Aus heiterem Himmel (Out of the Blue)
von Jael, übersetzt von Cúthalion


„It's better to burn out
Than to fade away . . . ."

(„My My, Hey Hey”/ Neil Young)


Prolog
Aus heiterem Himmel

Jane Jankowski brachte ihren rostigen, sechs Jahre alten Kia, den sie wegen der hohen Meilenzahl auf dem Tacho für einen Appel und ein Ei gekauft hatte, draußen vor dem hohen, schmiedeeisernen Gitter zum Stehen und machte die Zündung aus. „Wieso ich?“ seufzte sie.

„Weil du die Beste für den Job bist.“

Das war, was ihr Boss gesagt hatte, spät am vorangegangenen Nachmittag, nachdem er sie für eine seiner privaten „Plaudereien“ in sein Büro gerufen hatte. „Dieser Fall braucht… Finesse, und wenn ich an das Wort ,Takt’ denke, dann fällst du mir ein, Janey.“

Jane war so empfänglich für Schmeichelei wie jeder andere, aber sie roch den Braten trotzdem. Sie zog ihrem Boss eine ironische Grimasse. „Also schön, Doug, wo ist der Haken?“

Man hätte Doug Schmidt als gutaussehend beschreiben können – zwei Wochen lang in seinem Abschlussjahr auf der Highschool, zwischen dem Moment, in der die Akne verschwand und der Zeit, in der sich der Schmerbauch zu entwickeln und der Haaransatz zurückzuweichen begann. Fünfundzwanzig Jahre Kampf darum, mit seinem niedrigen Beamtengehalt im öffentlichen Dienst auszukommen und der in letzter Zeit dazu gekommene Stress, zwei Töchter zu haben, die ihr College-Geld brauchten, hatte die Dinge nicht besser gemacht. Wie auch immer, Jane hatte eine Schwäche für ihn. In zwanzig Jahren bin ich das, sagte sie sich. Eine allein stehende Frau in ihren mittleren Jahren mit einem nicht vorhandenen Wertpapier-Depot für die Rente und einem Kopf voll grauer Haare. Außer dass ich anstatt der Töchter eine Katze haben werde. Zur Hölle, dachte sie, sie würde vielleicht alle Vorsicht in den Wind schlagen und sich zwei Katzen zulegen.

„Was für ein Haken?“ sagte Doug unschuldig. „Kein Haken – bloß eine nette, stimmungsvolle Tour raus nach Lake Forest. Dein Kia kommt mit einer Tankfüllung Sprit noch am weitesten von uns allen. Und ich weiß, du bist nicht der Typ, der sich von viel Geld einschüchtern lässt.“

Jane verdrehte die Augen. Wohl kaum! In ihren acht Jahren als Sachbearbeiterin des Kinderschutzdienstes hatte sie gelernt, dass die Reichen in dieser Beziehung nicht anders waren als die allgemeine Bevölkerung. Ihre Kinder konnten genauso übel missbraucht werden. Jane hatte Striemen gesehen, die von Gucci-Gürteln stammten und emotional gestörte Jugendliche, die in den Schlafzimmern von Eineinhalb-Millionen-Landsitzen eingesperrt waren. Der einzige Unterschied war der, dass Leute mit Geld unglaublich empfindlich sein konnten, und sie besaßen die Mittel, ihrer Berufsgruppe die Arbeit sehr unerfreulich zu machen, wenn man nicht behutsam vorging. Kein Wunder, dass ihr Boss das Bedürfnis nach Diplomatie empfand.

„Gib mir die Akte, Doug.“ Sie nahm den Papierstapel und blätterte ihn durch. Name: ein gewisser Galen Ernilson. Die Geburtsurkunde in der Akte wies Lake County, Illinois aus. Eltern: Leif Aransen und Linda Singer, keine Heiratsurkunde aufgeführt. Heutzutage brachten dieser Mangel und die verschiedenen Nachnamen der Eltern kaum noch jemanden dazu, die Augenbrauen hochzuziehen, aber Jane merkte sich diese Kleinigkeit für später vor. Manchmal trug jedes kleine Detail etwas zu einem größeren Bild bei.

Wenn es nach den Beschwerdeführern ging – die als „Agenten“ Angus Duncan und James Fitzhugh aufgelistet waren – dann war das gefährdete Kind zu Hause geboren worden und wurde dort auch unterrichtet. Wieder runzelte Jane die Stirn und machte sich eine geistige Notiz. Sie kannte viele ausgezeichnete und hingebungsvolle Eltern, die ihre Kinder daheim unterrichteten, aber ein Kind, das nie mit der Außenwelt in Berührung kam, konnte in den falschen Händen ein Rezept für eine Katastrophe sein. Die Akte nannte eine Adresse in Lake Forest und merkte an, dass das fragliche Kind bei seinem Großvater väterlicherseits lebte…

„Um Gottes Willen, Doug, machst du Witze?“ Sie starrte ihren Boss an. „Aaron Rivers?“

Er zuckte die Achseln. „Das war der Name auf der Anzeige.“

„DER Aaron Rivers? Mit dem Juwelenhandel und der Frachtschiff-Flotte und dem ganzen Grundbesitz in der Innenstadt? Dieser Aaron Rivers?“

„Ja, das ist er.“ Doug schaute so unglücklich drein, wie Jane sich fühlte. „Sie müssen zugeben, er ist… ungewöhnlich. Nach dem, was ich gelesen habe, leitet er seine Firma wie eine Art verrückten Kult. Ein Rudel langhaariger Hippietypen in allen Spitzenpositionen. Auf seinen eigenen Wunsch gibt es keine Fotos von ihm oder seiner Familie. Irgend so ein religiöses Dingsbums, glaube ich.“

„Er treibt sich auf der Hälfte der Wohltätigkeits-Veranstaltungen in Nord-Illinois herum“, protestierte Jane. „Wie vermeidet er es, dass jemand ein Bild von ihm macht?“

„Wenn die sein Geld wollen, dann halten sie ihn bei Laune“, sagte Doug. „Aber wenn es jemand vergisst und ein Photo schießt, dann wird der Photograph ausbezahlt. Das funktioniert üblicherweise, aber Duncan hat mir gesagt, dass seine Sicherheitsdeppen letztes Jahr die Kamera von einem Paparazzo zerstört haben, der nicht mit sich handeln lassen wollte. Wenn Sie mich fragen, dann klingt der Junge, als wäre er total plemplem.“

„Exzentrisch, Doug,“ sagte sie. „Jeder mit so viel Geld wie Rivers ist exzentrisch, nicht plemplem.“

„Nenn ihn, wie du willst, aber dieser Fall ist heikel. Dem Kerl gehört halb Chicago, und die Sache könnte uns in den Arsch beißen, wenn wir sie nicht diskret behandeln.“

„Wieso sollen wir uns dann bloß wegen ein paar vager Verdächtigungen Ärger einhandeln? Ich sehe hier drin nichts, was andeuten könnte, dass das Enkelkind missbraucht oder vernachlässigt wird. Rivers ist mir immer schon mehr wie ein Bill Gates als ein David Koresh-Typ vorgekommen. Nebenbei, du übertreibst: ihm gehört bloß ein Zehntel von Chicago.“ (1)

Doug zog ein Gesicht. „Duncan und Fitzhugh schienen mir sehr… beharrlich zu sein.“

Jane hob eine Augenbraue. „Korrigier mich, aber ist das nicht dein Codewort für ,das sind Arschlöcher’?“

„Das hast du gesagt, nicht ich.“

„Na wunderbar! Jetzt stecke ich zwischen Hammer und Amboss – entweder mache ich einen Reichen wütend, oder ich habe zwei Regierungs-Spione im Nacken, weil ich meine Pflichten vernachlässige. Seit wann geben wir einer Erpressung nach und verfolgen unschuldige Bürger?“

„Möglicherweise nicht so ganz unschuldig“, sagte Doug. „Rivers hat sich vor etwa acht Jahren bei irgendeiner Sache mit der Ausländerbehörde die Finger verbrannt. Ich habe das Gefühl, dass Duncan und Fitzhugh auch damals dahinter gesteckt haben, aber es blieb nichts hängen. Bei dem Kerl ist eindeutig irgendetwas faul. Geldwäsche vielleicht?“

„Dann ist er also eher Vito Corleone als David Koresh. Was hat das mit uns zu tun?“ (2)

„Es kann für das Kind nicht gesund sein. Weißt du, Rivers’ gesamte Familie und seine Mitarbeiter scheinen alle da oben auf diesem abgeschlossenen Gelände in Lake Forest zu hausen, in so einer Art Kommune.“ Doug hielt inne, um Luft zu holen. „Ich will dir eins erzählen, was Duncan und Fitzhugh mir gesagt haben, und meine eigenen Untersuchungen haben es bestätigt – das Kind hat in seinem ganzen Leben noch keinen Arzt gesehen.“

Jane runzelte die Stirn. „Hmmm… du hast Recht. Das ist merkwürdig. Entschieden etwas, das überprüft werden muss.” Keine Schutzimpfung, und das heutzutage! Masern, Mumps, Windpocken – höchst wahrscheinlich auch keine Behandlung mit Fluor. Das arme Kind war vermutlich nicht einmal beschnitten!

„Alles, worum ich dich bitte, Jane, ist dass du dort hinauffährst, einen Blick auf das häusliche Leben wirfst und schaust, was du über diesen Jungen herausfinden kannst, den scheinbar noch nie jemand gesehen hat. Ist das so schwer?“

Jane gestattete sich den Luxus, an einem Tag zum zweiten Mal die Augen zu verdrehen. „Natürlich nicht. Es ist ein Kinderspiel. Also, warum – wenn ich fragen darf – schickst du dann nicht Martha oder Kate?“ sagte sie, wobei sie sich auf ihre beiden Vorgesetzen bezog, beides altgediente Jugendamtsmitarbeiterinnen.

„Weil du clever bist, Jane,“ sagte Doug. „Und du bist noch nicht ausgebrannt. Du hakst die Fälle nicht nach Schema F ab. Wenn es da irgendetwas zu sehen gibt, dann siehst du’s.“

„Wenn du das so ausdrücken willst, Doug…“ seufzte sie.

„Ja, so will ich das ausdrücken“, lächelte Doug. „Janey, du bist mein Mädchen.“

„Ich mache eine Tour dort hinaus, morgen früh. Es ist Wochenende – sie sollten alle zu Hause sein.“ Sie hielt inne, die Hand an der Tür. „Und – Doug? Ich bin nicht dein Mädchen. Ich bin das Mädchen von niemandem.”

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(1) David Koresh war ein selbsternannter Messias, der 1993 bei einer Belagerung seines Geländes „Mount Karmel“ bei Waco/ Texas durch das FBI mit 72 Anhängern uns Leben kam.

(2) Vito Corleone – Sohn des Paten aus dem Mafia-Epos „Der Pate“ (gespielt von Al Pacino)


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