Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 3:
Taubenflug

Sein Kopf schmerzte. Seine gesamte rechte Gesichtshälfte war taub, und er stöhnte in die völlige Finsternis hinein. Es war ein verängstigtes, gedämpftes Geräusch, erstickt von dem schmutzigen, zusammen geknüllten Stofffetzen zwischen seinen Zähnen.

Was... und wieso...?

Er hatte neben Herrn Frodo geschlafen, und ein angenehmer Traum hatte ihn nach Hobbingen zurückgetragen... dem Hobbingen seiner Kindheit, als der Ohm noch nicht vom Alter gebeugt war und Mama Bell noch über den Gamdschie-Haushalt regierte, ein verlässlicher Hafen von Lachen und unbeirrter Liebe, ständig umweht von den köstlichen Düften guter Küche. Er erinnerte sich, dass er über eine taunasse Wiese rannte, die glitzernde Schleife der Wässer vor sich zwischen den Stämmen von einem halben Dutzend frühlingsgrüner Bäume. Der Klang seiner eigenen Stimme – die Stimme eines kleinen Jungen, hoch und schrill – hallte noch immer in seinem Geist wider: Ham! Ham, wo bist du denn hin? Nich’ so schnell!

Er würgte, brachte es endlich fertig, den nassen Stoffklumpen auszuspucken und kämpfte gegen eine plötzliche Welle der Übelkeit. Noch immer versuchte er verzweifelt, den Gang der Ereignisse in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen – was immer schwieriger wurde, jetzt, da es in seinem Schädel hämmerte wie in einem riesigen, verfaulten Backenzahn.

Irgend etwas hatte ihn aus seinem friedlichen Schlaf und dem erinnerungsseligen Traum heraus gerissen... vielleicht das instinktive Wissen, dass Frodo weg war. Seit fast einem Jahr hatte sich fast jeder Gedanke in seinem Kopf darauf konzentriert, seinen Herrn zu beschützen, und jetzt reichte der bloße Verlust seiner Gegenwart aus, seine geschärften Sinne in Alarmbereitschaft zu versetzen. Er hatte seine Augen geöffnet und das leere Kissen neben sich gesehen, auf einmal hellwach... und plötzlich waren da schleifende Füße hinter ihm und ein heißer Atemhauch in seinem Nacken, und dann presste sich eine große Hand grob auf seinen Mund. Er schoss in Herrn Frodos Bett hoch, mit rudernden Armen und um sich tretenden Beinen, und ohne nachzudenken vergrub er seine Zähne in der schweißfeuchten Handfläche. Eine schrille Stimme zischte einen hässlichen Fluch und dann krachte etwas gegen seine Schläfe und schleuderte ihn in schwarze Bewusstlosigkeit hinein.

Wo war er? Wo hatten die ihn hin gebracht?

Sam tastete um sich herum; unter seinen suchenden Fingern befand sich solider Fels, kalt und ein wenig feucht. Er schloss die Augen und horchte auf irgend ein Zeichen, das ihm helfen mochte, sich zurecht zu finden; es war fast völlig still. Das einzige Geräusch, das er hören konnte, war das gleichmäßige Tröpfeln von Wasser. War es Tag oder Nacht? Er war nicht imstande, es heraus zu finden. Er schüttelte elend und ratlos den Kopf und versuchte, sich aufzusetzen; zu seiner Überraschung und seinem Schrecken wurden seine Bemühungen von Kettenrasseln begleitet. Jemand hatte dicke Handschellen um sein linkes Handgelenk und seinen linken Knöchel geschlagen. Er folgte den Kettengliedern mit der freien Hand, bis er die Wand berührte. Sie war zu uneben, um gemauert zu sein, aber er konnte rauen Putz unter der Handfläche fühlen. Keine Höhle... vielleicht ein Keller?

Er spürte einen plötzlichen Schwall der Dankbarkeit, dass der Ohm keine Ahnung hatte... er konnte nicht einmal damit anfangen, sich auszumalen, was sein Papa zu einer so gänzlich fremdartigen, scheußlichen Situation zu sagen hätte.

Vielleicht wär er ja sprachlos, wenigstens einmal, dachte er und spürte, wie sich sein Gesicht zu einem kleinen Grinsen entspannte. Samweis Gamdschie, aus einem Bett verschleppt, das doppelt so groß ist wie er selbst, mitten aus dem Haus eines Königs, und jetzt hockt er in der Mitte von Nirgendwo herum, an eine Wand gekettet wie Bauer Kattuns Zuchteber. Er könnte sich wohl kaum einen Reim darauf machen. Sein Grinsen verblasste. Genauso wenig wie ich.

Er hatte das sichere Gefühl, dass um Hilfe zu schreien oder gegen die Wand zu hämmern nicht helfen würde... abgesehen von der Tatsache, dass er seine verletzte Hand noch mehr schädigen konnte. Er tastete mit der heilen Linken nach dem Verband und runzelte die Stirn, als er feststellte, dass die Bandage, die vorher sauber und glatt um seine Finger lag, jetzt feucht und zerrissen war. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist eine hässliche Entzündung, dachte er mit einer Grimasse. Aus dem Regen in die Traufe, schon wieder. Du solltest dir besser was Sinnvolles einfallen lassen, Samweis Gamdschie, und zwar schnell.

Das Geräusch näher kommender Schritte von irgendwo zu seiner Linken ließ jeden Gedanken an einen Plan plötzlich schwinden. Er hörte das unmissverständliche Klirren von Schlüsseln, und dann öffnete sich eine Tür in der Finsternis und offenbarte zwei große – offenbar menschliche – Gestalten und das helle, rotgoldene Flackern von Fackeln. Es blieb keine Zeit mehr, sich wieder zu Boden sinken zu lassen und so zu tun, als wäre er noch bewusstlos; er saß da, blinzelte wie eine Eule und versuchte, so viel wahrzunehmen, wie er konnte, so lange das noch ging. Jetzt konnte er eine gleichmäßige Reihe von Gitterstäben sehen, die den Raum, in dem er gefangen saß, von einem anderen, größeren abteilte. Die Tür führte offenbar zu noch einem weiteren Raum; er sah flüchtig einen Tisch, einen Stuhl und ein halbes Dutzend Haken, zu groß, um für Mäntel gedacht zu sein. Sie erinnerten ihn an irgend etwas, aber ehe er darauf kam, was es war, trat einer der beiden Männer dicht an die Gitterstäbe heran und starrte auf ihn hinunter, einen leicht verächtlichen Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht.

„Dann wollen wir uns doch mal näher anschauen, was da zum Vorschein kommt, wenn der Kartoffelsack weg ist.“ Er schnaubte. „Also das ist der Ringträger, dessen edle Taten Mittelerde gerettet haben, wie alle behaupten. So ein Mickerling! Nicht sehr eindrucksvoll... um das Mindeste zu sagen.“

„Sei vorsichtig, wenn du ihm zu nahe kommst,“ gab der andere mit einer sauren Grimasse zurück; Sam erkannte die schrille Stimme sofort wieder und sah mit tiefer Genugtuung, das er nicht der einzige im Raum war, der eine verletzte Hand hatte. „Er beißt.“

Sam unterdrückte ein schwaches, triumphierendes Grinsen... und dann traf die Bemerkung de ersten Mannes ihn mit voller Wucht. Er blickte zu seinen Entführern auf und versuchte mühsam, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen.

Also das ist der Ringträger...

Er schloss die Augen; seine Gedanken waren ein Wirbel aus völliger Fassungslosigkeit, und für einen kurzen, atemlosen Moment spürte er weder das Hämmern in seinem Kopf noch den schwachen Schmerz in seinen verletzten Fingern.

Ach du liebes Bisschen – der meint mich!

*****

Als Aragorn eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang das Gästehaus erreichte, waren die Hobbits in der großen Küche versammelt. Frodo stand – scheinbar gedankenverloren – am Fenster; Pippin saß am Tisch und drehte müßig einen Apfel zwischen den Fingern, und Merry strich zwischen Feuerstelle und Tür hin und her. Kein Tee war aufgesetzt worden, kein Brot geröstet, und der König nahm diese Anzeichen nicht auf die leichte Schulter; dass die Hobbits ihren Appetit verloren, war ein sehr schlechtes Zeichen.

Als er den Raum betrat, drehte sich Frodo um und ihre Augen trafen sich. Das Gesicht des Ringträgers war bleich, seine Lippen eine dünne, feste Linie. Furcht und eine kaum unterdrückte Fassungslosigkeit strahlte in spürbaren Wellen von ihm aus, aber er beherrschte sich und war vollkommen imstande, alles zu beschreiben, was während dieser heißen, schicksalhaften Nacht geschehen war – so weit er es wusste, jedenfalls. Darum gebeten, wiederholte er mehrere Male die Worte des kurzen Gesprächs, das er mit angehört hatte.

„Ich möchte mir dein Schlafzimmer ansehen.“ sagte Aragorn.

„Gewiss,“ erwiderte Frodo; seine Miene war ausdruckslos und sein Körper angespannt wie eine Bogensehne. „Wir haben alle so gelassen, wie es war. Ich hoffe, das ist eine Hilfe.“

„Das ist es ganz sicher.“ Aragorn streckte die Hand aus, um Frodo beruhigend auf die Schulter zu klopfen, aber der Hobbit wich der Berührung mit einer fast unmerklichen Bewegung aus. Der König hob eine Augenbraue, aber er sagte nichts. Statt dessen bat er Merry und Pippin, zurückzubleiben.

„Da könnten Spuren sein,“ erklärte er, „Dreckspritzer, Gras, alles mögliche. Zu viele Füße könnten zerstören, was ich zu finden hoffe.“

Er ging den Korridor entlang, beugte sich tief und suchte jeden Zentimeter ab. Es war, wie er befürchtet hatte: da war nicht viel übrig, nur ein paar Erdkrümel hier und dort und ein paar winzige Steinchen. Auf der Schwelle zu Frodos Schlafzimmer drehte er sich um und schaute den Hobbit an, der hinter ihm wartete.

„Heute morgen wurde viel herum gerannt, nehme ich an?“

Frodo warf ihm ein schräges Lächeln zu. „Wir haben einige Zeit damit verschwendet, unter diversen Betten nach Sam zu suchen,“ sagte er. „Merry und Pippin jedenfalls. Merry hat zuerst sogar vermutet, Sam wäre schlafgewandelt, und man könnte ihn jetzt in den königlichen Gärten finden, wo er zärtlich einen Dornbusch umarmt.“ Das humorvolle Licht in seinen Augen schwand rasch. „Aber dieser Fußabdruck und das zerbrochene Glas... und dieses Gespräch hinter der Mauer...“

„Ja,“ sagte Aragorn leise und zustimmend. „Ja, natürlich.“

Das Schlafzimmer lag jetzt in vollem Tageslicht. Aragorn beugte sich über die Decke, die vom Bett herabhing. Er untersuchte den eingetrockneten Fußabdruck und schätzte die Entfernung zwischen dem Nachttisch und den Scherben auf dem Boden, um herauszufinden, wer die Karaffe hinuntergefegt haben mochte. Als er an der Decke zog, entdeckte er plötzlich, das jemand einen breiten Stoffstreifen aus dem Kissenbezug gerissen hatte.

„Interessant...“ murmelte er. „Wofür haben die dieses Stoffstück gebraucht?“

„Für... für einen Knebel vielleicht?“ Frodos Stimme hatte einen angestrengten, brüchigen Ton, aber ansonsten hatte er sich noch immer völlig unter Kontrolle. Aragorn warf ihm einen scharfen Blick zu.

„Nein, das glaube ich nicht,“ sagte er behutsam. „Wenn sie einen Knebel benutzt haben – und ja, ich denke, dass es wenigstens zwei waren – dann haben sie ihn wahrscheinlich gleich mitgebracht... vermutlich zusammen mit Seilen und einem Sack. Nein, ich denke nicht, dass das hier für einen Knebel benutzt wurde. Ich fürchte, sie haben unseren armen Sam bewusstlos geschlagen – aber er könnte sich ein Weilchen gewehrt haben. Ich nehme an, er hat einen seiner Entführer verletzt.“ Er warf Frodo ein blitzendes Lächeln zu. „Kannst du ihn nicht vor dir sehen, wie er von einem seiner Angreifer einen ordentlichen Bissen nimmt?“

„Das will ich doch hoffen.“ Frodo erwiderte das Lächeln mit Ingrimm. „Was werden wir jetzt tun?“

Aragorn seufzte.

„Nichts,“ sagte er, „oder – um genauer zu sein, du, mein lieber Freund, bist derjenige, der nichts tun wird. Du kommst sofort mit mir in den Palast. Wir müssen von der Annahme ausgehen, dass es in der Stadt Spione gibt, wahrscheinlich sogar bei Hof. Wir werden dich in meinen Privaträumen verbergen; die Dienerschaft dort wurde unter den Dúnedain ausgewählt, und ich vertraue jedem von ihnen blind.“

Er ertappte sich dabei, dass er unwillkürlich Frodos verbundene Hand mit der Lücke anstarrte, wo einmal ein Finger gewesen war.

„Weil unser geheimnisvoller Widersacher herausfinden könnte, dass seine Gehilfen ihm den falschen Hobbit gebracht haben?“ sagte der Ringträger ruhig; er war seinem Blick gefolgt, bevor Aragorn die Augen abwenden konnte.

Der König öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ein langes Schweigen folgte.

„Wie lange ist dir das schon klar?“ fragte er endlich.

„Ein wenig länger als dir, denke ich,“ gab Frodo trocken zurück. „ich habe dieses Zimmer heute früh zuerst gesehen. Und die Tatsache, dass es hier zwei Halblinge mit einer verbundenen rechten Hand gibt, mag wohl der Grund für einen verhängnisvollen Irrtum gewesen sein, meinst du nicht?“ Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Obwohl sie sich tatsächlich gar nicht geirrt haben. Sam ist auch ein Ringträger gewesen, und ein weit würdigerer als ich, wenn du mich fragst.“

Er straffte den Rücken.

„Ich werde dir in dieser Sache vertrauen und gehorchen, Aragorn,“ sagte er, „aber nicht für lange. Ich war erst auf ein Krankenzimmer beschränkt, weil ich zu schwach war, mehr als eine Hand oder ein Bein zu regen, und dann auf dieses Haus, weil du mir gesagt hast, dass ich mich erholen und auf mich Acht geben soll. Aber wenn Sam in Gefahr ist, werde ich nicht zurück bleiben und hoffnungsvoll darauf warten, dass du ihn rettest. Das weißt du doch, nicht wahr?“

„Ja,“ entgegnete Aragorn, der den Hobbit mit tiefer Besorgnis beobachtete. „Das weiß ich nur allzu gut.“

*****

Eine Stunde nach Sonnenaufgang erhob sich eine Brieftaube in die klare Sommerluft. Sie zog flatternd ein paar rasche, suchende Schleifen und schoss dann über die glitzernde Oberfläche des Flusses auf die schattenhafte Silhouette des Mindolluin und der Weißen Stadt zu.

Es war einer von fünf Vögeln, die vor einer Woche aus dem königlichen Taubenschlag gestohlen worden waren, gut ausgebildet und schnell, und in dem kleinen Röhrchen, das an ihren Fuß gebunden war, trug sie eine Botschaft bei sich.

Der Ringträger ist am Leben. Wir werden ihn gegen ein ganz bestimmtes Lösegeld austauschen, und morgen werden wir denjenigen nennen, der kommen und es überbringen muss... allein.

Die Taube eilte nach Westen, ein weißer, geflügelter Blitz, der den Blick eines Habichts einfing, der hoch über den Pelennorfeldern träge seine Kreise zog. Scharfe, goldene Augen folgten der neu entdeckten, hoch willkommenen Beute, und dann stieß der Jäger herab.

Die Taube bemerkte die Gefahr den Bruchteil einer Sekunde zu spät, um dem tödlichen Schnabel noch auszuweichen. Einen Augenblick später hing sie leblos im Griff der scharfen Krallen; ein schriller, siegreicher Schrei hallte über die Straße hinweg, die zu den großen Toren der Stadt führte, und dann wurde der kleine Kadaver zum Horst davon getragen, um die hungrige Brut zu nähren.

Binnen kurzem war von der Taube nur noch eine Handvoll blutiger Federn und zarter Knochen übrig. Das kleine Röhrchen lag unter den Überresten begraben, unbemerkt und nutzlos.


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