Heimat der Sterblichen (Long home for mortals)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel 5
Das Tor

Bilbo begrüßte sie abwesend, als hätte er sie erst gestern zuletzt gesehen. Er saß in einem kleinen, runden Raum, der aussah wie das Innere einer Muschel; die Farben verschwammen von einem tiefen Korallenrot auf dem Boden zu einem durchscheinenden Weiß an der Decke, die das Licht von draußen filterte. Der Türsturz war niedrig und ihr Führer versuchte gar nicht erst, einzutreten, sondern bückte sich und sagte: „Ich habe dir ein paar kleine Vettern gebracht, Bilbo. Hilfst du ihnen bitte, sich zurecht zu finden?“

„Ja, ja, sobald ich dieses bisschen Musik hier fertig habe. Dankeschön, ja, sie sind bei mir genau richtig. Hallo, Merry... Pippin... Setzt ihr euch einfach hin, während ich das zu Ende bringe?“

Merry sah Pippin an, hob eine Augenbraue und seufzte übertrieben. Dann ging er auf Bilbo zu, zog ihn von seinem Platz hinter einem kleinen Schreibtisch aus poliertem Holz hervor und in eine anständige Umarmung hinein.

„Erst sagst du mal Hallo zu mir, Vetter Bilbo! Und dann sagst du Pippin Hallo – komm schon! Es ist eine ganze Weile her, weißt du! Und jetzt kannst du mit deiner Arbeit weiter machen – was tust du da eigentlich?“

Er beugte sich über die Papiere auf dem Schreibtisch. Sie waren mit einer Art verschnörkelter Notenschrift bedeckt, die für ihn keinen Sinn ergab.

„Es ist Musik, mein Junge, ein neues Lied. Es ist fast fertig; habt einfach ein Weilchen Geduld, seid so gut.“ Er setzte sich wieder hin und blätterte seine Papiere durch. Er fügte hier und dort ein Zeichen hinzu und summte eine eigenartige, bezwingende Melodie vor sich hin.

Pippin nahm Merry am Ellbogen und zog ihn zur Tür.

„Lass ihn in Ruhe – er wird viel schneller damit fertig werden.“ Sie gingen hinaus und standen an die Wand neben Bilbos Tür gelehnt, Schulter an Schulter. Es war gut, sehr gut, wieder zusammen zu sein.

Merry schaute sich um und versuchte, alles in sich aufzunehmen. Da war Licht, ein strahlendes Licht, das auf jeder Oberfläche schimmerte und tanzte und ihm doch nicht in den Augen weh tat. Es schien beinahe lebendig zu sein, dieses Licht, es neckte ihn und sorgte dafür, dass er lachen und schreien wollte, rennen und über Dinge hinweg springen und Überschläge machen, die ganze Straße hinunter.

Überschläge? Er lächelte in sich hinein. Also, die hatte er fertig gebracht – als er etwa zehn gewesen war! Warum hatte er das Gefühl, als könnte er es noch immer? Er schaute Pippin aus den Augenwinkeln an und war schwer in Versuchung. Es würde komisch sein, Pippins Gesicht zu sehen...

Die Straße war nicht so bevölkert wie die andere. Ein Pferd trabte vorbei, von einem der leuchtenden Boten geritten. Ein kleiner Junge saß mitten auf dem Straßenpflaster; ein strahlend gelber Vogel schwebte über seiner Hand. Er schien mit ihm zu sprechen, und dann fingen die beiden ohne jede Vorwarnung an zu singen, der Vogel und der Junge gemeinsam. Es war Bilbos Melodie, plötzlich ausgeformt und klar, und sie durchbohrte Merrys Herz und ließ ihm Tränen in die Augen schießen. Er wollte etwas, oh, wie sehr er es wollte! Aber er wusste nicht, was es war.

Er wandte sich Pippin zu und Tränen liefen ihm über das Gesicht.

„Na komm, Merry,“ sagte Pippin leise. „Ich weiß, was du brauchst.“

Er führte ihn die Straße hinunter, an dem singenden Jungen vorbei und hinaus auf eine breiten Überweg. Dort blieben sie einen Moment stehen und Pippin schaute, um zu sehen, in welche Richtung die Menge sich bewegte. Die Hobbits schlossen sich dem Strom an; Pippins Hand lag auf Merrys Schulter und führte ihn. Endlich blieben sie stehen und er gab seinem Vetter einen kleinen Schubs nach vorne.

„Jetzt, Merry.“ sagte er.

Merry schaute auf und geradewegs in das Herz seiner tiefsten Furcht und seiner tiefsten Sehnsucht hinein, und die Tränen kamen ihm in einer wahren Flut und machten ihn blind. Er fiel auf die Knie und streckte tastend die Hände aus, und seine Hände wurden eingefangen und er wurde in die Arme von jemandem gezogen und weinte an seiner Schulter.

Er weinte, und dann schaute er mit nassen Augen auf und lächelte. „ich habe auf dich gewartet, Meriadoc,“ flüsterte der Sohn des Ilúvatar, und Merry lachte laut und fiel Ihm um den Hals.

Er wurde abgesetzt, aber er hielt die Hand des Sohnes ganz fest und Pippin nahm seine andere. Der Sohn fing an, sie die Straße hinunter zu führen, durch die Menge hindurch. Sie kamen wieder an Bilbos Tür vorbei, und Bilbo kam heraus gerannt, drängte sich zwischen Merry und den Sohn und nahm ihre Hände. Der Sohn lächelte auf ihn hinunter, und Bilbo räusperte sich und fing an, das Lied zu singen, das er vor sich hin gesummt hatte, kraftvoll und klar. Nach einem Augenblick des Zögerns stimmten erst Pippin und dann Merry mit ein, und sie gingen auf dem Überweg weiter, dem Sohn nach, der sie mit sich zog.

Jemand schob sich zwischen Pippin und Merry und packte ihre Hände in festem Griff. Pippin schaute nach oben – sehr weit nach oben – und es war Boromir. Boromir! Für einen Moment verlor er in seiner verblüfften Freude die Melodie. Boromir drückte seine Hand.

„Schön, dich zu sehen, Peregrin Tuk!“ sagte er, und seine dunkle Stimme nahm das Lied auf. Pippin holte tief Atem und fand seinen Platz in der Musik wieder.

Immer wieder drängten sich andere Leute in die Reihe, Großes und Kleines Volk gleichermaßen. Der Junge mit dem Vogel holte auf (der Vogel saß jetzt auf seinem Kopf) und fand einen Platz an Merrys anderer Seite. Plötzlich erschien Frodo und glitt zwischen Bilbo und den Sohn; er sah Ihm mit leuchtenden Augen ins Gesicht. Aber bevor er anfangen konnte zu singen, umwölkte sich sein Gesicht und er schaute hinunter. Sein Daumen hatte die tiefe Wunde in der Hand des Sohnes gefunden, und er streichelte sie nachdenklich.

Das Lied erhob sich rings um sie her, aber Frodo konnte nicht mit einstimmen.

„Warum?“ fragte er drängend. „Meine Hand ist jetzt geheilt – warum sind deine es nicht?“

Die Stimme des Sohnes war still, die Worte nur für ihn allein bestimmt. „Dies sind die Zeichen meiner Fahrt, Frodo, die Zeichen für jeden, der mich sieht. So wie dein Finger... es war ein Verlust für dich, aber ein großer Gewinn für Mittelerde. Doch es hat dir Kummer gemacht, und ich wollte nicht, dass du dich bekümmerst; deshalb ist deine Hand jetzt heil. Möchtest du dein Zeichen wieder tragen?“

„Nein! Bitte, nein. Deine Zeichen können auch für meine zählen – meine waren nur ein kleiner Teil deiner großen Fahrt, wirklich.“

„So ist es.“ Der Sohn beugte sich hinunter und küsste ihn rasch auf die Stirn. „Geh jetzt, Frodo. Geh ans Ende der Reihe und mach dich bereit.“

Bereit? Wie auch immer. Frodo schlüpfte davon und die Lücke schloss sich, als Bilbo wieder die Hand des Sohnes ergriff. Er stand da und ließ die Reihe an sich vorüber ziehen – sie war jetzt lang, hundert oder mehr, Kinder und Erwachsene, Hobbits, Frauen und Männer. Estella hielt jetzt Merrys Hand und Frodo dachte, dass es wohl nicht lange dauern würde, bis Juweline Pippin fand. Der Gesang war reich und voll, und die Linie wogte und drehte sich, während sie die Menge auf der Straße durchdrang. Es war ein Tanz geworden, eine lange Kette von Tänzern. Pippin war ganz am Ende, und Frodo hielt sich an ihm fest und begann endlich zu singen; er fragte sich, was es wohl war, wofür er bereit sein sollte.

*****

Sam und Rosie wanderten Hand in Hand durch die Stadt, aber er nahm ihre Wunder nur zur Hälfte wahr. Seine Augen suchten jede kleine Gestalt, an der sie vorüber kamen, aber es war nie Frodo.

Er sagte, ich würde ihn sehen, dachte er. Er hat es versprochen.

Endlich kamen sie an eines der Tore, und er blinzelte, schüttelte ungläubig den Kopf und streichelte den kühlen Perlenlüster.

„Weißt du, Mädel – das ist nicht möglich. Die werden nicht so groß.“

Sie lachte und schlang ihre Arme um seine Mitte. „Und woher willst du wissen, wie groß eine Perle werden kann, Sam Gamdschie?“

Er wusste keine Antwort darauf, und er stand in ihren Armen neben dem offenen Tor und starrte auf den Horizont hinaus. Es schien, als läge die ganze Welt vor ihm ausgebreitet, Berge und Ebenen, Wälder und riesige Seen, deren Blau die unendliche Tiefe des Himmels widerspiegelten.

Das ist nicht möglich, dachte er wieder. Nicht einmal ein Elb kann die ganze Welt auf einen Blick sehen. Er klammerte sich an Rosie und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar; er spürte ihre solide Wirklichkeit und fürchtete sich davor aufzuwachen und festzustellen, dass sie verschwunden war.

„Oh Sam, es ist kein Traum! Nichts ist hier unmöglich, gar nichts,“ sagte sie. „Horch!“

Da war der Klang von Gesang, zuerst weit entfernt, dann näher. Er lauschte und erinnerte sich an die Musik, die ihn unter den Bäumen geweckt hatte. Heute Morgen, nicht wahr – oder vor einem Monat? Er hatte damals die Worte nicht verstanden, aber dieses Lied verstand er.

Nichts ist unmöglich,

Mit Ihm sind alle Dinge möglich,

Nichts ist unmöglich bei Gott!

Die Sänger kamen um eine Ecke gebogen, angeführt von Ilúvatars Sohn. Er lachte und hielt ihm die Hand hin. Sam streckte seine Finger aus und der Sohn gab ihnen einen Klaps, als Er vorbei kam, ein Tänzer an der Spitze einer langen Kette von Tänzern.

„Kommt mit, Samweis, Rosie! Schließt am Ende auf!“

Er zog zum Tor hinaus und in die Welt jenseits hinab, und Seine Kette von Tänzern folgte Ihm. Die Musik umströmte Sam und überspülte ihn wie die Wellen des Meeres, und die Tänzer kamen an ihm vorüber und durch das Tor, Hunderte und Aberhunderte von ihnen, Große Leute und Hobbits gleichermaßen. Und er stand da und wartete.

Die Reihe war jetzt beinahe vollständig an ihm vorbei. Hier war der letzte Tänzer; er sang nicht, sondern lachte und hielt ihm die Hand hin. Sam schaute – und schaute noch einmal, und ihre Augen trafen sich und hielten einander fest.

„Los doch, Sam!“ rief Frodo ihm zu, die Hand ausgestreckt. „Worauf wartest du? Los doch!“

Sam rannte und zog Rosie hinter sich her. Er bekam Frodos Hand zu fassen, und die Musik pulsierte durch ihre verschlungenen Hände hindurch und in seine Füße hinein und durch seine andere Hand zu Rosie. Musik und Freude, Gelächter und Liebe kreiste vom Sohn aus durch die gesamte Kette der Tänzer und vereinigte sie alle miteinander und mit Ihm. Die Hobbits hielten ganz am Ende der Kette Schritt, erfasst von einer ausgelassenen Freude, in der kein vergangener Schatten mehr blieb.

Und Sam fing an zu singen.


ENDE


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