DIE UNWIRKLICHE STADT 

Was der Donner sprach (What the Thunder said)
von Altariel, übersetzt von Andrea Sternberg
(Überarbeitung der Übersetzung durch Cúthalion)

Bild: „Vater und Sohn" von Anke Katrin Eißmann

Father and Son

„Nach Todeskampf in steiniger Öde
ist er, der lebend war, jetzt tot.
Wir, die wir lebend waren, sterben nun
Geduldig, kampflos.“
(T.S. Eliot, „Das wüste Land“)


2. Kapitel

Einige sagen, Mithrandir brächte nur schlechte Kunde – ich nicht. Meine Gefährten und ich hätten es ohne ihn nie bis zur Stadt geschafft. Denn unweit der Tore kam der geflügelte Schrecken über uns. Die Angst, der Boromir und ich in Osgiliath widerstanden hatten, war um ein Zehnfaches stärker, und dieses Mal war mein Bruder nicht da, um mir beizustehen. Dieses Mal war es, als ob ein Blitzstrahl durch meine Schläfen fahren würde; und dann begann das Geschrei, das sich in meine Gedanken hineinfraß. Die letzten Reste meines Willens aufbietend, zwang ich mich, Aryn umzuwenden und zurück zu meinen Gefährten zu reiten, die abgeworfen worden waren. Und dann schoss wie ein Blitz aus Licht Mithrandir über die Ebene auf uns zu, und der donnernde Angriff des Schreckens schrumpfte vor seinem weißen Zorn zusammen.

Aber das Empfinden der Unwirklichkeit war nicht verschwunden, als ich mich auf den Weg hoch zur Zitadelle machte. Erst sah ich einen weiteren Halbling aus meinen Träumen – er trug das Silber und Schwarz des Turms. Und dann musste ich meinem Vater gegenübertreten. Wie anders war seine Miene als der Ausdruck, den ich in meiner Vision gesehen hatte! Kalt und streng war er, und das Kerzenlicht warf grausame Schatten entlang den scharfen Linien seines Gesichts. Das Flackern der Flammen auf seinen Zügen verunsicherte mich noch mehr. Wieder war ich froh, daß Mithrandir an meiner Seite war, denn auf die Dauer konnte ich dem Zorn meines Herrn nicht standhalten, und Mithrandir sprach an meiner Stelle. Wäre er nicht dort gewesen, ich glaube, ich wäre vor meinem Vater auf die Knie gefallen und hätte um Verzeihung gefleht – und zweifelsohne hätte ich sie nicht erhalten. Doch so konnte ich mich gerade noch zusammen nehmen.

Schließlich ließ mich mein Herr gehen, und ich zog mich in mein Zimmer zurück. Es wurde mir schwerer und schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als ich endlich in meinem Zimmer angelangt war, setzte ich mich müde in meinen Stuhl. Nachbeben des schrecklichen Angriffs durchschauderten noch immer meine Gedanken, und meine Augen schienen immer wieder ihre klare Sicht zu verlieren, so, als ob das Licht um mich sich plötzlich verdunkelte. Zuerst hörte ich das sanfte Klopfen an meiner Tür nicht, aber es wurde immer eindringlicher.

„Herein!“ sagte ich müde und stützte meinen Kopf in eine Hand, denn ich hatte wenig Kraft zum Sprechen übrig. Und ich fürchtete eine weitere Begegnung, die so viel von mir forderte wie die letzte.

„Ihr seid müde, Faramir. Ich werde Euch nicht lange aufhalten.“

Es war Mithrandir. Wortlos wies ich auf den gegenüberstehenden Stuhl, und er setzte sich. Wir schauten uns an. Ich hatte nur eine einzige Kerze angezündet, und sein Gesicht wurde von der Dunkelheit halb verborgen. Und als ich ihn anschaute, fragte ich mich, was er für heimliche Kräfte besaß, die in mir eine größere Liebe entfacht hatten als selbst für meinen Vater.

„Es war die richtige Wahl“, sagte er schließlich.

„Tatsächlich?“

„Und ich weiß, was es Euch gekostet hat, sie zu treffen.“

Ich lachte hart auf. „Kennt Ihr die letzten Anweisungen meines Vaters, bevor ich nach Ithilien aufgebrochen bin? Mach mich stolz, sagte er.“ Ich schüttelte den Kopf. „Es scheint, dass ich keine Ahnung habe, wie man das macht, nicht einmal, wenn sich mir eine solche Chance bietet. Wenn nur mein Bruder dort gewesen wäre... und ich wäre an seiner Stelle am Rauros erschlagen worden.“, schloss ich bitter.

„Aber wenigstens ich bin dankbar dafür, daß Ihr in Ithilien wart und nicht Boromir“, entgegnete Mithrandir ruhig. „Denn wenn eure Plätze vertauscht gewesen wären, hätte Euer Bruder Verderben über uns alle gebracht. In Eurem Herzen wisst Ihr das, Faramir.“

Ich legte den Kopf in meine Hände, und dann fühlte ich seine Hand auf meiner. „Versucht zu schlafen“, sagte er. „Die Stimmung Eures Vaters wird am Morgen kaum besser sein, und Ihr musst schon gegen genug Feinde kämpfen, auch ohne Eure Kräfte im Kampf mit ihm zu vergeuden.“

Er verließ mich, und ich blies die Kerze aus und versuchte zu tun, was er gesagt hatte; aber während ich auf dem Bett lag, konnte ich das Echo dieser fürchterlichen Schreie hören und zitterte im Dunkeln. Nach einer Weile gab ich den Gedanken an Schlaf auf. Ich wickelte mich in eine Decke, zündete die Kerze wieder an, lehnte mich in meinen Stuhl zurück und nahm ein Buch zur Hand. Aber mein Geist war zu müde, um den Worten zu folgen, und schließlich saß ich einfach da und döste und wartete darauf, dass das erste fahle Licht der Morgendämmerung durch mein Fenster hereindrang. Dann erhob ich mich und machte mich fertig für die Ratsversammlung. Während ich vor dem Ratszimmer saß und darauf wartete, vom Herrn der Stadt hereingerufen zu werden, legte ich meinen Kopf in die Hände und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Eine ganze Weile merkte ich nicht, dass jemand vor mir stand.

„Hat der Herr Faramir nichts zur Begrüßung seines Verwandten zu sagen?“ fragte eine geliebte Stimme.

„Onkel!“ rief ich freudig aus, stand auf und umarmte ihn. Fast zwei Jahre war es nun schon her, seit er das letzte Mal nach Minas Tirith gekommen war, und ich hatte keine Zeit gehabt, an die Küste zu reisen. Ihn endlich wiederzusehen machte mir bewusst, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Er sprach leise ein paar Worte über meinen Bruder, um uns beide in unserer Trauer zu trösten; dann nahm er für einen Augenblick mein Gesicht in seine Hände, und ein Ausdruck von Sorge trat in seine Züge.

„Du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenbrechen“, sagte er. „Wann bist du zurück in die Stadt gekommen?“

„Gestern abend, und unter dunklen Schatten“, sagte ich. „Aber...“, und ich blickte an ihm vorbei zu der noch immer verschlossenenTür, „...die Dinge stehen nicht gut zwischen uns.“

Er murmelte leise eine Verwünschung, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Höflichkeit. „Mit Herrn Denethor hat sich also nichts geändert. Was hast du dieses Mal verbrochen?“

Obwohl ich meinem Onkel von ganzer Seele vertraute, hatte Mithrandir mir doch nicht gestattet, von der Mission des Ringträgers zu erzählen, und ich wollte das Thema auch nicht an diesem öffentlichen Ort anschneiden. Aber ich konnte ihm genug sagen, um ihm eine Erklärung zu liefern. „Was ist schon immer mein Verbrechen gewesen, Onkel?“ sagte ich bedrückt. „Ich bin nicht Boromir, das reicht schon. Und jetzt bin ich am Leben, während mein Bruder es nicht mehr ist. Ich glaube, das kann er mir nie verzeihen.“

Nachdem ich das gesagt hatte, wurden wir hineingerufen, und er hatte nur noch Zeit, schnell meine Hand zu drücken.

Hätte ich gefordert, dass wir die Flussübergänge und den Pelennor verteidigen, koste es, was es wolle, mein Vater würde vielleicht anders entschieden haben. Aber ihre Verteidigung schien mir vergeblich... und schlimmer noch, sie würde viele tapfere Männer sinnlos das Leben kosten. Aber wenigstens gehorchte ich ihm, indem ich den Weg nach Osgiliath vorzog; hätte ich auch den verweigert, er hätte sich in seinem Zorn auf mich nur noch mehr bestätigt gesehen.

Dies war als Strafe für mich gedacht, überlegte ich, als ich das Ratszimmer verließ; und er hätte kein sichereres Verhängnis für mich wählen können, selbst wenn er mich geradewegs zu meiner Hinrichtung geschickt hätte. Und dann verließ mich mein Mut, und ich musste im Gang stehen bleiben, um meine Fassung wiederzugewinnen. Ich stützte mich mit einem Unterarm an der Wand ab, um mich aufrecht zu halten, und lehnte den Kopf dagegen. Meine linke Hand tastete erschöpft nach dem Schwertgriff. Dann spürte ich eine Hand auf meinem Rücken. Ich drehte mich um und sah meinen Onkel. Er schien sich in einem Schockzustand zu befinden; sein Gesicht war grau. Wir fassten uns bei den Armen, und für einen Augenblick schien es, als würde ich ihn trösten. „Im Namen der Valar, reite sicher, mein Sohn“, bat er mich eindringlich.

Ich schaute ihm fest in die Augen. „Dies ist ein bitterer Abschied, aber wir wollen uns nichts vormachen“, sagte ich leise. „Denn wir beide wissen, dass es der gesamten Gnade der Valar bedarf, mich lebend zurückkommen zu lassen. Und es geschähe nicht in Übereinstimmung mit dem Willen des Truchsessen.“ Wir umarmten uns, und ich senkte den Kopf und lehnte ihn einen Moment an seine Schulter. Dann verließ ich die Zitadelle in Richtung Osgiliath, dem Schicksal entgegen, von dem mein Vater beschlossen hatte, dass ich es verdiente.


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