DIE UNWIRKLICHE STADT 

Tod durch Wasser (Death by water)
von Altariel, übersetzt von Andrea Sternberg
(Überarbeitung der Übersetzung durch Cúthalion)

Bild: „Faramir in Ithilien" von Anke Katrin Eißmann

Faramir Ithilien

4. Kapitel

„Hat es weh getan?“ fragte ich.

Mein Bruder hörte auf, Steine übers Wasser hüpfen zu lassen und schaute zu mir herüber. „Hat was weh getan?“ fragte er zurück.

„Das Sterben natürlich“, sagte ich scharf. „Was sonst würde ich dich fragen wollen?“
Manchmal benutzte mein Bruder Begriffsstutzigkeit, um seinen Unwillen zu bemänteln.

Er überlegte einen Moment.

„Nein, das Sterben tat nicht weh“, sagte er und schaute mich mit seinem breiten Grinsen an. „Aber die Pfeile schon...“

Und dann lachte er, und ich musste mitlachen und schüttelte den Kopf über ihn.

Wir saßen für eine Weile in freundschaftlichem Schweigen, während wir den Sommer genossen und zusahen, wie die Wellen am Ufer der Bucht leckten, die Dol Amroth beschützte. Der Sand war warm und trocken unter meiner Hand, und die Möwen kreisten über uns, doch ich konnte ihre Rufe nicht hören. In der Luft lag ein frischer Geruch nach Salz. Dies war die Heimat des Bruders meiner Mutter, und wir waren als Kinder oft hierher gekommen, um unsere Verwandten zu besuchen. Wir waren hier glücklich gewesen. Der Krieg hatte uns nie gestattet, hier als erwachsene Männer Ruhe zu finden. Ich hatte nicht gedacht, dass ich hier je so mit ihm sitzen könnte, bevor nicht der Feind geschlagen war. Das Meer war so blau und so beruhigend, ich hätte hier ewig bleiben mögen.

Aber mein Bruder stand leise seufzend auf und streifte den Sand von seinen Kleidern. Mein Blick fiel auf den fremdartigen Gürtel aus miteinander verflochtenen goldenen Blättern um seine Hüften, und ich öffnete den Mund, um danach zu fragen, aber er sprach zuerst.

„Zeit zu gehen, Bruder“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen. Ich ergriff sie, und er zog mich leicht mit seinem festen Griff und seinem starken Arm hoch. Dann strich er leicht mit seinen Fingern über meine linke Wange, und trotz der Zartheit seiner Berührung fühlte ich die Wunde dort pochen. Einen Moment lang sah er traurig aus, aber dann legte er seine Hände auf meine Schultern und lächelte mir zu. Mein Bruder, wie ich ihn für immer in Erinnerung behalten werde... stark und gutaussehend, furchtlos und schön; mein teuerster, meistgeliebter Freund. Ich lächelte zurück, und er schaute mir in die Augen.

„Leb wohl, Faramir“, sagte er liebevoll. Und dann wachte ich auf angesichts eines klaren Tages Ende Februar und angesichts einer steinernen Stadt in Trauer.

Einer der Diener meines Vaters beugte sich über mich. „Mein Herr Faramir“, sagte er, „der Herr Truchsess verlangt, daß ihr noch in dieser Stunde am Rat teilnehmt.“

Anscheinend hatte ich bis nach Mittag geschlafen, und ich konnte nicht umhin zuzugeben, daß ich mich deshalb besser fühlte, auch wegen des Traumes, dessen Trost noch immer anhielt. Schnell stand ich auf, wusch mich, kleidete mich an und machte mich auf den Weg zum Turm, wo der Rat versammelt war. Seine Mitglieder waren daran gewöhnt, dass die Söhne Denethors verwundet aus dem Feld zurückkehrten, und niemand dort hatte mich in der Nacht unverletzt in der Stadt ankommen sehen. Ich trat zu meinem Vater und küsste den Ring an seinem Finger, wie es von mir erwartet wurde. Er begrüßte mich ruhig, und wenn sein durchdringender Blick überhaupt auf meinem Gesicht verweilte, dann nur für einen kurzen Augenblick.

„Guten Morgen, Herr Faramir. Du hast geruht nach deiner späten Reise, nehme ich an?“

„Danke, ja, Herr“, sagte ich leise.

„Dann setz dich zu uns; denn wir haben vieles zu überdenken nach dem Verlust unseres meistgeliebten Heerführers.“

Und so debattierten wir bis spät in den Tag, obwohl sich wenig an unserer schwierigen Lage geändert hatte, außer dass wir nun Boromirs beraubt waren. Es war schon fast Mitternacht, bis ich mich auf den Weg zurück nach Osgiliath machen konnte. Als ich darauf wartete, daß mein Pferd vorbereitet wurde, sah ich, daß es zu regnen begonnen hatte, ein dünnes, aber beständiges Nieseln, das mich in der Zeit, bis ich den Fluß erreichte, völlig durchweichen würde. Ich zog eine Grimasse, und genoss die Wärme der Stallungen, so lange ich noch konnte.

„Angenehme Nacht für einen Ritt, Herr“, sagte der Pferdeknecht mit einem trockenen Grinsen.

„Du kannst gerne meinen Platz einnehmen, Galdor“, sagte ich milde.

Er kicherte leise, und dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, und er war plötzlich sehr mit seiner Arbeit beschäftigt. Ich drehte mich um, um zu sehen, was die Ursache war, und war erstaunt, meinen Vater dort stehen zu sehen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal gekommen war, um mich zu verabschieden... wenn er dies überhaupt je getan hatte. Sein Haar war feucht, und, wenn seine Miene überhaupt etwas auszudrücken vermochte, dann hätte ich gesagt, daß er über seine Anwesenheit hier genauso überrascht war wie ich. Ich fühlte mich etwas unangenehm berührt, als ich ihm so gegenüber stand, und mit einem Mal wurde mir bewußt, daß wir nicht gerade darin geübt waren, dem andern gegenüber Zuneigung zu zeigen. Wegen dieser Absurdität mußte ich plötzlich lächeln. Er runzelte die Stirn, und ich sah, daß ich ihn entwaffnet hatte.

„Ihr habt eine miserable Nacht gewählt, um hierher zu kommen, Herr“, sagte ich.

„Ja, tatsächlich“, antwortete er und schaute betont zu Galdor herüber, der sein Möglichstes tat, um sich unsichtbar zu machen. Ich verstand das Unbehagen von beiden und versuchte, Abhilfe zu schaffen.

„Ich führe sie hinaus, danke“, murmelte ich Galdor zu, und er gab mir die Zügel der Stute und verschwand erleichtert in den Tiefen der Stallungen.

Mein Vater folgte mir hinaus in den Regen. Ich streichelte Aryn, als sie ungeduldig stampfte und schnaubte, denn wenn wir schon in solch einem Wetter nach draußen mußten, sollte es wenigstens gleich losgehen.

„Ihr solltet hineingehen, Herr. Der Regen wird stärker.“

Er schaute zum dunklen Himmel auf, und während ich begann aufzusteigen, legte er seine Hand auf meinen Arm. Ich hielt inne und drehte mich zu ihm um. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, er würde mich umarmen, aber er schaute mir nur mit seinen dunklen Augen ins Gesicht, denselben Augen, die mir jedes Mal entgegenblickten, wenn ich in einen Spiegel sah. Dann sagte er einfach: „Du bist jetzt mein Erbe.“, und ich fühlte das Gewicht der Verantwortung, die er mir damit auferlegte, aber auch einen Stich reinster Freude über seine Anerkennung. Ich nickte und bestieg Aryn.

„Reite sicher“, sagte er. „Und - Faramir?“

Ich schaute auf ihn herunter. „Vater?“

„Mach mich stolz.“

Wir schauten uns noch einmal an, graue Augen in graue Augen; dann nickte ich Lebewohl und ritt los, von der sechsten Ebene hinab durch die Stadt.

Als ich über den Pelennor ritt, fing es an, wie aus Kübeln zu regnen, und Windböen bliesen mir das Wasser ins Gesicht. Ich strich mit der Hand mein nasses Haar zurück und trieb Aryn an. Vor mir lag Osgiliath und die Trauer der Männer, wenn sie die Nachricht vom Tod ihres Hauptmanns hören würden; danach Ithilien, und nur die Valar wußten, welche Prüfungen mich dort erwarteten.

Für eine Weile war ich in Gedanken versunken, und einem plötzlichen Impuls folgend, schaute ich zurück nach Minas Tirith. Die Stadt war von Dunkelheit umgeben, aber an der Spitze des Turms schien ein fahles Licht.Als der Regen noch dichter fiel, dachte ich an Númenor und wie oft und wie lebhaft ich jetzt von seinem Stolz und seiner Verderbtheit träumte - und von seinem Untergang. Dann dachte ich an meinen Vater, der seinen harten Willen hierhin und dorthin lenkte und versuchte, alles für Gondors Wohlergehen zu ordnen – und ich hatte Angst, um Gondor, um mich selbst, und am meisten um diesen stolzen Mann, der keine Enttäuschung duldete, wie verdient sie auch immer war, und von dem ich wußte, daß er alles für die Verteidigung seines Reichs opfern würde.

Sein Schicksal stand kurz bevor...

Gondor lag in der Dunkelheit hinter mir, und vor mir lag nur der Schatten von Mordor. Durch den Regen ritt ich weiter Richtung Osten.


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