Fürchte nichts mehr (Fear no more)
von Cúthalion

Ich habe immer schon geträumt, mein ganzes Leben lang. Ich habe von der großen Welle geträumt, die sich erhob, um Númenor zu ertränken, wieder und wieder in all den Jahren. Ich habe von meinem Bruder geträumt an dem Tag, als er vom Pferd fiel und sich den linken Arm brach und ich sah ihn erschlagen in einem Elbenboot liegen, das auf dem Anduin an mir vorüber glitt. Ich träumte von meiner Mutter, in der Nacht, bevor ich sie verlor; sie stand auf einem weiten Strand, ihre Füße in weichem, weißen Sand vergraben, genau wie an der Küste in Dol Amroth, ihrer Heimat, die sie so bitter vermisste.

Ich beobachtete sie aus einiger Entfernung von einer Düne, die mit Strandhafer überwachsen war, und ich sah, wie sie zum Wasser hinunter ging, wie die See zu ihren Knien hinaufstieg und ihre Taille umspülte. Und dann verschwand sie unter der Wasseroberfläche und ich hörte mich selbst mit meiner hohen Knabenstimme wieder und wieder ihren Namen schreien... bis jemand mich aus meinem unruhigen Schlaf wachrüttelte. Es war meine Amme, und ihre Augen waren rot verschwollen, und als ich nach meiner Mutter fragte, brach sie erneut in Tränen aus und zog mich in ihre Arme. Und ich lag da ohne zu weinen und ohne jede Überraschung, denn ich wusste mit schmerzhafter Sicherheit, dass meine Mutter fort war.

Ich träumte jenen schicksalhaften Traum von dem Halbling und von Isildurs Fluch, und obwohl ich weiß, dass ich nichts hätte ändern können, gibt es immer noch Tage, an denen ich wünschte, ich hätte geschwiegen; oder dass ich nicht die Bürde dieser seltsamen Gabe tragen müsste... Dinge wahrzunehmen, die andere nicht sehen.

Letzte Nacht habe ich wieder geträumt.

*****

Ich wartete in den Gärten der Königin; die letzten Rosen erfüllten die Luft mit ihrem süßen, beinahe verzweifelten Duft, und die elegant angelegten Rabatten prunkten mit einer Fülle von Herbstastern. Während ich auf einer Marmorbank saß, sah ich sie näher kommen... zwei hohe Gestalten, Hand in Hand, die aussahen, als seien sie aus dem Rahmen eines alten Gemäldes gestiegen. Aber sie waren durchaus lebendig; ich sah, wie er sich niederbeugte, um etwas in ihr Ohr zu flüstern und ich hörte den musikalischen Klang ihre Lachens, das den kühlen Tag wärmte.

Ich stand von der Bank auf und verbeugte mich.

„Mein König Elessar...“

„Mein Herr Faramir...“

Ich sah das Zwinkern in seinen Augen, als er den Kopf neigte, und wieder wurde ich an die Tatsache erinnert, dass dieser große Herrscher ungezählte Jahre damit zugebracht hatte, in der Wildnis zu wandern, neben einem kleinen Lagerfeuer zu schlafen und zu jagen, um seinen Hunger zu stillen; oft genug hatte er nicht einmal genug zu essen gehabt. Trotzdem hatte ich manchmal den nagenden Verdacht, dass er es genossen hätte, wenigstens einen Hauch dieser alten Zeiten wiederzuerleben, und dass das pompöse Hofzeremoniell ihm auf die Nerven ging.

„Fürst...“

Arwen lächelte, und wie stets war ich seltsam verblüfft darüber, dass sie wirklich war... dass ein solches Geschöpf über diese Erde wandelte, dass eine solche Lieblichkeit die Gestalt einer Frau angenommen hatte und mehr als das... dass alles, was meine Augen sehen konnten, nichts anderes war als ein Spiegelbild ihrer inneren Schönheit. Denn dass meine geliebte Éowyn sich in Gondor zu Hause fühlte, dass ihr freier Geist die Mauern von Minas Anor für mehr als ein paar Wochen ertrug... all dies war nicht mein Werk allein, sondern auch der Verdienst von Aragorns Königin. Sie hatte die wilde Schildmaid von Rohan mit sanften Händen und einem offenen Herzen in ihre gegenseitige Freundschaft gelockt, und dafür würde ich ihr den Rest meines Lebens dankbar sein.

„Macht Euch irgendetwas Kummer, Faramir?“

Die Stimme von Aragorn war ruhig und leicht besorgt, und ganz plötzlich erinnerte ich mich wieder an den Grund, weshalb ich darum gebeten hatte, beide sehen zu dürfen, den König und seine Königin.

„Das weiß ich nicht,“ erwiderte ich, „aber ich hatte einen Traum, den ich nicht ganz verstehe, und ich suche Hilfe.“

„Eure Träume sind oft ein Zeichen für die Wende des Schicksals und der Zeiten gewesen.“ sagte Arwen mit ihrer melodischen Stimme. „Ich wäre mehr als froh, wenn Ihr diesen mit uns teilen würdet.“

Wir gingen den Gartenweg hinunter und erreichen einen kleinen Pavillon. Von Kissen bedeckte Bänke zogen sich die Wände entlang, und ein vorausschauender Diener hatte ein Tablett auf den Tisch in der Mitte gestellt; es gab Obst; Kristallgläser und eine Karaffe mit tiefrotem Wein.

Der König setzte sich, Arwen an seiner Seite; er goss etwas Wein in eines der Gläser und reichte es mir herüber.

„Erzählt mir von Eurem Traum.“ sagte er.

„Ich stand an einer Küste,“ Ich schloss die Augen, um mich an jede Einzelheit zu erinnern. „Dort war eine weite Bucht, umgeben von wunderschönen alten Gebäuden aus weißem Stein. Aber niemand war da... die Straßen waren leer. Es muss Abend gewesen sein, kurz vor Sonnenuntergang... der Himmel war rotgolden und purpurn, und dort, wo die Bucht in eine Förde mündete, schien das Meer zu brennen. Ich ging einen langen Kai hinunter, und endlich sah ich jemanden. Es war eine Frau...“

*****

Es war eine Frau, und sie bewegte sich wie in einem langsamen, graziösen Tanz. Sie hob ihre Arme dem strahlenden Glanz des Himmels entgegen, und sie war von Vögeln umgeben... Hunderte und Aberhunderte von Vögeln, die von ihren Händen aufstiegen und über ihrem Kopf dahinsegelten, von der sanften Brise getragen.

Ich stand still und voller Ehrfurcht; ich wagte nicht, sie anzusprechen.

Aber sie sah mich.

„Hab keine Angst, Kind. Komm näher.“

Ich gehorchte, und nun konnte ich ihr Gesicht deutlich sehen. Es war von großer Schönheit; langes Haar fiel ihr über die Schultern, leuchtend wie ein bleicher Strom aus Silber. Ihre Augen waren dunkel und tief... die Augen von jemandem, der Zeuge gewesen war, wie Welten aufstiegen und fielen, Augen, die meine Seele durchbohrten und jeden Triumph und jedes Versagen meines gesamten Lebens bloßlegten... Augen, die erfüllt waren von ewiger Jugend und gleichzeitig von der Weisheit des Alters.

„Schau, Kind. Ich möchte, dass du dies hier siehst.“

Ich sah, dass ihre Hände einen Vogel bargen, der zu schlafen schien. Es war klein und irgendwie schwächlich, und er regte sich nicht.

„Ist er ...krank?“ fragte ich zögernd.

Sie schaute voller Liebe und Erbarmen auf den Vogel herunter.

„Das war er, und erschöpft ist er auch.“ sagte sie. „Wilde Falken und Habichte haben ihn gehetzt, und ihre scharfen Schnäbel und Klauen haben ihn verwundet. Er hat den Schmerz ertragen und den Flug fortgesetzt, bis seine Kraft verbraucht und seine Flügel gebrochen waren. Aber jetzt ist die Zeit zum Ausruhen gekommen, und die Zeit zur Heilung.“

Mit diesen Worten hob sie den Vogel an ihr Gesicht und blies sachte ihren Atem über das zerbrechliche Geschöpf. Dann küsste sie den gefiederten Kopf und streckte beide Arme aus.

„Flieg!“ sagte sie, und ihre Stimme war die Melodie eines unbekannten Liedes, das in der Luft vibrierte, sich mit den Wellen hob und senkte und in meinen Adern kreiste. „Flieg, und sei wieder stark und heil!“

Und der Vogel stieg auf aus ihren Händen, und seine Schwingen und sein Leib waren von makellosem Weiß, und er stieß den Schrei seiner Art aus, scharf und klar. Er kreiste einmal, zweimal... dann wandte er sich ab und segelte auf dem Wind, schnell und schwerelos und triumphierend. Ich sah, wie er in das goldene Feuer des Sonnenunterganges eintauchte, und dann war er fort.

„Erinnere dich daran, Kind,“ sagte die Frau, und sie berührte sanft meinen Kopf wie in einer Segensgeste. „Er ist geheilt, und er hat endlich Frieden gefunden. Fürchte nichts mehr.“

Und dies war der Augenblick...

******

„...als ich aufwachte.“

Ich öffnete die Augen. Der König und die Königin saßen auf der anderen Seite des Pavillons, und plötzlich hob sich Arwens Hand, als versuchte sie etwas zu berühren, das nicht da war. Ich sah, wie sich ihre Lippen geräuschlos bewegten, dann sprach sie lauter und endlich verstand, was sie sagte.

„Iorhael…”

Aragorns Körper war plötzlich steif und er runzelte die Stirn. Ich konnte sehen, dass sich seine Hände so hart um den Rand der Bank schlossen, dass seine Knöchel weiß wurden. Aber als er sprach, war seine Stimme leise und ruhig.

„Bist du sicher, Geliebte?“

Arwen lächelte, und ich sah die Trauer in ihren Augen... alte Augen mit dem Wissen und der Erfahrung von Zeitaltern... Augen, die mich plötzlich an die wundersame Frau in meinem Traum erinnerten.

„Ich habe ihm den Edelstein meiner Mutter gegeben,“ sagte sie, „Er war mein Geschenk für den Ringträger, sollte er seine alten Schmerzen und die bitteren Erinnerungen nicht mehr ertragen. Ich weiß, dass mein Vater Mittelerde verlassen hat; ich habe vor wenigen Tagen einen letzten Brief erhalten. Bilbo wollte mit ihm zusammen abreisen, und Vater erwartete, dass auch Frodo kommen würde... er war sich nicht sicher, aber jetzt weiß ich, dass die Ringträger über das Meer gegangen sind.“

Sie erhob sich und schenkte mir ein Lächeln, so traurig und so schwer von Tränen, dass mir das Herz wehtat.

„Ich werde mich zurückziehen.“ sagte sie leise.

Ich verbeugte mich vor ihr.

„Es bekümmert mich, dass ich Euch solchen Schmerz verursacht habe.“ sagte ich voller Besorgnis.

„Das habt Ihr nicht getan,“ erwiderte sie still, „dies war etwas, das ich lange erwartet habe. Und ich bin froh, dass von all unseren Freunden Ihr der Bote gewesen seid, der mir die letzte Sicherheit gegeben hat, Faramir.“

******

Als ich die Gärten der Königin verließ, war es fast dunkel. Am Horizont sah ich den Rest eines farbenglühenden, herbstlichen Sonnenunterganges, und gleichzeitig sah ich einen anderen vor meinem inneren Auge; ich sah die Frau, den flammenden Himmel und den Vogel mit den weißen Schwingen.

Frodo war fort, und er kam nie mehr zurück, und an diesem Abend und vielleicht noch an vielen anderen, die noch folgten, würden im Hause des Königs Tränen vergossen werden. Ich konnte spüren, wie diese Tränen mir selbst in die Augen stiegen.

Aber während ich überlegte, wie ich die Nachricht von Frodos Weggang meiner eigenen Frau überbringen sollte, spürte ich noch etwas anderes... es erfüllte mein Herz mit einem Schrei, scharf und klar, mit der Herrlichkeit des Fluges und dem Versprechen der Freude.

Er ist geheilt, und er hat endlich Frieden gefunden.

Fürchte nichts mehr.


ENDE
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