid dabei nass wurde. „Weg mit euch!“ Plötzlich merkte sie, dass sie auf dem schleimigen Boden des Brunnens ins Rutschen geriet.

Ein Platschen, und starke Arme fingen sie auf. „Lothíriel, es sind nur Glühwürmchen! Haltet still, und ich werde sie entfernen.“

Sie klammerte sich an ihn. „Glühwürmchen?“

„Ein ganzer Schwarm davon. Tatsächlich sehen sie in Eurem Haar sehr hübsch aus, wie kleine, glühende Edelsteine.“

Sie schauderte. „Es fühlt sich grässlich an. Bitte, nehmt sie einfach weg.“

Er nahm ihr Kinn in eine Hand und neigte ihr Gesicht nach oben. Geschickt pflückte seine andere Hand die kleinen Quälgeister herunter. „Meine arme Geliebte, jetzt muss ich dich doch noch einmal retten...“ sagte er zärtlich. Die Wärme in seiner Stimme ließ sie von Kopf bis Fuß erbeben.

Endlich war das letzte Glühwürmchen befreit, und das krabbelnde Gefühl verschwand. Allerdings ließ er sie nicht los. Statt dessen zogen seine Finger die Linie ihrer Wangenknochen nach; schwielige Hände glitten weiter und umschlossen ihre Wangen. Warm und sicher.

„Du schuldest mir noch immer ein Lösegeld für mein Band,“ flüsterte er.

Sie öffnete gerade den Mund, um ihm zu widersprechen, als er sie sachte auf die Lippen küsste. Ihr Verstand schrie sie an, ihn zurück zu stoßen, ihn zu schlagen. Ihr Herz riet ihr, in seine Arme hinein zu schmelzen. Gelähmt von Unentschlossenheit ließ sie ihm seinen Willen.

Éomer erfüllte ihre Sinne. Der Duft süßen Weines in seinem Atem. Sein moschusartiger, männlicher Geruch, überlagert von Pferdearoma und einer Spur Rauch vom Freudenfeuer. Eine starke Hand, die ihren Hinterkopf mit sanftem Druck umfasste. Er vertiefte den Kuss, und sie vergaß alles, abgesehen von dem schlichten Vergnügen, das bei seiner Berührung durch ihre Adern sang. Sie ließ ihren Stolz, ihr Misstrauen, ihre Zweifel fahren, schlang die Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende. Hier gehörte sie hin. Sie war heim gekommen.

Tief in ihrem Inneren, ganz am Grunde ihrer Seele, erwachte etwas. Es regte sich, hob seinen Kopf und breitete gefaltete Schwingen aus, und dann erhob es sich mit einem mächtigen Satz in die Luft. Das betäubende Brüllen des Drachen erfüllte ihr die Ohren, sein Feuer durchflutete ihre Adern und durchströmte sie wie ein Flächenbrand. Es vernichtete jeden vernünftigen Gedanken. Hunger. Verlangen. Begierde. Sie presste ihren Leib gegen den von Éomer und vergrub ihre Hände in seinem Haar; sie zog sein Kopf grob zu sich herunter und verlangte nach mehr.

Einen Herzschlag lang erstarrte er, dann schlangen sich seine Arme mit der Stärke eines in der Schlacht gestählten Kriegers um sie; eine Hand umklammerte ihren Nacken wie ein Schraubstock. Sein Kuss war weder sanft noch verhalten, sondern nachdrücklich und sengend heiß. Der Drache in ihrem Inneren jauchzte und tat es ihm gleich, Leidenschaft für Leidenschaft, und sie ließ sich in einen kreiselnden Strudel aus Farben hinein gleiten, eine vibrierender Wirbel aus Rot und Gold.

Es war Éomer, der zuerst wieder zu sich kam. Er atmete stoßweise und brach den Kuss ab. Lothíriels Knochen hatten entschieden, sich zu verflüssigen, und sie wäre im Wasser zusammengebrochen, hätte er sie nicht noch immer festgehalten.

„Oh Lothíriel!“ flüsterte Éomer.

Ihr drehte sich der Kopf, während sie sich an seine Brust lehnte; ihr Herz hämmerte wie verrückt. Allmählich wurde es wieder langsamer, und in ihrem Inneren rollte sich der Drache zufrieden ein und legte sich wieder schlafen. Allerdings nicht mehr ganz so tief. Bereit, jederzeit wieder aufzuwachen.

Zögernd streichelte Éomer ihr das Haar. „Ich brauche dich,“ flüsterte er, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Ich kann nicht anders, ich will dich so sehr.“

„Ich will dich auch,“ murmelte sie in seine Tunika hinein. Scham erfüllte sie bei der Erkenntnis, wie verzweifelt es sie danach verlangte, anzunehmen, was immer er auch beschloss, ihr zu bieten.

Er nahm sie bei den Schultern. „Ich weiß, ich hätte nicht tun sollen, was ich gerade getan habe. Aber willst du mir das Recht dazu geben? Lothíriel, willst du dein Leben mit mir teilen und mich heiraten?“

„Wir können nicht!“ flüsterte sie.

„Warum nicht? Ich will keine andere Frau an meiner Seite haben.“

Sie dachte an den Skandal, der folgen würde. Der König von Rohan verspricht einer hoch geborenen Dame aus Gondor die Ehe... und ändert dann seine Meinung und heiratet eine andere? Und was würde sein eigenes Volk denken, die Rohirrim, die die Ehre höher schätzten als alles andere? Sie hatten für ihre Eide einen blutigen Preis bezahlt.

Sie schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Ein Verlobungsversprechen zu brechen ist hier in Gondor undenkbar.“

Seine Hände schlossen sich schmerzhaft um ihre Schultern. „Eine Verlobung? - Dann brennen wir miteinander durch.“

Hatte er den Verstand verloren? „Du weißt, dass wir das nicht können. Und was würde mein Vater sagen?“

„In diesem Fall werde ich ihn zur Rede stellen.“ Seine Stimme war grimmig geworden, und todernst.

Sie erinnerte sich an sein legendäres Temperament und packte ihn am Arm. „Das kann nicht dein Ernst sein! Meinen Vater zur Rede stellen?“

„Nicht deinen Vater! Ihn! Ist es jemand aus Dol Amroth?“

Lothíriel wurde schwindelig. „Wovon redest du eigentlich? Natürlich ist er aus Dol Amroth – er ist immerhin der Fürst von Dol Amroth!“

„Nicht Imrahil! Der Mann, den du heiraten sollst!“

„Welcher Mann?“

Er holte tief Luft. „Lothíriel, du hast gerade gesagt, du bist verlobt und sollst heiraten. Wenn nicht jemanden aus Dol Amroth, wen denn dann?“

Lothíriel spürte, wie ihr die Kinnlade herunter fiel. „Ich bin doch nicht verlobt!“

„Nun, in diesem Fall... wo liegt das Problem?“ Seine Hände begannen wieder auf höchst sinnenverwirrende Weise, über ihren Rücken zu gleiten und zogen sie wieder an sich.

„Éomer...ich rede über dein... Bündnis.“ Jedes Wort tat weh, vor allem, wenn alles, was sie wollte, war, sich in dem Gefühl eines weiteren Kusses zu verlieren.

„Mein Bündnis?“

„Das Bündnis zwischen Rohan und Gondor, das du immer erwähnst. Die würdige Königin für dein Volk.“ Sie versuchte, die Bitterkeit aus ihren Worten zu verbannen.

Seine Hände lagen still. „Ist es das, was dir Kummer macht?“

„Ja, natürlich!“

Er seufzte. „Lothíriel, ich weiß, ich mute dir viel zu. Aber ich bin sicher, wir können uns etwas ausdenken.“

Als sie protestieren wollte, legte er ihr einen Finger auf die Lippen. „Nein, hör zu. Ich werde einen Weg finden, wie du zurecht kommen kannst, wenn ich fort bin – vielleicht mache ich einen meiner Marschälle zum Unterkönig. Und wenn es dich erst einmal kennen lernt, wird mein Volk dich lieben, da bin ich sicher.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht, was ich gemeint habe!“

„Lothíriel.“ Er legte ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihr Gesicht an. „Wieso habe ich mehr und mehr den Eindruck, dass mir irgend etwas entgeht? Sag mir einfach gerade heraus, wieso du glaubst, dass du mich nicht heiraten kannst.“

„Weil du verlobt bist und Wilwarin heiraten wirst,“ flüsterte sie, die Worte wie Glasscherben in ihrem Mund.

„Was! Wer hat dir das erzählt?“

„Sie hat es getan.“

Schweigen, abgesehen von den Grillen, die im Gras zirpten. Dann atmete er scharf aus und sagte etwas auf Rohirric. Lothíriel brauchte keine Übersetzung, um eine Verwünschung zu erkennen.

„Ist es das, was dich so unglücklich gemacht hat?“

Sie nickte stumm.

„Nun, die Herrin Wilwarin irrt sich. Ich gebe zu, ich habe mit ihr einen Rundgang durch die Gärten der Veste gemacht. Aber das war nur dieses eine Mal, und ich schwöre dir, ich habe sie niemals darum gebeten, mich zu heiraten.“

Es brauchte mehrere Sekunden, bis Éomers Worte einsanken. „Aber sie hat es mir gesagt!“ stammelte Lothíriel. „Sie sagte, du hättest sie nach der Feuerboot-Zeremonie nach Hause begleitet und sie gebeten, deine Frau zu werden.“

„In diesem Fall hat sie gelogen,“ sagte er, die Stimme flach und kalt vor Zorn. „Wir sind auf direktem Weg zurück in unser Lager geritten. Ich weiß nicht, wer sie zurück nach Minas Tirith eskortiert hat, aber ich war es ganz sicher nicht.“

Wilwarin log. Sie hatte gelogen! Die Worte überstürzten sich wieder und wieder in ihrem Geist; es war zu viel, als dass sie alles auf einmal in sich aufnehmen konnte. Lothíriel schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann es nicht glauben!“ Die Beine gaben unter ihr nach, und er hielt sie hastig fest.

„Lothíriel!”

„Aber warum?“ fragte sie begriffsstutzig, nur um auf der Stelle zu verstehen, dass Wilwarin natürlich hatte sicher gehen wollen, dass sie selbst Éomer heiratete. Das schiere Ausmaß und die Unverfrorenheit dieser Täuschung nahm ihr den Atem.

„Ich denke, ich fange an, klar zu sehen,“ sagte er grimmig. „Was für eine hinterhältige kleine Lügnerin! Ich hätte auf Éowyns Instinkt vertrauen sollen.“

Lothíriel machte eine kleine verneinende Geste. „Aber du hast es doch selbst zugegeben!“

„Ich habe nichts dergleichen getan!“

Sie versuchte, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was er während jener katastrophalen Auseinandersetzung gesagt hatte. „Du sagtest, du hättest Tadel verdient,“ erinnerte sie ihn, „und dass du nicht wüsstest, was in dich gefahren wäre.“

„Ich dachte, du hättest etwas gegen mein... Verhalten... während der Feuerboot-Zeremonie einzuwenden. Dass ich dich vielleicht überwältigt hätte.“

„Oh!“ Das war ihr niemals in den Sinn gekommen. „Aber es hat mir doch gefallen!“ erklärte sie und wurde rot.

Seine Brust vibrierte vor Lachen. „Ich freue mich, das zu hören. Aber am nächsten Tag hast du so unglücklich ausgesehen.“ Éomer hielt inne. „Ich verstehe,“ sagte er sehr leise. „Das war, nachdem Wilwarin dir erzählt hatte, ich würde sie heiraten! Hast du geglaubt, ich würde nur mit deinen Gefühlen spielen?“

Er verfiel in Schweigen, und sie hatte den Eindruck, dass es in seinem Geist fieberhaft arbeitete.

„Geliebte Herrin, was für einen Vorschlag habe ich dir deiner Meinung nach bei Herrn Girion gemacht?“ Er hob ihr Gesicht an.

Sie krümmte sich in seinen Armen und spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen flutete.

„Oh Lothíriel,“ sagte er, „du hast doch nicht – Kein Wunder, dass du so wütend auf mich geworden bist!“

Bei der Erinnerung an die Dinge, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, war sie drauf und dran, in den Boden zu versinken. Und was dachte ihr Vater von ihm – und der Rest des Hofes von Gondor?

„Es tut mir Leid!“ rief sie aus.

Er hielt sie noch fester. „Dir tut es Leid? Lothíriel, du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen. Das ist alles die Schuld dieser Hexe! Es bringt mein Blut zum Kochen, daran zu denken, wie unglücklich sie dich gemacht hat. Ich wünschte, ich könnte Wargköder aus ihr machen!“

Solch ein Ausmaß mörderischer Wut lag in seiner Stimme, dass sie die Ernsthaftigkeit seiner Drohung keinen Augenblick anzweifelte. Doch waren ihr im Moment ganz andere Dinge wichtig. Wilwarin hatte gelogen! Éomer hatte nicht die Absicht, sie zu heiraten! Lothíriel schloss die Augen; plötzlich fühlte sie sich so leicht wie eine Feder. Sie hatte sich nicht in Éomer geirrt – er war der ehrenhafte und gütige Mann, für den sie ihn gehalten hatte.

Noch immer murmelte er Flüche vor sich hin, anstatt etwas Nützliches zu tun – wie zum Beispiel, sie zu küssen. Lothíriel langte nach oben und zog ihn zu sich hinunter, bis sein Mund den ihren bedeckte. Überrascht atmete er ein, doch er erholte sich rasch und zeigte auf dankenswerte Weise seine Kooperation. Dieses Mal war ihre gegenseitige Berührung weniger von wilder Hast geprägt als von zärtlichem Vergnügen.

So weit es Lothíriel betraf, wäre sie glücklich gewesen, den Rest ihrer Tage mit ihm im Brunnen stehend mitten in Éowyns Küchengarten zu verbringen, aber irgendwann mussten sie wieder zu Atem kommen. Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer lehnte sie sich gegen ihn. Endlich zu Hause. Mochten auch Stürme rings um sie her wüten, sie wusste, dass sie von nun an stets Frieden und Zuflucht in seinen Armen finden würde. Er ließ sein Kinn auf ihrem Kopf ruhen und streichelte ihr sanft das Haar.

„Lothíriel?“ sagte er nach einer langen Pause.

„Ja?“

„Gibt es irgend einen besonderen Grund, weshalb wir im Wasser stehen?“ Ein Hauch Gelächter klang in seiner Stimme mit.

„Oh! Es sind meine Füße,“ erklärte sie.

„Deine Füße?“

„Herr Girion ist darauf getreten, während wir getanzt haben, also dachte ich, ich bade sie in dem kühlen Wasser.“

„Ich verstehe.“ Jetzt lachte er ganz eindeutig. „Möchtest du, dass ich ihn zur Verantwortung ziehe?“

Sie spürte, wie die Fröhlichkeit auch in ihr hochsprudelte. „Und was würdest du tun, wenn ich Ja sagen würde?“

„Natürlich würde ich tun, was meine Herrin mir sagt. Allerdings würde ich vielleicht eher meine nassen Stiefel zum Vorwand nehmen, ihn zu fordern.“

Als sie ebenfalls anfing zu lachen, hob er sie mitsamt ihrem durchweichten Gewand hoch und trug sie mit müheloser Leichtigkeit zu einer Bank in der Nähe. Sachte setzte er sie ab und blieb neben ihr auf den Knien.

„Lothíriel,“ sagte er und nahm ihre Hände. „Du hast meine Frage von vorhin nicht beantwortet. Wirst du mich heiraten?“

All ihre Zweifel waren dahin geschmolzen. „Ja.“

Er küsste ihre Handfläche. „Das ist gut... denn ich liebe dich wahnsinnig.“ Er küsste ihren bloßen Arm. „Verrückt.“ Die Vertiefung ihrer Kehle. „Irrwitzig.“ Lothíriel musste lächeln, doch gleichzeitig schlug ihr Herz so schnell wie ein galoppierendes Pferd, und sie fragte sich, ob er es hören konnte. Sein warmer Atem liebkoste ihr Gesicht, und sein Mund schwebte dicht über dem ihren. „Verzweifelt,“ flüsterte er heiser, und ihre Lippen berührten sich.

Wie ein Feuerboot in der festen Umarmung des Flusses ließ Lothíriel sich davontragen; sie verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Sie protestierte unzusammenhängend, als Éomer sie endlich losließ.

„Liebes Herz,“ seufzte er, „Ich glaube, wir hören besser auf, während wir es noch können.“

Sie wurde rot und nickte.

„Ich hole deine Schuhe.“

Seine Stiefel machten ein quietschendes Geräusch, während er ging, und obwohl sie einen Versuch unternahm, ihr Kleid auszuwringen, klebte der Stoff schwer und klamm an ihren Beinen. Sie hoffte inbrünstig, dass niemand sie auf dem Weg zurück ins Haus zu Gesicht bekommen würde.

„Hier sind sie.“ Éomer kniete sich hin und half ihr, in ihre leichten Tanzschuhe zu schlüpfen; seine warmen Finger ruhten noch einen Moment auf ihren Waden. Schon dieser kurze Kontakt schickte einen köstlichen Schauder durch ihren ganzen Körper.

Dann streckte er eine Hand aus, um sie auf die Füße zu ziehen, und Arm in Arm gingen sie durch den Garten zurück. Lothíriel kam sich wie ein Einbrecher vor angesichts der Art und Weise, wie sie vorsichtig die Hintertür zum Haus öffneten und prüften, ob die Luft rein war.

„Niemand in der Nähe,“ flüsterte Éomer, „aber wir werden uns beeilen müssen.“

Sie stahlen sich die Treppen hinauf und blieben oben stehen. „Weißt du, welches dein Zimmer ist?“ fragte er.

Sie nickte. „Die fünfte Tür auf der rechten Seite.“

„Dann sollte ich dich besser allein lassen. Aber morgen früh werde ich gleich als erstes mit deinem Vater reden, das verspreche ich.“

Eine viel zu kurze Liebkosung über ihre Wange, und er war fort. Ihr Rock hing schwer und kalt an ihr herunter, während sie sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer machte; sie fühlte sich beraubt, als hätte er alle Wärme und allen Trost mit sich genommen. Während sie den Korridor entlang ging, zählte sie die Türen. Eins. Zwei. Drei. Gerade als sie an der vierten Tür vorbei kam, öffnete sie sich unter ihren Fingern. Sie erstarrte.

„Lothíriel!“ Die Stimme ihres Vaters. „Wieso bist du noch auf?“

Sie wandte sich langsam zu ihm um; sie war sich unbehaglich ihrer tropfenden Kleider und ihres zerzausten Haares bewusst. Noch bewusster war sie sich der Tatsache, dass das, was sie im Garten getan hatte, ihr wahrscheinlich groß und breit quer über das Gesicht geschrieben stand. Sie war nie gut darin gewesen, etwas vor ihrem Vater zu verbergen.


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