Aus heiterem Himmel (Out of the Blue)
von Jael, übersetzt von Cúthalion


Epilog:
Mitten ins Schwarze

Jane Jankowski blickte zu der großen Spiegelglasscheibe mit dem Neon-Kleeblatt hinauf, und dann wieder auf die Adresse hinunter, die in elegant gerundeter Kursivschrift auf die Rückseite einer Visitenkarte in ihrer Hand geschrieben stand. Ja, das war der richtige Ort.

„Unbegründet.“ Die Worte hatten sich auf ihrer Zunge so süß angefühlt wie Linda Singers Maisbrot, als sie ihren fertigen Bericht am Montagmorgen auf Dougs Schreibtisch fallen ließ.

„Duncan und Fitzhugh werden enttäuscht sein.“

„Als ob mich das einen Scheißdreck interessieren würde.“

Doug hatte die Stirn gerunzelt. „Bist du sicher, dass es da nichts zu sehen gibt?“

„Oh, da gibt’s jede Menge zu sehen, allerdings. Rivers und seine Leute kommen einem schon ganz schön merkwürdig vor. Aber das Kind ist glücklich, Doug. Es ist nicht mein Job, daran etwas zu ändern.“ Jane warf Doug einen Blick zu, der anzeigte, dass sie es ernst meinte. „Nun, wenn es dir nichts ausmacht – da gibt es ein paar Kinder, die wirklich meine Hilfe brauchen.“

Jane war kurz an ihren Schreibtisch zurückgekehrt, um einen kleinen Rest Arbeit zu beenden. Obwohl sie von Galens Sicherheit überzeugt war, hatte es da diese verstörende Bemerkung über die einstürzenden Türme gegeben. So sehr sie auch zögerte, Duncan und Fitzhugh noch mehr Munition zu verschaffen, sie fühlte sich nach wie vor unbehaglich dabei, die Sache für sich zu behalten. Eine rasche Google-Suche mit Aaron Rivers Namen förderte eine Liste seiner bevorzugten Wohltätigkeitsorganisationen zu Tage. Die ACLU und Amnesty International mochten manchen Kopfzerbrechen bereiten, vor allem seinen beiden Racheengeln von der Regierung, aber die anderen – Greenpeace, der Sierra Club, das Helfer-Projekt und eine Unzahl von Frauenhäusern und Obdachlosenheimen in der Gegen von Chicago, was nur der Anfang war – all das ließ vermuten, dass dieser Mann kein Terrorist war.

Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, fragte sich Jane mit einem zornigen, kleinen Kopfschütteln. Sollten Duncan und Fitzhugh doch weiterbuddeln, wenn sie so sicher waren, dass es da etwas zu finden gab, aber Jane würde nicht diejenige sein, die ihnen dabei half. Sie steckte ihre handschriftlichen Notizen zusätzlich in den Aktenvernichter und lächelte mit finsterer Befriedigung, während sie zusah, wie sie sich in Konfetti verwandelten. 

Von da aus hatte sich der Tag so weiter entwickelt, als käme er aus der Hölle, und Jane spähte zu dem Heineken-Zeichen hinauf, das neben dem grünen Neon-Kleeblatt im Fenster der kleinen Bar leuchtete. Ein Bier kam ihr jetzt gerade recht, und sie fragte sich, ob die vielleicht auch ein dunkles Ale im Zapfhahn hatten. 

Ihr erster Fall war ein Vierjähriger gewesen, dessen Mutter ihm die Hand auf ein heißes Bügeleisen gedrückt hatte, um „ihm den Teufel auszutreiben“. Als seine neue Pflegemutter ihn untersuchte, hatte sie auch noch andere Blessuren an ihm entdeckt. Das war ein Kinderspiel gewesen.

Der zweite Fall bescherte ihr nach wie vor leichtes Unbehagen; eine junge Frau, die sich immer noch körperlich und seelisch von einem Autounfall erholte, der ihren Ehemann getötet hatte. Der Kinderschutzdienst war von ihrem Kinderarzt auf die Sache aufmerksam gemacht worden, weil ihre sechs Monate alte Tochter, die als Resultat des selben Unfalls zwei Monate zu früh geboren worden war, nur halb das Gewicht zugelegt hatte, das sie hätte zunehmen müssen, seit man sie vor vier Monaten aus der Frühgeborenen-Station entlassen hatte. 

Jane seufzte angesichts der Scheuklappen-„Weisheit“ dieser medizinischen Profis, die mit den besten Absichten ihr Äußerstes taten, in die Mutter-Kind-Bindung einzugreifen und die dann fröhlich eine Fremde in die Arme einer anderen Fremden legten, die beiden nach Hause schickten und das Beste hofften. 

Jane hätte Zorn verspüren sollen, aber sie konnte für diese junge Frau nur Mitleid aufbringen. Das Appartement war noch sauber gewesen – Jane suchte nach dem richtigen Wort und landete bei „kalt“ – obwohl der Thermostat dauerhaft auf 22 °C eingestellt war. Alles schien in Ordnung zu sein, abgesehen von der merkwürdig apathischen Reaktion der Mutter auf die wenigen, schwachen Schreie, die ihre Tochter von sich gegeben hatte. Sie fütterte das Kind und hielt es im Arm, aber währenddessen starrten ihre Augen lustlos ins Leere.

Der Rest Leben war aus diesen Augen verschwunden, als Jane sie darüber informierte, dass ihr Kind aus Dringlichkeitsgründen aus der anhängigen, psychologischen Heim-Beurteilung entfernt wurde. Jane hatte gedacht, gegen die Kümmernisse dieses Jobs abgehärtet zu sein, aber trotzdem hatte sie die Tränen in ihren eigenen Augen wegblinzeln müssen, als sie das kleine Mädchen hinunter zu ihrem Auto trug. Vielleicht habe ich dieser Frau den Rest gegeben, indem ich versuche, den letzten Rest Leben ihrer Tochter zu retten, sagte sie sich betrübt, als sie das Kleine in die Babyschale setzte und sie auf dem Rücksitz festschnallte.

Jane hatte noch immer die schwache Hoffnung auf ein Happy End für Mutter und Kind, wenn man die beiden anständig betreute und beriet. Aber es gab so viele Leute, die Hilfe brauchten, und so wenige Quellen in diesen Zeiten ausgehöhlter Steueraufkommen und gestutzter Budgets. Dieser Job wird mich am Ende noch mal umbringen, dachte sie und freute sich nur noch mehr auf das Bier.

Nachdem sie die Adresse bestätigt hatte, steckte sie die Visitenkarte wieder in die Tasche und lächelte trotz ihrer niedergeschlagenen Stimmung, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie durchsichtig der Eifer von Hal gewesen war, als er ihr nicht nur seine Handy- , sondern auch seine Festnetznummer von zu Hause und aus der Firma gab, und obendrein die Adresse dieses kleinen Pubs in einer stillen Seitenstraße, nur ein paar Blocks vom Ring entfernt.

„Ich bin fast jeden Abend da“, hatte er ernsthaft gesagt, „aber an den Montagen ganz sicher, denn das ist die Nacht, in der Rudy Fahrdienst hat.“ Und dann hatte er hoffnungsvoll hinter ihr her gestarrt, als sie zu ihrem Auto ging und wegfuhr. Dieses Mal hatte er nicht einmal auf ihren Hintern geschaut.

Jane legte ihre Hand auf den Messinggriff des Vordereinganges. Neben einem säuberlich in Goldbuchstaben geschriebenen Die Harfe (Seit 1956) entdeckte sie ein „Rauchen verboten“-Schild, das innen an das Glas geklebt worden war. Merkwürdig für Chicago, sagte sie sich und zog die Tür auf.

Merkwürdig, aber nett. Ein Aroma, das dem üblichen Kneipenmief nach schalem Bier und Zigarettenrauch ganz unähnlich war, wehte ihr entgegen, als sie eintrat. Die Harfe roch schwach nach Weihrauch und einem ganz leichten Hauch von frisch gefallenem Regen; Jane atmete tief ein und spürte, wie sich ihre Lebensgeister hoben. Ein Mann in mittleren Jahren hinter der Bar, das rote Haar weiß gesträhnt, lächelte zur Begrüßung. Weiter hinten im Raum stand Glenn Butler neben einer altmodischen Wurlitzer-Jukebox, ein Getränk in der Hand, während seine Frau über ihren Billard-Queue gebeugt stand und einen schwierigen Stoß vorbereitete. In einer Nische in der Ecke streckte sich eine blasse Hand aus den Schatten, um den Stiel eines Glases mit dunklem Rotwein geschlossen.

Und am Ende der Bar stand Hal; sein Gesicht leuchtete auf, als er sie erkannte, während sie den Raum betrat. „Sie sind gekommen!“ formte sein Mund, mit einem Lächeln überraschten Entzückens.

Jane erwiderte das Lächeln. In die Harfe zu kommen fühlte sich an, als käme sie nach Hause, obwohl sie keine Erklärung dafür hatte, warum das so sein sollte. Sie folgte Glenns gutem Rat und versuchte nicht, es zu entschlüsseln: sie nahm es einfach hin.

Erstaunlich, was für schöne Überraschungen das Leben für dich in petto hat, sagte sie sich, als sie zu Hal hinüber ging, wenn du den Mut hast, den Weg zu verlassen.

*****


It's better to burn out
than it is to rust . . . ."
(
Neil Young, 'Out of the Blue and Into the Black')


ENDE


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