Hüter des Auenlandes
von Cúthalion

Die Westmark, im Jahre 2433

Klein Elanor (benannt nach Elanor der Schönen, Tochter des legendären Bürgermeisters Sam Gärtner) lag jetzt schon beinahe eine Woche im Bett. Es hatte mit einem Schniefen angefangen und sich dann mit einer schmerzhaften Enge in ihrer Kehle fortgesetzt – und nun schien jeder neue Hustenanfall ihren Körper zu zerreißen. Ihre Mutter, Primula Boffin, hatte einen neuen Sirup mit Spitzwegerich ausprobiert, aber bis jetzt half er nicht.

Und so saß sie neben dem Bett ihrer kleinen Tochter, hielt ihre fieberheiße Hand und summte die Wiegenlieder, die sie schon Elanors vier großen Brüdern vorgesungen hatte, als die noch klein waren.

Sie lebten in der Nähe von Untertürmen. Klein Elanors berühmte Namensvetterin hatte die Hobbitsiedlung vor fast tausend Jahren zwischen dem Mittelpunkt des Auenlandes und dem Rand des Meeres gegründet, nach dem Alten Krieg. Seither hatten alle Kinder die uralten Namen gelernt, die ihnen in den Ohren klangen wie aufregende Musik, und die jedermann vertraut waren: Frodo Beutlin, der Ringträger, der einen Finger verloren hatte, als er den Ring des Großen Feindes zerstörte. Sein Gärtner Sam Gamdschie, der im Auenland blieb, als sein Herr endgültig fortging, und der der Ahnherr einer Familie wurde, die im Heimatland aller Hobbits noch immer bedeutend und wohl bekannt war. Da waren Meriadoc Brandybock, der legendäre Herr von Bockland, dessen Nachfahre noch immer im Brandyschloss das Regiment führte, und sein Vetter Peregrin Tuk, der nicht weniger ruhmreiche Thain. Die Gräber von beiden lagen in einem weit entfernten Land, in Gondor, wo heutzutage Isildur II. König war. Sein Vorfahr Aragorn, König vieler Namen, hatte die letzte Schlacht gegen den Großen Feind geschlagen, bevor Frodo der Ringträger den Ring in den Berg warf, während er mit einem unaussprechlich angsteinflößenden Geschöpf kämpfte, das Sméagol hieß.

In den Jahren, die darauf folgten, blühte und gedieh das Auenland, doch noch einmal ein Jahrhundert später gab es neue Feinde, die Mord und Zerstörung brachten und auf Eroberung aus waren. Es war zu dieser Zeit, dass der Hüter erschien; als neuer Befehlshaber über die Soldaten des Königs schlug er die Feinde zurück und brachte einen lang andauernden Frieden. Und mit ihm kam die Heilerin, seine Frau, und ihre Nachkommen schützten das Auenland bis zum heutigen Tag. ---

Die kleinen Finger in Primulas Hand wurden schlaff, als Elanor einschlief. Primula beugte sich vor und küsste die Stirn unter den schweißfeuchten Locken. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

„Der Husten wird überhaupt nicht besser,“ sagte sie zu ihrem Mann, „und das Fieber steigt immer noch.“

Bargo Boffin zündete seine Pfeife an und sprach durch eine aromatische, blaue Rauchwolke. „Der Hüter wird morgen hier sein. Und ich bin sicher, die Heilerin ist bei ihm. Sie nehmen die Straße zu diesem alten Elbenhafen, wie jedes Jahr, um sich an ihre Freunde zu erinnern, die nach Westen gegangen sind, und um ihnen die Ehre zu geben.“

„Das sind gute Nachrichten, Schatz!“ erwiderte Primula; eine schwere Last hob sich plötzlich von ihrem Herzen. „Ich bin sicher, die Heilerin weiß, was man tun muss.“

*****

Krank zu sein war gar nicht schön; Elanor wälzte sich auf dem zerknitterten Laken hin und her, und das Kissen unter ihrem Kopf fühlte sich an wie ein harter Klumpen. Sie wollte hinaus aus ihrer stickigen Kammer, wie wollte hinaus und auf dem grünen Gras laufen; gemeinsam mit ihren Brüdern war es ihr sogar einmal gelungen, der Aufsicht ihrer Mama zu entschlüpfen, und sie war bis zu den Elbentürmen auf den Hügeln gekommen – ein Abenteuer, das sie nie wieder vergaß. Sie wollte so gern das Meer sehen.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und sie hörte die Stimmer ihrer Mutter. „Hier drin ist sie, Herrin. Ich bin froh, dass du gekommen bist.“

Sie wandte den Kopf und sah, wie sich eine Gestalt unter dem niedrigen Türsturz hindurch duckte. Es war eine Frau, aber kein Hobbit: Elanor hatte sie noch nie zuvor gesehen. Langes Haar, glatt und schimmernd wie weißes Mondlicht, fiel ihr über die Schultern bis fast hinunter zur Hüfte, und das Licht der Lampe beschien ihre rechte Gesichtshälfte; es offenbarte Züge, die so fein und edel waren wie eine Kamee.

Elanor starrte, den Mund halb offen; sie sah zu, wie die unbekannte Besucherin näher kam und sich neben ihrem Bett hin kauerte.

„Lass mich sehen, kleiner Wilwarin.“ Die Stimme der Frau war erstaunlich dunkel, voll und süß wie Honig. Elanor schaute zu, wie lange, schlanke Finger ihr Baumwollnachthemd aufknöpften, und dann berührte ein kleines Hörrohr aus Holz ihre Haut und ließ sie zusammen schaudern.

„Hat sie viel Schleim abgehustet?“ fragte die Frau.

„Ja, Herrin,“ antwortete ihre Mutter.

„Sehr gut.“ Ihr Nachthemd wurde wieder zu geknöpft, und die Frau straffte den Rücken. „Ich habe etwas Mohnessenz mitgebracht. Sie muss zwei Löffel davon nehmen, zusammen mit etwas Süßem zu trinken; dann sollte sie das Fieber fortschlafen können und die Ruhe bekommen, die sie nötig hat.“

Die Fremde wandte den Kopf, und jetzt konnte Elanor die andere Seite ihres Gesichtes sehen; eine Masse alter Narben zeichnete die Wange und zog sich bis zu ihrem Kinn hinunter und zur Schläfe hinauf, wo sie unter dem silbrig weißen Haar verschwand. Nur das Ohr war unversehrt, spitz zulaufend und so durchscheinend wie eine Seemuschel. Das kleine Mädchen schnappte kurz nach Luft, aber der kleine Schrecken löste sich beinahe sofort in großer Erregung auf.

„Ohhh – du bist die Heilerin!“ sagte sie mit einer kleinen, heiseren Stimme. „Frau Schönkind hat uns von dir erzählt, und du bist die Frau des Hüters, nicht?“

„Ja, das bin ich wirklich.“ Die Besucherin streichelte mit einer kühlen Hand ihre Wange. „Und nach einer Nacht mit genügend Schlaf solltest du hinaus gehen und die frische, salzige Luft einatmen. Wenn du deine Flügel ausbreiten darfst, mein kleiner Wilwarin, dann wirst du dich viel besser fühlen.“

„Bist du morgen noch da?“ fragte Elanor.

„Nein, das glaube ich nicht.“ Die Frau stand auf. „Aber ich werde in drei Tagen wieder von den Anfurten zurück sein, und dann sehen wir uns vielleicht wieder.“

Sie war schon fast zur Tür hinaus, als die Stimme des kleinen Mädchens sie zurückhielt.

„Darf ich dich was fragen?“

„Was denn?"

„Wie fühlt sich das an, wenn man mehr als tausend Jahre den gleichen Mann hat?“

„Elanor!“ Primula Boffin erstarrte vor Schreck, aber auf dem Gesicht der Heilerin breitete sich ein Lächeln aus und leuchtete in ihren dunklen Augen.

„Es ist wundervoll, wenn du klug genug bist, den richtigen Gefährten zu wählen,“ erwiderte sie; Belustigung und Freude klangen in ihrer Stimme wider. „Und das habe ich ganz gewiss getan.“

*****

Drei Tage später war Elanor endlich aus dem Bett. Sie spielte auf dem Weg vor ihrem Smial, in eine warme Strickjacke und einen langen Schal eingemummelt. Die Luft war frisch und klar, rein gewaschen von einem langen Regen, und die Sonne näherte sich langsam in einem Feuerwerk aus Gold, Karmesin und Rosenrot dem Horizont.

Plötzlich hörte sie das Geräusch von Füßen und Hufen, die auf sie zu kamen; sie hob den Kopf und sah vier Soldaten in der Tracht von Gondor. Sie ritten in ihre Richtung, mit offenen Visieren, den Blick starr geradeaus gerichtet. Hinter ihnen kam ein gefleckter Apfelschimmel; seine zierlichen Hufe tanzten den grasigen Pfad entlang. Auf seinem Rücken saß die Heilerin. Die Kapuze ihres langen, dunklen Umhangs war herunter gestreift, und das mondweiße Haar flatterte ihr in feinen Strähnen um das schmale Gesicht. Neben ihr, eine starke, dunkle Hand auf der Kruppe ihres Pferdes, ging eine kräftige Gestalt in einem schwarzsilbernen Harnisch. Elanor sah ein graues Gesicht, viele sauber geflochtene Zöpfe und durchdringende, schwarze Augen. Sie stand da, ohne sich zu rühren, und starrte voller Staunen.

Sie erwachte erst wieder aus ihrer Reglosigkeit, als die Soldaten schon an ihr vorüber waren.

„Herrin!“ rief sie mit einer hellen, aufgeregten Stimme, und sie winkte mit beiden Händen. Die Soldaten blieben sofort stehen, und der dunkle Begleiter der Herrin packte die Zügel des Apfelschimmels und wandte den Kopf in ihre Richtung.

Es war das erste Mal, dass Elanor ihm begegnete, und natürlich wusste sie, wer das war – wie konnte sie auch nicht? Lieder wurden über ihn gesungen – über den Orkkrieger, der den Ringträger traf, als er unterwegs war, um die verbrannten und vergifteten Länder des Ostens zu heilen, von ihrer wundersamen Freundschaft und dem berühmten Juwel der Elbenkönigin, den er nach tausend Jahren der Bewahrung und Fürsorge für das Auenland noch immer um den Hals trug.

Seine Stirn wich über schweren Brauen, einer flachen Nase und einem kräftigen Kinn nach hinten. Brust und Bauch waren über den krummen Beinen so breit und rund wie ein Fass. Seine Füße steckten in Lederstiefeln, die Fingernägel seiner bloßen Hände waren kurz geschnitten. Es war nichts Lächerliches an ihm, und nichts, was ihr Angst einjagte. Viele Jahre geduldiger Lehrstunden für mehr als zehn Hobbitgenerationen zahlten sich aus; sie betrachtete ihn gänzlich ohne Furcht, doch voller Faszination.

„Ist das die Kleine, der du den Mohnsirup gegeben hast, Melethril?“ fragte er mit einer Stimme, die tief aus seiner Brust gerumpelt kam.

„Ja.“ Die Heilerin lächelte und glitt mit leichter Anmut aus dem Sattel ihres Apfelschimmels. „Wie geht es dir heute, Wilwarin?“

„Mir geht’s gut!“ Doch Elanors Blick ruhte noch immer auf dem Hüter, und ohne nachzudenken platzte sie mit der einen Frage heraus, die ihr auf der Zunge lag, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

„Trägst du den Edelstein wirklich immer noch?“

Der Hüter machte ein paar Schritte auf sie zu und bückte sich; er war nicht so hoch gewachsen wie das Große Volk, doch immer noch groß genug für ein zehnjähriges Hobbitmädchen. Dann langte er hinter seinen schwarzen Harnisch und zog eine lange, glitzernde Kette heraus. Elanor sah den großen, weißen Juwel, der die letzten Sonnenstrahlen einfing und aufflammte wie eine Sternschnuppe, und ihre Augen wurden riesig.

„Und der Ringträger hat ihn dir geschenkt?“ flüsterte sie. Der Edelstein versprühte Regenbogenfunken über ihre Hände und ihr Gesicht, und dann begegneten ihre Augen denen des Hüters, und sie lächelten sich an.

„Ja, hat er. Er war mein Schildbruder und mein Kümmerling, und er hat ihn mir gegeben.“

„Dein Kümmerling?“ Elanor kicherte. „Warum nennst du ihn denn so?“

Der Hüter lachte. „Weil er so winzig war, meine Kleine. Fast so winzig wie du. Kennst du viele Geschichten über ihn?“

„Ich weiß, er hat den Ring des Großen Feindes in das Feuer geworfen,“ erwiderte Elanor, eifrig darauf bedacht, ihm zu gefallen. „Ich weiß, er durfte nicht zusammen mit den Elbenherren in den Westen segeln. Und ich weiß, dass er in den Osten ging, um das Land gesund zu machen, zusammen mit dem Vogelzähmer.“

„Der – ach, du meinst Radagast!“ Der Hüter lachte laut und bellend. „Ich wette, das hätte dem alten Mann gefallen!“

In diesem Moment kam Primula aus dem Smial.

„Fällt meine Tochter dir lästig?“ fragte sie mit einiger Besorgnis. „Elanor, du solltest hinein gehen und dich hinlegen.“

„Nein, gute Frau, sie fällt mir ganz sicher nicht zur Last,“ erwiderte der Hüter mit echter Freundlichkeit. „Und ich denke, es gibt noch mehr Geschichten zu erzählen. Wenn es dir nichts ausmacht, dann würden wir gern hier bleiben und dem jungen Fräulein ein paar Geschichten erzählen, die sie kennen sollte.“

„Oh!“ Elanor Mutter war ein wenig erschrocken, doch sie fasste sich rasch wieder. Keine wahre Hobbitfrau scheute vor der Herausforderung zurück, unerwartete Gäste zu bewirten, selbst wenn es sich um fleischgewordene Legenden der Auenlandgeschichte handelte.

„Natürlich, Herr. Möchtet ihr gerne herein kommen?“ fragte sie mit vollkommener Höflichkeit. Der Hüter lachte wieder.

„Nein, liebe Frau. Wir würden es vorziehen, draußen unter den Sternen zu bleiben, wenn du gestattest. Ich werde meine Wachen anweisen, ein Lager aufzuschlagen; sie haben genügend Vorräte in ihren Satteltaschen für ein gutes Abendessen. Und wenn du so freundlich wärst, für uns beide etwas zu Essen und zu Trinken heraus zu bringen?“

„Und eine weiche, arme Decke für die Kleine, auf der sie sitzen kann, und noch eine, um sie zuzudecken, so lange sie zuhören mag.“ fügte die Heilerin hinzu.

Eine Stunde später loderten helle Flammen in einer eisernen Feuerschale, und Primula und Bargo Boffin trugen Tabletts mit Essen ins Freie. Der Hüter und die Heilern genossen die Mahlzeit, und beide akzeptierten einen Becher von den Bier, das Bargo in seinem Keller braute. Und der Hüter erzählte Elanor und ihren Eltern Geschichten über Heilung und Hoffen, über Freude und Trauer, über Kämpfe, Gefahren und Bärenjagden, bis Elanor auf dem Schoß ihrer Mutter einschlummerte und von ihrem Vater hinein getragen wurde. Und noch immer sprach der Hüter, und Bargo und Primula lauschten mit offenen Mündern und großen Augen wie verzauberte Kinder, bis das Feuer herunter brannte und er schwieg.

Dann erhob die Heilerin ihre Stimme und sang, ein Lied voller Liebe und voll von der Trauer um alles, das verloren war, und von hart errungenem Frieden, und als das Lied zu Ende war, wischten sich Elanors Eltern die Tränen ab; sie verbeugten sich tief, gingen zu Bett und ließen ihre Gäste allein. Der Hüter legte sich auf die Decke und nahm die Heilerin in die Arme, und sie redeten leise miteinander, bis die Sterne verblassten und die rosigen Finger der Morgendämmerung sich über den Himmel ausstreckten.

*****

Als Elanor aufwachte, waren die letzten Überbleibsel ihrer Erkältung verschwunden. Sie schlüpfte so rasch in ihr Kleid, wie sie konnte, und rannte nach draußen.

Doch der Rasen vor dem Smial war leer, und die Soldaten waren fort, und mit ihnen ihre legendären Gäste. Die Luft war kühl und weich auf ihrem Gesicht, und sie schaute zu den Elbentürmen auf den Hügeln hinauf und sah, wie die Möwen sie umkreisten. Sie leuchteten strahlend weiß im frühen Sonnenschein.

„Aber ich hab sie gesehen,“ flüsterte Elanor, und ihre Augen glänzten. „Ich hab sie gesehen. Es gibt sie wirklich!“

Und sie wandte den Türmen den Rücken zu und ging wieder hinein. Ihr Herz war erfüllt von der lebhaften Erinnerung an Malawen, die wunderschönen Heilerin, und an den Ork der Königin Arwen, den Hüter des Auenlandes.

ENDE

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Wilwarin - Schmetterling
Melethril – meine Geliebte


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