Herrin des Schweigens (Lady of Silences)

von Altariel, übersetzt von Cúthalion

Es geschieht nicht oft, dass die Möwen so weit ins Landesinnere fliegen, und ihr Geschrei, das an meine Ohren dringt, bedeutet einen scharfen Stich inmitten all der anderen, dumpferen Schmerzen. Ich hebe mein Gesicht zum Himmel, um ihre scharf gezeichneten Gestalten kreisen zu sehen; für einen Moment bilde ich mir ein, ich könnte das Krachen der Brandung hören und die salzige See riechen.

„Was sind das für welche, Mama?“

Ich schaue hinunter auf meinen kleinen Sohn; auch sein Gesicht ist erhoben, er blinzelt mit dunklen Augen in den Himmel. Wie schade, denke ich, dass er ihr Geschrei nicht kennt. Als ich in seinem Alter war, liebte ich es schon.

„Seemöwen, mein Kleiner! Ich glaube, sie sind aus meiner Heimat gekommen, um uns zu sehen.“ Er lächelt, und gemeinsam beobachten wir, wie sie um das weiße Banner an der Spitze des Turmes herumflitzen. Dann verschwinden sie hinter dem steinigen Berg und segeln in freiem Flug dorthin, wo die Sonne untergeht. Sein Gesicht wird dunkel vor Enttäuschung.

„Du wirst sie wieder hören, wenn wir im Sommer zu mir nach Hause gehen.“ verspreche ich und nehme seine Hand. „Ich kenne ein Lied über sie.“ Bei diesem Angebot kehrt sein schnelles Lächeln zurück.

Das Lied eines Vogels will ich euch singen
die Mär einer Möwe auf pfeilschnellen Schwingen
Hoch in den Himmel die Möwe stieg
„Frei wie der Wind bin ich, wenn ich flieg!”
Das Lied der Möwe, es klingt zu mir her
Sie singt vom wogenden, wogenden Meer.

Es naht sich der Wind mit Sturmgebraus
Trägt den Vogel zur Klippe hinaus
Er stürzt aus den Wolken und findet nicht heim
Ein König des Himmels, verlor’n und allein.
Das Lied der Möwe, es klingt zu mir her
Sie singt vom wogenden, wogenden Meer.

Wie findet der Vogel nach Hause zurück
Nach Haus in sein Nest, zu Frieden und Glück?
Eine liebliche Weise trägt zu ihm der Wind
Seine Königin ist’s, sie naht sich geschwind.
Das Lied der Möwe, es klingt zu mir her
Sie singt vom wogenden, wogenden Meer.

Und endlich, mit munteren, fröhlichen Schrei’n,
Fliegen beide zum Himmel, von nun an zu zwei’n
Flink wie der Blitz aus den Wolken sie schnellen
Hinab in die Tiefe, zum Tanz auf den Wellen
Weiß sprüht die Gischt, sie spüren den Wind…

Bevor das Lied zu Ende geht, kennt er den Kehrvers und stimmt mit mir ein.

Das Lied der Möwe, es klingt zu mir her
Sie singt – “

„Finduilas.“

Unser Lied bricht schlagartig ab. Ich wende mich um und stehe meinem Herrn gegenüber.

„Es ist gut, dich wieder singen zu hören, meine Herrin.“ sagt er sanft. „In letzter Zeit warst du viel zu still.“

Seine Hand ruht auf der Schulter unseres anderen Sohnes, der aussieht, als sei er sehr begierig, von ihrem gemeinsamen Tag in der Stadt zu erzählen.

Ein guter Vater, denke ich, wenn sein Sohn ihn so bewundert und respektiert.

Mein jüngerer Sohn steht jetzt dicht neben mir, den Kopf an meine Seite gedrückt. Ich lege meine Rechte auf sein Haar. Sein Vater streift ihn mit einem abschätzenden Blick und nickt, dann schaut er mich an. Ich ziehe meinen linken Arm nahe zu mir – hat sein Auge einen Moment darauf verweilt, oder habe ich mir das nur eingebildet?

„Die Seemöwen sind gekommen, um uns zu grüßen, nicht wahr?“ Ich schaue hinunter auf meinen Kleinen und er nickt zustimmend. „Und wir haben den Gruß erwidert.“

Ich glaube, mein Herr lächelt jetzt. „Ich würde gern mehr davon hören, aber...“ Er gibt dem Älteren einen Klaps auf die Schulter. „Der Tag ist fast vorüber, und ich habe noch viel unerledigte Arbeit. Heute abend, möchte ich hoffen.“ Und er verneigt sich leicht und geht hinaus.

Mein älterer Sohn zerspringt inzwischen beinahe.

„Komm!“ sage ich warm, „erzähl deinem Bruder und mir von allem, was du gesehen hast!“

Mit seiner gewohnt rauen Zuneigung greift mein starker Sohn nach meinem Arm – und ich kann den Aufschrei nicht unterdrücken, der mir entschlüpft, leise und kurz, aber deutlich wie der Schrei einer verlorenen Möwe. Er weicht heftig vor mir zurück.

„Du wächst so schnell!“ sage ich und versuche, meinen Fehler mit einem Lachen zu überspielen. „Du kennst deine eigene Kraft gar nicht mehr!“

Sein Gesicht rötet sich, und dann wirft er mir einen Blick bitterer Anklage zu.

„Wenn du ihn nicht wütend machen würdest, müsste er dir auch nicht wehtun.“ flüstert er, dann wendet er sich ab und rennt zurück ins Haus. Ich haste hinter ihm her, aber die Tür zu seinem Zimmer ist verschlossen, und weder viel gutes Zureden noch Drängen wird ihn herausbringen.

Als die Zeit naht, zu der sich die Familie beim gemeinsamen Abendessen trifft, will er immer noch nicht herunterkommen. Mein Kleiner sitzt still am Tisch und spielt mit dem Besteck herum, während wir auf die Ankunft seines Vaters warten.

Endlich wird unsere Schweigen von seinem festen Schritt gebrochen. Ich erhebe mich, um ihn zu begrüßen. Die Starre seines Mundes zeigt deutlich, wie müde er ist – und das ist kein Wunder, denn seiner Pflichten sind so viele und die Bürde ist so groß. Seine Augen durchforschen das Zimmer; er bemerkt, wer fehlt und die Finsternis in seinem Gesicht vertieft sich. Er wirft mir einen scharfen Blick zu und ich strecke ihm meine Hände entgegen. Ich habe versucht, mein Bestes zu tun – ich bitte dich – ich versuche immer, mein Bestes zu tun, möchte ich sagen, aber alles, was ich tun kann, ist die Hände zu ringen. Er wendet sich an mein anderes Kind.

„Lass uns allein.“ sagt er, und mein kleiner Sohn rutscht von seinem Stuhl und flüchtet aus dem Zimmer.

Er kommt langsam zu mir herüber, bleibt dicht hinter mir stehen und legt seine Hände auf meine Schultern. Sein Atem streicht unregelmäßig über meinen Nacken.

„Ich glaube, meine Herrin,“ sagt er endlich, die Stimme allzu sanft und gemessen.„dass ich sehr wenig von dir verlange.“

Schweigen.

„Aber dafür zu sorgen, dass in diesem Hause alles seinen glatten Gang geht, ist deine Pflicht, würde ich sagen. Eine solche Unordnung stört mich. Ist das recht von dir, Finduilas, was denkst du?“

Früher hätte ich vielleicht geantwortet, hätte eine Erklärung angeboten, aber mein Gemahl hat eine seltsame Art, mit Worten umzugehen – was immer ich sagen würde, und so vernünftig es auch klänge, er würde dafür sorgen, dass es meine Schuld nur umso deutlicher beweist. Ich lasse den Kopf sinken.

„Ist das recht, Finduilas?“ Seine Hände auf meinen Schultern zittern, während sich ihr Griff - nur ein wenig - verstärkt.

Ich schüttele den Kopf. Und wirklich, er sagt die Wahrheit, denn wenn es nicht meine Pflicht ist, den Frieden in unserem Heim zu bewahren, wessen dann? Meine Pflicht meinem Herrn gegenüber – ja, und auch Gondor gegenüber, denn auch hier regiert er, und er trägt eine schwere Last, die ich ihm erleichtern sollte, anstatt sie zu verstärken.

Er stößt mich von sich, und dann verlässt er den Raum. Ich höre, wie sich seine Stimme kurz im Gang erhebt und wie seine Schritte sich entfernen – und dann schlägt eine Tür zu und alles wird still. Ich lasse mich auf meinen Stuhl sinken und schließe die Augen.

Ich habe Sehnsucht nach der See, ich sehne mich nach dem Sand... weit fort zu sein von all dem Stein und der aufsteigenden Dunkelheit. Ich würde alles, was ich bin, dafür geben. So viel – zuviel – hängt von uns ab. Ich allein bin es, der er sich in der Nacht zuwendet, ich allein sehe – und lindere – seine Tränen. Ich würde dies tun, so gut ich kann, aber ich fürchte, ich habe nicht genug Kraft, ihn zu ertragen, ihn und das, was ihn aufzehrt.

Dann also meine Söhne, meine Söhne – ich bin hier um meiner Söhne willen, um sie zu lieben, um sie zu... schützen...

„Mama?“

Ich öffne die Augen.

„Mein Kleiner...!“ Ich strecke meine Hand nach ihm aus und er kommt zu mir, sein Gesicht von solch feierlichem Ernst, dass ich trotz allem beinahe lachen muss. Und dann entdecke ich es – im schwachen Licht habe ich es zuerst fälschlicherweise für einen Schatten gehalten – es wird schon dunkler auf seiner Wange, die bisher immer vollkommen blass war. Ich berühre die Stelle sanft mit dem Finger, aber er weicht zurück.

„Wie hast du...“ beginne ich, aber die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Wir starren einander an - beide schweigend, beide wissend – und dann klettert er mir auf den Schoß. Mühselig helfe ich ihm hinauf und dann, immer noch wortlos, seufzt er und wird schwer in meinen Armen. Später schläft er ein, ohne sich ein Lied von mir zu wünschen.

Als ich den Trank zubereite, der mir den Schlaf bringen soll, glaube ich, wieder die scharfen, klagenden Schreie der Möwen zu hören. In dieser Nacht werde ich ruhig schlafen... so wie in allen Nächten, die noch kommen werden.


ENDE


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