Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 7
Die Waffe der Wahrheit

Nachdem er eine Weile gründlich nachgedacht hatte, schickte Frodo eine schön geschriebene (und sorgsam formulierte) Nachricht an die Königliche Schatzkammer, die eine Einladung in die Gemächer des Königs enthielt. Frau Artanis war eingeweiht – ob nur durch den König oder noch jemand anderen, konnte Frodo jetzt noch nicht sagen, aber die Dinge würden auf diese Weise weit einfacher sein. Alles war einfacher als sich seinen Weg in diesem prachtvollen Irrgarten aus Marmor, Gold, Glas und Wandteppichen zu suchen und dabei verzweifelt zu vermeiden, dass man ihn sah, während er gleichzeitig keine Ahnung hatte, wohin er ging.

Er trank keinen Wein mehr; er brauchte jetzt seinen scharfen Verstand und einen klaren Kopf , um die Worte zu verstehen, die nicht gesagt wurden, und die Gedanken zu erspüren, die diese geheimnisvolle Frau ganz sicher versuchen würde, vor ihm zu verbergen. Er konnte nur hoffen, dass sie sich überhaupt bereit fand, seiner Einladung zu folgen. Er wartete ungeduldig; seine Rastlosigkeit wurde mit jeder Minute, die verging, größer.

Ein leises Klopfen an der Tür, und dann trat der Wachmann ein und verbeugte sich tief... ein älterer Mann, in das Schwarz und Silber der Königlichen Wache gekleidet, aber Frodo hatte den deutlichen Eindruck, dass er vor noch nicht allzu langer Zeit daran gewöhnt gewesen war, das abgetragene Leder und Leinen der Waldläufer aus dem Norden zu tragen. Viele der Menschen in Minas Tirith hatten das dunkle Haar und die grauen Augen ihrer edlen, númenorischen Vorfahren geerbt, aber dieser hier gehörte eindeutig zu Aragorns näherer Verwandtschaft. Er erinnerte sich daran, was ihm der König an jenem Morgen nach der Entführung gesagt hatte: Die Dienerschaft in meinen Privaträumen ist unter den Dúnedain ausgewählt worden. Ich vertraue jedem von ihnen blind.

„Frau Artanis ist hier,“ sagte der Wachmann, „soll ich sie hereinführen?“

„Ja, bitte,“ erwiderte Frodo und straffte den Rücken. „Und vielen Dank.“

Die Dame betrat das Zimmer; Frodo betrachtete sie und versuchte, sich so rasch wie möglich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Sie trug ein schwarzes Kleid – sie trauert noch um ihren Bruder, dachte er – der Stoff dünn und fließend, passend zu der andauernden Hitze. Ihr Haar war über einer hohen Stirn straff zurück gekämmt und ihrem Nacken zu einem schlichten Knoten zusammengesteckt. Er sah scharf gezeichnete Wangenknochen und volle Lippen – oder sie hätten voll sein können, lieblich sogar, wären sie nicht zu einer solch schmalen, angespannten Linie zusammengepresst gewesen.

Wie beim letzten Mal, als er ihr begegnet war, waren ihre Hände, ihr Hals und ihr Haar gänzlich ungeschmückt, und sie trug keinerlei Farbe auf Augenlidern, Wangen oder Lippen. Er hatte zahlreiche, gondoreanische Edeldamen gesehen, die geschickt Gebrauch von ihren verschiedenen Schminktöpfchen machten, und er erinnerte sich sogar an ein paar Hobbitmädchen daheim, die mit ein wenig zusätzlichem Blau oder Rosa herum experimentierten. Aber er hätte schwören mögen, dass diese Dame noch nicht einmal darüber nachdachte, sich auf irgendeine Weise selbst hübscher oder weiblicher zu machen. Offensichtlich war es ihr gleichgültig, wie sie aussah, und diese Tatsache sagte ihm eine Menge über ihr Selbstbild.

Ihre Augen überraschten ihn allerdings. Sie waren ungewöhnlich groß und mandelförmig, ein helles, fast silbriges Grau unter zart geschwungenen Brauen und schweren Lidern, die von einem dichten Kranz dunkler Wimpern umgeben waren. Sie war von einem starken Hauch der Einsamkeit und Erschöpfung umgeben, der ihn bekümmerte und trotz seines Misstrauens rührte. Und sie war totenbleich.

Er sagte das Erste, was ihm in den Sinn kam.

„Wieso trägt die Hüterin der Juwelen eigentlich keine Juwelen?“

Sie runzelte die Stirn und starrte ihn mit diesen ungewöhnlichen, schimmernden Augen an, aber dann entspannte sich das schmale, müde Gesicht in einem unerwarteten Lächeln, und für einen verblüffenden Moment sah er einen Hauch von Schönheit und Lebhaftigkeit hinter der reglosen Maske.

„Ich bin keine Piratenbraut, Meister Beutlin,“ sagte sie, „Und die Königliche Schatzkammer ist keine glitzernde Höhle mit überquellenden Truhen, bewacht von den Skeletten toter Seeräuber. Ich fürchte, Ihr würdet meine Arbeit ziemlich enttäuschend finden, wenn Ihr mehr darüber wüsstet.“

„Aber wenn Ihr euch nichts aus Edelsteinen macht, warum habt Ihr dann das Amt Eures Vaters übernommen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich mir nichts aus ihnen mache,“ erwiderte die Dame, und ihr Stirnrunzeln kehrte zurück. „Ich schätze ihre Schönheit und Reinheit; ich kann leicht herausfinden, ob ein Stein zu Recht als kostbar bezeichnet werden kann – oder ob er einen Fehler hat, der sowohl seinen Wert als auch seinen Glanz mindert. --- Darf ich Euch etwas zeigen?“

„Natürlich dürft Ihr das, Herrin,“ erwiderte Frodo, „und bitte setzt Euch. Verzeiht bitte meine ungeschliffenen Manieren... ich bin noch immer nicht daran gewöhnt, mit gondoreanischen Höflingen Umgang zu pflegen. Im Auenland sind diese Dinge wesentlich einfacher... und ich muss zugeben, dass ich mir gerade ziemlich... ungehobelt vorkomme.“

„Sorgt Euch nicht darum.“ Artanis von Lebennin setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel und suchte in der dunklen Samttasche, an die er sich noch von ihrer letzten Begegnung erinnerte. „Ihr werdet bald herausfinden, dass ich nicht die typische Hofdame bin.“ Sie zog einen kleinen Beutel aus der Tasche. „Schließt Eure Augen, Meister Beutlin, und öffnet die Hand.“

Er tat wie ihm geheißen und spürte, wie etwas Kühles in seine Handfläche glitt.

„Ihr dürft wieder schauen.“ Der Hauch eines Lächelns schwang in der Stimme mit, und Frodo dachte, dass sie eigenartig klang... warm und ziemlich dunkel für eine Frau, aber mit krächzenden Untertönen, und von Zeit zu Zeit sogar heiser und brüchig. Er öffnete die Augen und sah drei Perlen vor sich, von vollkommener, runder Glätte und einem sanften, tiefgrauen Lüster.

„Sie... sie sind wunderschön.“ sagte er langsam.

„Ja, das sind sie,“ antwortete die Dame, „und sehr wertvoll. Perlen werden in vielen verschiedenen Farbtönen gefunden, aber diese gibt es nur am entferntesten Ende des Südlichen Meeres. Dort tauchen Frauen zwischen Korallenbäumen und Fischschwärmen in allen Farben des Regenbogens, und sie sammeln sie vom Grund des Ozeans. Die Luft ist immer warm, und es gibt Inseln, im türkisfarbenen Wasser aufgereiht wie Edelsteine an einem Halsband.“

Der sehnsüchtige Ton war unmissverständlich; Frodo schaute von dem unbezahlbaren Vermögen in seiner Hand auf und erkannte plötzlich den Riss in ihrem Schutzwall.

„Seid Ihr jemals dort gewesen?“ ragte er. „Ihr habt eine sehr beeindruckende Art, es zu beschreiben.“

„Nein.“ Die Dame straffte sich und das Licht, das er in ihren Augen entdeckt hatte, verblasste und erlosch. „Ich habe noch nie das Meer gesehen – nicht einmal das Meer jenseits von Dol Amroth.“

„Dann haben wir etwas gemeinsam.“ Frodo sprach in sanftem Ton; er konnte einen lang begrabenen Schmerz fühlen, der von ihr ausstrahlte, und der – sehr zu seiner Überraschung – seine ältesten Narben zu berühren schien. „Wir Hobbits leben nicht allzu weit entfernt von der See – nur ein paar wenige Reisetage – aber wir gehen kaum einmal dort hin. Die wenigen unter uns, die es tatsächlich wagen, an Bord eines Bootes oder Schiffes zu gehen und fortzusegeln, werden als wagemutig angesehen – und als vollkommen verrückt.“ Er schenkte ihr ein kleines Lächeln. „Auch wenn es nur auf einem Tümpel wäre. Und wenn ich meine Familiengeschichte bedenke, sollte ich mich wahrscheinlich den eher... äh... hasenherzigen Vertretern meiner Rasse anschließen.“

Die Herrin nahm ihm die Perlen aus der Hand und ließ sie in den Samtbeutel zurück gleiten. „Wieso das?“

Er merkte, wie sie versuchte, seinen Blick festzuhalten. Sei ehrlich, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf drängend, du willst, dass sie dir ein gefährliches Geheimnis offenbart, oder nicht? Wenn es dem Zweck dienen soll, Sams Leben zu retten, dann musst du ihr im Austausch geben, was immer du hast... selbst wenn es dir Schmerzen bereitet. Sie leidet ebenfalls Schmerzen. Sie leidet schreckliche Schmerzen, und du kannst es fühlen.

Ihre Augen trafen sich. „Meine Eltern starben, als ich zwölf war,“ sagte er, die Stimme trügerisch ruhig. „Sie sind in einem Boot auf dem Fluss gerudert, und irgendwie kenterte es und sank. Sie ertranken – alle beide.“

„Oh. Das... das tut mir Leid.“ Eine lange Pause. Artanis von Lebennin saß sehr aufrecht, die Hände im Schoß gefaltet. Dann holte sie tief Atem.

„Als meine Mutter starb, war ich vierzehn.“

Eine weitere Pause.

„2994, sechs Jahre, nachdem Herr Denethor seine Frau verloren hatte, kam die Halsbräune nach Minas Tirith. Das waren finstere Tage, und viele Menschen wurden krank, vor allem kleine Kinder und alte Einwohner der Weißen Stadt. Meine Mutter ging, um in den Häusern der Heilung zu helfen, bis... bis ich mich ebenfalls ansteckte. Sie pflegte mich, zwei lange Wochen hindurch, und endlich konnte ich wieder frei atmen und das Fieber sank, an einem regnerischen Abend im Mai.“

Sie schwieg.

Frodo studierte das Gesicht der jungen Frau, und plötzlich sah er das junge Mädchen, das sie einmal gewesen war, vor sich, einen bleicher Schatten hinter den erwachsenen Zügen der Dame... ein junges Mädchen, das in einem dieser riesigen, luxuriösen Betten lag, gegen die Dunkelheit ankämpfte und mühsam nach Luft rang. Schmerz und tiefes Mitgefühl krampften sich wie eine Faust um sein Herz, aber er schob den ritterlichen Impuls, sie zu schonen, grimmig beiseite und sprach. „Was geschah dann?“

„Meine Mutter brach in dieser Nacht zusammen, während ich in heilendem Schlummer lag,“ entgegnete Artanis sehr leise. „Sie verschied nur ein paar Stunden später. Als ich am nächsten Morgen erwachte, saß mein Bruder neben meinem Bett; er weinte, ohne einen Laut von sich zu geben und hielt meine Hand. Und ich hatte nicht nur sie verloren, sondern auch meine Stimme... es dauerte Monate, bis ich wieder sprechen konnte.“

Frodo sah, wie die Knöchel der Hände in ihrem Schoß weiß wurden, aber er folgte seiner neu entdeckten, tiefen Einsicht und stellte die Frage, die jene kleine, unnachgiebige Stimme in seinem Geist ihn zu stellen hieß: „Wo war Euer Vater, während all dies geschah?“

„In der Veste, bei Herrn Denethor,“ flüsterte Artanis, „Er kam zurück, als meine Mutter in unserem Haus aufgebahrt wurde. Er verschloss den Raum für den Rest des Tages und saß dort neben ihrem Totenbett. Am Abend kam er wieder heraus, um seinen Sohn zu umarmen und zu trösten, und Anweisungen für ein förmliches Begräbnis zu geben. Dann kehrte er zu seinen Pflichten zurück.“

„Er kam nicht, um zu sehen, wie es seiner Tochter ging?“ Ein wohl gezielter Pfeil, und er traf ins Schwarze.

„N-nein.“ Er konnte sie kaum verstehen. „Er... er musste... er...“

Er hatte seine Frau verloren, und jetzt wünschte er, dass die Krankheit sich statt dessen seine Tochter genommen hätte. Seine wertlose, überflüssige Tochter.

Sie sprach es nicht laut aus, aber Frodo konnte es hören, ein stiller Schrei vom Grunde ihres Herzens, der verzweifelt in seinen Ohren widerhallte. Er ging rasch zu dem Tisch hinüber; die Diener hatten die Reste des Abendessens abgeräumt und durch süßes Gebäck und eine gläserne Weinkaraffe ersetzt. Er goss etwas Wein in einen Kelch und schloss Artanis’ Hand um die kühle Wölbung. Sie bebte so heftig, dass er ihre Finger festhalten und ihr helfen musste, den Kelch an ihre Lippen zu heben, damit sie trinken konnte.

Er stand vor ihr und bedachte sorgsam seine nächsten Worte.

„Wisst Ihr, was mir nach dem Tod meiner Eltern wirklich geholfen hat?“ sagte er endlich. „Es war mein Vetter Bilbo, der mich adoptiert hat, der mir Liebe und ein Zuhause gab. Und da waren Bilbos Hausbesorger – Hamfast Gamdschie und seine Frau Bell, und ihre Kinder – zuallererst Sam, natürlich. Als Bilbo fort ging und Hamfast zu alt war, wurde er mein Gärtner... und er kam mit mir, als ich ebenfalls fort musste, des Ringes wegen. Seitdem hat er mein Leben bei mehr Gelegenheiten gerettet, als ich zu zählen wage, und er war es auch, der mich auf seinem Rücken jenen Berg hinauf getragen hat.“

Sie hob den Kopf; noch immer hielt sie den Kelch mit beiden Händen fest.

„Und jetzt fürchte ich, dass ich den besten aller Freunde verlieren werde, jemanden, der mir näher ist als ein Bruder,“ fuhr er fort. „Niemand von uns weiß, was als Nächstes geschehen wird. Ich habe Angst, dass der König irgend etwas Verzweifeltes versucht, um Sam zu retten, und dass er sich dabei in Gefahr bringt. Wir sind einen langen Weg gemeinsam gegangen, dieser Mann und ich, seit ich ihm das erste Mal begegnet bin... und damals sah ich nicht mehr als einen glühenden Pfeifenkopf, eine große Kapuze und ein stoppelbärtiges Kinn. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, aber er ist mir sehr lieb geworden. Wir haben eine lange, bittere Schlacht geschlagen, um das Böse zu besiegen, und jetzt scheint der hart erkämpfte Frieden vernichtet zu werden, noch bevor wir Zeit hatten, uns daran zu gewöhnen.“

Er wandte sich ab und trat wieder ans Fenster. Die Sonne war hinter dem Berg versunken, und der Himmel im Osten tief dunkelgrau. Eine Handvoll Lichter glitzerten auf dem Pelennor; neu aufgebaute Bauernhöfe und, eingerahmt vom Fluss, ein halbes Dutzend Wachfeuer, wo die Wiederherstellung des zerstörten Osgiliath gerade erst begonnen hatte. Frodo seufzte und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Er fühlte sich unendlich müde. Sam, wo bist du? Lebst du noch?

„Ohne eine Nachricht über das Lösegeld kann der König nicht aufbrechen, um Euren kleinen Gärtner zu befreien,“ hörte er die heisere Stimme von Artanis hinter sich. „Hat es... hat es überhaupt irgendwelche Nachrichten gegeben?“

„Ja, eine... sie kam heute, früh am Morgen.“ entgegnete Frodo. „Sie besagte, dass Aragorn allein kommen und etwas im Austausch für Sam mitbringen muss, aber sie erklärte nicht, worum es sich handelt... und sie sagte ihm nicht, wohin er gehen soll.“

„Wann soll er kommen?“

„Heute Abend,“ sagte Frodo, der immer noch aus dem Fenster starrte.

„Dann muss es noch eine weitere Nachricht geben,“ stellte Artanis fest, „oder die Anweisung in der letzten Botschaft hat überhaupt keinen Sinn.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Pippin platzte in den Raum.

„Frodo, was um der Herrin willen machst du denn hier ganz allein?“ sagte er. „Ich bin gerade eben Faramir im Arbeitszimmer des Königs begegnet, und als ich ihn fragte, wo Aragorn hingekommen ist, da machte er ein Gesicht, das mich an die dreifach verriegelte Tür zur großen Speisekammer in den Groß-Smials erinnert hat. Ich sage dir, da braut sich irgendwas zusammen. --- Wieso ist es hier drinnen so dunkel?“ Er langte nach der Zunderbüchse auf dem Tisch.

„Einen Augenblick, Pip.“ Frodo warf ihm einen warnenden Blick zu. „Zuerst einmal: ich bin nicht allein. Darf ich dir Artanis vorstellen, die Herrin von Lebennin?“ Er nahm Pippin die Zunderbüchse aus der Hand und brannte die Kerzen in dem großen Silberleuchter an. Pippin wirbelte herum und schnappte erschrocken nach Luft, als das bleiche Gesicht und die schlanke Gestalt der jungen Frau aus den Schatten auftauchten. Dann nahm er sich zusammen und verbeugte sich.

„Peregrin Tuk, zu Euren Diensten.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Meister Tuk.— Habt Ihr gesagt, dass der König verschwunden sei, und dass Herr Faramir Euch nicht sagen will, wohin er gegangen ist?“

Pippin schaute Frodo an, der unmerklich nickte.

„Ja,“ antwortete er, „und keiner der Männer aus der Wache fehlt. Ich kenne sie inzwischen ziemlich gut; wenn er begleitet wird, dann von jemand anderem.“

Frau Artanis straffte den Rücken; die silbrigen Augen hatten einen eigentümlich erregten Schimmer.

„Meister Beutlin,“ sagte sie langsam, „haltet Ihr es für möglich, dass es innerhalb der letzten zwei Stunden eine Nachricht gegeben hat, und dass der König heimlich aufgebrochen ist, um Euren entführten Gärtner ganz allein zu retten?“

Frodo spürte, wie ihm ein Schauder den Rücken hinab rieselte; er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Artanis verstand offenbar den Grund für sein plötzliches Zögern. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung und erhob sich aus ihrem Sessel.

„Ist es möglich, den genauen Wortlaut jener letzten Botschaft herauszufinden – wenn sie denn angekommen sein sollte?“

Pippin rieb sich das Kinn.

„Herr Faramir wird wahrscheinlich wissen, was darin steht; in der Abwesenheit des Königs hat er wieder die Pflichten eines Truchsessen übernommen. Und ich bin sicher, dass die Königin ebenfalls Bescheid weiß. Aragorn würde niemals fortgehen, ohne ihr zu sagen, was er vorhat.“

Artanis runzelte die Stirn; sie betrachtete prüfend die kleine Gestalt in der Tracht der Wache, als versuchte sie, ihre Verlässlichkeit einzuschätzen.

„Kennt Ihr den König denn so gut?“ wollte sie wissen.

Pippin wandte sich ihr zu.

„Er ist nicht immer König gewesen,“ sagte er schlicht, „obwohl er immer ein königliches Herz und eine königliche Seele hatte, sozusagen. Aber ich hab sie zusammen gesehen, und sie sind etwas Besonderes, alle beide. Ich wette, sie würde wissen wollen, wenn er sich in Gefahr begibt, und er würde es nicht vor ihr verbergen. Sie ist nicht so eine von den Damen, die man wie ein ängstliches, kleines Mädel beschützen muss.“

Frodo spürte, wie sich sein Gesicht angesichts dieser gleichzeitig nüchternen und liebevollen Einschätzung zu einem Lächeln entspannte. Die junge Frau nickte langsam; für einen langen Augenblick stand sie vollkommen reglos da, dann seufzte sie schwer und beide Hobbits konnten sehen, dass ihre Hände ganz leicht zitterten, als sie die Röcke ihres schwarzen Kleides glatt strich.

„Frodo Beutlin, würdet Ihr mich zu Herrn Faramir begleiten?“ Die Mandelaugen zeigten einen Ausdruck, den Frodo nicht ganz verstand – eine seltsame Mischung aus bodenloser Furcht und heftiger, fast verzweifelter Entschlossenheit. „Ich muss ihm etwas sehr Wichtiges mitteilen - und ich muss herausfinden, was in der letzten Nachricht stand. --- Und ich würde Euch, Meister Peregrin, darum bitten, Euren Vetter Meriadoc in das Arbeitszimmer des Königs zu bringen. Er sollte ebenfalls hören, was ich zu sagen habe.“

Pippin zögerte ein, zwei Sekunden, dann drehte er sich um und hastete aus dem Zimmer.

*****

Frodo vergaß ihre stille, gemeinsame Wanderung in jener Nacht nie – durch endlose, dunkle Korridore, um viele Biegungen, nach rechts und nach links und drei oder vier lange Treppen hinauf. Die ganze Zeit wahrte Frau Artanis ein grimmiges Schweigen, und obwohl es sehr leicht für sie gewesen wäre, ihn in die Irre zu führen, verschwendete er keinen Gedanken daran, dass sie eine Gefahr für ihn sein könnte. Sie hatte eine gewisse Schwelle überschritten, sie wussten es beide, und es gab keinen Weg zurück, weder für ihn noch für sie.

Dann hatten sie ihr Ziel erreicht, und Frau Artanis wandte sich an die Wache, die vor der Tür des Studierzimmers stand.

„Ich muss mit dem Truchsessen reden,“ sagte sie; plötzlich war ihre Stimme ruhig und von stiller Autorität erfüllt, „Frodo Beutlin, der Ringträger, begleitet mich, und es sind wichtige Dinge mit dem Truchsessen zu besprechen, sofort. Es ist eine Sache auf Leben und Tod. Würdet Ihr uns bitte anmelden?“

Der Wachmann verbeugte sich ohne jeden Widerspruch und verschwand im Zimmer; kaum eine Minute später kam er wieder und führte sie hinein.

Faramir saß hinter dem Schreibtisch des Königs, in dunkle Lederhosen und ein schlichtes Leinenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln gekleidet; sein Gesicht war besorgt und sehr ernst. Merry und Pippin standen Seite an Seite rechts neben dem Tisch. Pippin hatte sich wirklich sehr beeilt.

„Artanis!“ Faramir erhob sich von seinem Stuhl. „Ich hatte nicht erwartet, Euch hier zu treffen; Euer Vater und ich sind nicht in Frieden geschieden, als ich ihn gestern Abend gesehen habe.“

Frodo spürte, wie die junge Frau neben ihm erstarrte und hörte, wie sie scharf nach Luft rang.

„Ihr habt mit meinem Vater gesprochen – gestern?“ Es war nur ein angestrengtes Flüstern. „Was – was hat er gewollt?“

Faramir senkte den Blick; er war von einem seltsamen Hauch des Unbehagens und des Zorns umgeben. „Vielleicht wäre es besser, dass ich euch nicht davon erzähle, Artanis; Ihr würdet das Thema unserer Unterhaltung – tatsächlich war es eher eine Auseinandersetzung – recht schmerzhaft und erschreckend finden.“

Die junge Frau gab ein bellendes Lachen von sich; es war das unglückseligste Geräusch, das Frodo seit langem gehört hatte.

„Glaubt mir, Ihr könnt mir nicht noch mehr Schande und Unehre aufbürden, als ich bereits auf meinen Schultern zu tragen habe, Faramir,“ sagte sie. „Seid bitte ehrlich, und nehmt keinerlei Rücksicht auf mich.“

Faramir seufzte.

„Herr Ardhenon kam sehr spät abends zu mir,“ sagte er. „Er war sehr erregt; ich muss Euch sagen, dass ich den zunehmenden Eindruck hatte, dass er offenbar verwirrt zu sein schien. Er sagte mir, dass er die lange Linie der Truchsessen noch immer als die rechtmäßigen – und einzigen – Herrscher über Gondor sähe. Er sprach schlecht und auf eine sehr... respektlose Art über den König; er zog die edle Reihe seiner Vorfahren offen in Zweifel, nannte ihn ,diesen Waldläufer aus dem Norden’ und - “ Er hielt inne und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.

„Ich werde Euch helfen.“ Die Stimme der jungen Frau war ein schmerzhaftes, raues Krächzen. „Den Thronräuber?“

„Ihr habt von seiner... seiner Einstellung gegenüber dem König gewusst?“

„Ja.“ Sie stand sehr aufrecht, die Hände an beiden Seiten ihres Körpers zu Fäusten geballt.

Faramirs klarer, durchdringender Blick verließ ihr Gesicht keinen Moment. „Ich wies seine verräterischen Ideen zurück – natürlich! – und ich sagte ihm, dass nur meine Respekt für seine lange Freundschaft mit meinem Vater und die treuen Dienste seines Hauses seit mehr als fünf Jahrhunderten mich davon abhielte, ihn auf der Stelle festnehmen zu lassen. Eure Vater war außer sich vor Wut, als er ging.“

„Sein Verrat ist noch weit größer als Ihr denkt,“ sagte Artanis. „Würdet Ihr mir bitte die letzte Nachricht der Entführer geben - die, die heute Nachmittag gekommen ist?“

Faramirs Augen wurden schmal. Frodos Blick irrte ab und fand Merry und Pippin. Sie waren ziemlich blass, und er konnte die Wahrheit, die Faramir sich anscheinend noch immer zu akzeptieren weigerte, in ihrem Gesichtern aufdämmern sehen. Aber dann öffnete der junge Truchsess eine Schublade im Schreibtisch, nahm ein kleines Stück Pergament heraus und reichte es Artanis.

Frodo berührte sie am Ärmel.

„Herrin, darf ich Euch bitten, laut vorzulesen?“ sagte er leise. „Ich habe den ganzen Tag auf diese Nachricht gewartet, und meine Vettern wollen sicherlich ebenfalls wissen, was darin steht.“

Artanis überflog das Pergament, und jetzt schien noch der letzte Tropfen Blut aus ihrem Gesicht zu weichen. Sie räusperte sich.

„Wir erwarten, dass Aragorn aus dem Norden um Mitternacht nach Osgiliath kommt. Er wird zwanzig Smaragde bei sich tragen, fehlerlose Edelsteine ohne alle Einschlüsse, und er wird an dem Ort warten, wo sich einst der Turm der Sterne befand, bevor das Heer des Feindes ihn zerstört hat. Noch einmal – er muss allein kommen.“

Osgiliath, dachte Frodo. So nahe – direkt unter unseren Augen.

„Zwanzig Smaragde?“ platzte Merry mit allen Anzeichen von Wut und Verwirrung heraus. „Ihr meint, diese habgierigen Schufte tauschen den armen Sam gegen eine Handvoll buntes Glas?!?“

„Du verstehst nicht, Merry,“ erwiderte Faramir sanft. „Das sind sehr kostbare Edelsteine.“

„In der Tat.“ Die Stimme von Artanis hatte einen scharfen, verzweifelten Unterton. „Kurz bevor der kleine Gärtner verschleppt wurde, besuchte uns ein Gesandter aus Harad. Er wünschte um Frieden zu verhandeln und versuchte, die günstigsten Bedingungen heraus zu schlagen, und er hatte ein kleines Kästchen mit Smaragden im Gepäck. Sie waren von ganz erstaunlicher Güte – klar wie Meerwasser, strahlend und unfassbar schön, und ohne alle Einschlüsse. Man könnte mit nur einem von ihnen ein ganzes Königreich bezahlen. - Der König musste nur in meine Bücher schauen, um herauszufinden, wo sie aufbewahrt wurden.“

„Was er offenbar getan hat.“ sagte Faramir. „Er zeigte sie mir, bevor er ging. Sie waren wahrhaft bemerkenswert... obwohl in keiner Weise ein passendes Tauschpfand für ein solch treues, erstaunliches Geschöpf wie Samweis Gamdschie.“

Merry trat näher; seine Augen blitzten wie von einer plötzlichen Erkenntnis.

„Immer noch ein merkwürdiger Zufall,“ sagte er, „dass die Entführer wussten, wonach sie fragen mussten, meine ich. Sie haben Aragorn nicht viel Zeit gelassen, dieses Lösegeld heran zu schaffen; ich bin ziemlich sicher, dass sie gewusst haben müssen, dass diese Edelsteine hier waren – genau wie er.“

„Ihr sprecht die Wahrheit, Meister Meriadoc,“ sagte die junge Frau. „Ihr müsst wissen, dass ich meine Bücher doppelt führe – einmal in der Königlichen Schatzkammer, und noch einmal in meinem Haus oberhalb des sechsten Kreises. Und die Entführer wussten von diesen kostbaren Juwelen, weil mein Vater offensichtlich einen genaueren Blick in meine Bücher geworfen hat, während ich schlief – bevor er ganz früh heute Morgen nach Osgiliath aufgebrochen ist.“

Totenstille senkte sich über den Raum. Artanis stand Auge in Auge mit dem jungen Truchsessen und rührte sich nicht.

„Artanis.“ Faramirs warmer Tenor hatte sich zu einem fast nicht wieder zu erkennenden Grollen verdunkelt. „Wollt Ihr mir sagen, dass Euer Vater, der Fürst von Lebennin, der Kopf dieser ruchlosen Verschwörung ist, die das Leben eines der Freunde des Königs bedroht?“

„Ja, Herr.“ entgegnete sie sehr leise. „Und nachdem Ihr mir gesagt habt, mein Vater sei sich völlig der Tatsache bewusst, dass Ihr nicht die Absicht habt, den König als Herrscher über Gondor zu ersetzen, fürchte ich, dass es nicht mehr um einen Austausch von Lösegeld gegen Geisel gehen wird.“

Sie straffte sich und hob das Kinn... aber Frodo konnte sehen, dass sie von Kopf bis Fuß bebte. Er streckte instinktiv die Hand aus, aber bevor er sie noch berühren konnte, fiel sie auf die Knie und senkte in einer zeitlosen Geste von Scham und Unterwerfung den Kopf.

„Der Name und die Geschichte unseres Hauses sind auf ewig besudelt,“ sagte sie mit klarer, dünner Stimme. „Alles, was ich anbieten kann, ist meine Buße – denn ich habe meine eigene Rolle in diesem bösen Spiel gehabt – und meinen demütigen Versuch zu helfen. Ich werde Euch an den Ort führen, wo einst die kostbarsten Schätze des Truchsessen verborgen lagen, und wo mein Vater und seine Männer jetzt den kleinen Gärtner verstecken.“

Sie hob den Blick, und der Truchsess und die drei Hobbits sahen, dass ihre Augen voller Tränen standen.

„Wir sollten uns beeilen,“ sagte sie, „wir sollten uns wirklich beeilen, denn mein Vater hat ganz eindeutig die Grenze zwischen klarem Verstand und Wahnsinn überschritten. Und ich bin mir einer Sache entsetzlich sicher: das einzige Ziel in seinem Leben, das er noch hat, ist, den König zu ermorden.“


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