Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 9
Qualvoller Verrat

Der junge Truchsess, die Hobbits und Frau Artanis verließen Minas Tirith kurz nach Sonnenuntergang, eine stille Gruppe auf dem Rücken von Pferden und Ponys, in dunkle Mäntel gehüllt. Ihr Weg führte sie durch eine enge Seitenpforte der Stadt und die Straßen über den Pelennor hinunter. Sie kamen an ausgedehnten Obstgärten vorbei, die Bäume schwer von den ersten Früchten des frühen Sommers, und an schlafenden Bauernhöfen, verfolgt vom Gebell aufgeschreckter Hunde.

Faramir - der tatsächlich niemals die Absicht gehabt hatte, die Hobbits auf diese Rettungsexpedition mitzunehmen - traf auf erbitterten Widerstand. Der Ringträger kniff die Augen zusammen, verschränkte die Arme und bedachte ihn mit einem starrenden Blick eisiger Verweigerung. Pippin fand recht entschiedene und beredte Worte über seine Pflichten als Ritter von Gondor, und Merry erklärte ganz einfach, dass die Angelegenheit nicht „mehr schwere Stiefel braucht als nötig“, und dass der Truchsess sie sowieso fesseln und knebeln müsste, um sie zurück zu lassen. Nach einem hitzigen Streit gab Faramir nach; aber er versuchte bis zur letzten Minute, Artanis davon abzuhalten, sie zu dem Ort zu führen, wo Sam gefangen gehalten wurde. Die junge Frau erwies sich allerdings als ebenso so eisern wie die Hobbits.

„Wie gut kennt Ihr das alte Tunnelsystem von Osgiliath?” fragte sie endlich.

„Ich kenne den Teil am Westufer des Anduin,” sagte er langsam. „Boromir und ich, wir sind sehr oft dort unten gewesen, als die Truppen meines Vaters die Ruinen noch hielten.”

„Das dachte ich mir,” gab sie zurück. „Der Teil der Tunnel, der mehr oder weniger vergessen ist, liegt hinter dem östlichen Ufer, und der Eingang befindet sich einen Steinwurf entfernt von dort, wo einst die Große Brücke und der Turm der Sterne waren. Aber man muss ihn sehr gut kennen, um ihn zu sehen. Und in der Dunkelheit der Nacht ist es sogar noch schwieriger. Die Tunnel erstrecken sich unterirdisch über mehr als eine Meile; es gibt Sackgassen und eine Handvoll höchst unerwarteter Fallen, in denen man hängen bleiben kann, wenn man nicht genau weiß, wohin man gehen muss.”

Sie starrte den jungen Truchsessen an; die hellen Mandelaugen brannten in heftigem Feuer.

„Ich werde nicht zurückbleiben.” Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Wenn der König stirbt, werdet Ihr das Amt des nächsten Truchsessen von Gondor auf Euch nehmen müssen, ob Ihr es wollt oder nicht – und dann hat mein Vater endlich sein Ziel erreicht. Das werde ich nicht geschehen lassen, und ich bleibe nicht zurück.” ---

Und so machten sie sich heimlich auf den Weg zur alten Stadt Osgiliath, verloren, zurück erobert und wieder und wieder zerstört, bis nichts mehr blieb von dem, was einst der Juwel in der Krone des Südlichen Königreiches gewesen war. Um Mitternacht herum erreichten sie die ersten Ruinen. Ein hochgewachsener Mann mit einer Fackel wartete auf sie, sein Gesicht im Schatten einer großen Kapuze verborgen.

„Mein Herr Faramir,” sagte er und verneigte sich tief. „Wir haben am östlichen Ufer Wache gehalten, aber in den letzten drei Stunden hat sich nichts gerührt. Seid Ihr sicher, dass der König hier ist?”

„Das bin ich, Damrod,” gab Faramir grimmig zurück. „Und ich fürchte, dass selbst ein erfahrener, scharfäugiger Mann wie du keine Möglichkeit hätte, Aragorn zu erspähen, wenn er nicht gesehen werden will.” Er deutete zu Artanis hinüber. „Diese Dame wird uns zu dem Ort führen, wo die Entführer den Gärtner verborgen halten, und ich werde dafür Sorge tragen, Zeichen zu hinterlassen, die du und deine Männer finden können. Wenn wir nicht binnen einer Stunde zurück kommen, dann hast du den Befehl, uns zu folgen.”

Damrod verneigte sich erneut.

„Wie Ihr wünscht, Herr,” sagte er. „Aber ich flehe Euch an, seid vorsichtig. Es wäre ein schwerer Schlag für Gondor, wenn einer von euch verloren ginge.”

„Es wäre ein noch weit schwererer Schlag, wenn wir heute unseren neu gefundenen König verlieren würden.” entgegnete Faramir, und sein Tonfall wie sein Gesicht waren von tödlichem Ernst.

Sie wandten sich von der kopfsteingepflasterten Straße ab und suchten sich vorsichtig ihren Weg zwischen halb eingestürzten Mauern und Gebäuden, bis sie den Fluss erreicht hatten. Ein Boot wartete am kiesbestreuten Ufer. Merry stöhnte laut auf und schüttelte den Kopf.

„Da bringen wir Sam nie im Leben hinein,” sagte er mit einem schiefen Grinsen. „Sobald er begreift, dass er das Wasser in einer solchen Nussschale überqueren muss, fällt er ihn Ohnmacht.”

„Es mag wohl sein, dass er sowieso ohnmächtig ist.” Das war das erste Mal, dass der Ringträger die Stimme erhob. Seit dem Verlassen der Stadt hatte er die ganze Zeit geschwiegen. Artanis betrachtete das müde Gesicht des Halblings… vor dem schwarzen, rauschenden Wasser des Anduin wirkte es so bleich und durchscheinend wie eine Muschel. Sie trat langsam neben ihn.

„Er ist bestimmt in Sicherheit,” meinte sie und zwang sich mit aller Willenskraft dazu, jedes Wort zu glauben, dass sie sagte. „Mein Vater hat kein Heer bei sich, nur zwei oder drei Bedienstete. Ich glaube nicht, dass sie eine wirkliche Gefahr für den König darstellen.”

„Denkt Ihr, dass die beiden noch am Leben sind?” Sie begegnete dem Blick verdunkelter Augen, ausgehöhlt von zu viel erduldeten Schmerzen und einer schrecklichen Furcht. Zögernd streckte sie die Hand aus, um seinen Arm zu berühren, aber dann zog sie sie wieder zurück, erneut überwältigt von der bodenlosen Schande, die sie an diesen Ort gebracht hatte.

„Sie müssen am Leben sein, Meister Beutlin,” sagte sie, die Stimme heiser und angespannt. „Denn wenn Meister Gamdschie und der König heute Nacht getötet werden sollten, dann muss ich Euer Leid und Elend mitsamt der zornigen Trauer meines gesamten Volkes der Scham hinzufügen, dass ich bereits als Bürde auf meinen Schultern trage… und in diesem Fall mögen wir sehr wohl die selbe Straße in die Finsternis hinab wandern.”

Ein scharfer Blick – und eine kleine Hand, die sich auf ihren Arm legte, wo sie die Berührung nicht gewagt hatte.

„Dann werden wir sie finden und wieder ans Tageslicht zurückbringen,” sagte Frodo Beutlin; ein geisterhaftes Lächeln spielte um seine Lippen. „Mein Freund Samweis ist ein Gärtner, an warme Erde unter seinen Händen gewöhnt, und an die Sonne auf seinem Gesicht. Mit ein wenig Glück wandern wir morgen allesamt wieder in der Helligkeit des Tages.“

„Ich bete, dass Ihr Recht habt.” sagte Artanis.

Das Boot war größer, als sie zunächst gedacht hatten, und Artanis wartete im Bug, während Faramir den Hobbits dabei half, einen sicheren Sitzplatz zu finden. Er nahm die Ruder und tauchte sie in das dunkle Wasser. Der Bug drehte sich vom Ufer fort und das Boot glitt dort in die Strömung, wo sich einst die Große Brücke mit dem Turm der Sterne befunden hatte, ein strahlendes Leuchtfeuer von Gondors Ruhm und Schönheit. Artanis versuchte, sich an die Erinnerung an das wunderbare Gemälde zu klammern, das sie einmal von beidem gesehen hatte, in einem reich illustrierten Buch… aber ihre Gedanken zerflatterten. Sie fühlte sich, als stünde sie am Rande eines schwarzen Abgrundes.

Du hintergehst deinen Vater, zischte eine schrille Stimme in ihrem Kopf, ein einziges Mal hat er dir vertraut, und du lässt ihn auf die übelste Weise im Stich. Sie starrte in den Strom hinunter. Über ihrem Kopf erschien der Mond hinter einer Wolke und wurde von den sich kräuselnden Wellen widergespiegelt wie eine riesige Münze Selbst so spät in der Nacht war es noch warm, aber Artanis zitterte heftig und zog den Mantel enger um sich zusammen. Du hintergehst deinen Vater, wiederholte die Stimme gnadenlos, und wenn du ihm bis jetzt gleichgültig gewesen bist, dann wird er dich jetzt mit Sicherheit hassen. Warum lässt du dich nicht einfach in den Fluss fallen und machst deinem Elend ein Ende, bevor du noch mehr Schaden anrichten kannst? Sie grub die Finger in das Dollbord und zitterte noch stärker… und dann suchte ihr Geist dort Zuflucht, wo er schon immer Ruhe gefunden hatte.

Sie rief sich den sanften Schimmer der Perlen ins Gedächtnis, das kühle, grüne Licht der Smaragde und Turmaline und das warme Glühen der Rubine. Sie konzentrierte sich auf das üppige Blau der Türkise aus Khand und die funkelnden Tiefen der seltenen Saphire aus Harad. Plötzlich fühlte sie sich an die Augen des Ringträgers erinnert, und sie fragte sich, mit welchem Edelstein man ihn wohl vergleichen konnte. Nein, er war kein Saphir… sie konnte Schicht um Schicht unter der Oberfläche dieses ruhigen, geheimnisvollen Gesichtes erspüren, opalgleich schimmernd und von einem inneren Licht erleuchtet, das nicht ganz von dieser Welt war. Faramir allerdings erinnerte sie tatsächlich an einen Saphir – Klarheit und eine Stärke, die von überwundenem Kummer herrührte, gemeinsam mit der Reinheit eines wahrhaft noblen Charakters.

Artanis war neugierig, welche Art Juwel Sam Gamdschie, jener vierte, unbekannte Hobbit, wohl sein mochte… ein ergebener Diener, ein wahrer Freund und seinem Herrn ein Bruder im Herzen. Die intensive Tönung von Lapislazuli vielleicht, mit goldenen Funken durchsetzt… das klassische Blau von Ehrlichkeit und Treue. Süßer Eru, lass ihn am Leben sein, betete sie still, lass uns zur rechten Zeit kommen. Dann schrammte der Boden des Bootes über den Rand des östlichen Ufers.

Sie stiegen aus dem Boot, und dieses Mal übernahm Artanis die Führung. Sie geleitete die Gruppe zu den Überresten eines Gebäudes gegenüber des einzigen Pfeilers, der von der Großen Brücke geblieben war. Es war kaum mehr übrig von dem Haus als eine einzelne Mauer mit einem leeren, schön behauenen Fensterrahmen, der wahrscheinlich einmal kostbares Buntglas in vielen Farben umschlossen hatte. Sie trat vor das Fenster, blieb stehen und beugte sich zum Boden hinunter. Er war mit Staub, zerbrochenen Steinen und zerschmetterten Ziegeln bedeckt, aber sie wischte den Unrat mit ruhiger Hand beiseite und ihre Finger schlossen sich um einen Eisenring, der an einer kräftigen, hölzernen Falltür befestigt war. Peregrin pfiff durch die Zähne.

„Schlauer Einfall,” sagte er. „Aber was, wenn Eure Feinde hinter Euch her sind? Würden sie die Falltür nicht sehen, nachdem Ihr die Trümmer beiseite geräumt habt?”

„Ganz sicher würden sie das, Meister Peregrin,” erwiderte Artanis und hob die Tür an. „Aber wenn Ihr gegen die Decke des Tunnel schlagt, nachdem Ihr hinein geklettert seid, dann fallen genügend frische Trümmer von der baufälligen Mauer herab, um sie wieder zu verbergen.”

„Ich nehme an, man sollte nicht zu fest zuschlagen,” gab Pippin zurück und warf einen misstrauischen Blick auf die alte Ruine, „oder das ganze Ding kommt herunter und man kann nicht wieder heraus.”

Artanis lächelte, ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.

„Nur, wenn man die anderen Fluchtwege aus dem Tunnelsystem nicht kennt – und das tue ich. Macht Euch keine Sorgen, Meister Peregrin.”

„Aber ich mache mir gar keine S---“ protestierte Peregrin; Meriadoc unterbrach ihn, indem er ihm einen ungeduldigen Rippenstoß versetzte.

„Und ob du das tust, du Dummkopf,” sagte er, „genau wie ich. Und ich werde persönlich darauf achten, dass du in diesem Tunnel nichts fallen lässt. Das letzte Mal, als du das getan hast, hatten wir am Ende einen Balrog auf den Fersen.”*

Artanis klomm in den Tunnel hinab, gefolgt von Faramir und den Hobbits. Die junge Frau wagte nicht, die Fackel zu entzünden, die sie unter ihrem Mantel trug, aber sie kannte den Weg gut genug, auch ohne irgend etwas zu sehen. Sie gingen langsam, durch ihre Hände miteinander verbunden; Artanis’ Stimme war das einzige Geräusch in der Finsternis. „Geradeaus… langsam… Vorsicht jetzt, da ist ein kleiner Spalt im Fußboden… noch drei Schritte, dann wendet sich der Tunnel scharf nach links… langsam… beugt Euren Kopf, Herr!” Ein unterdrückter Fluch kam vom Ende der Reihe, gefolgt vom nervösen Kichern von Meriadoc und Peregrin.

Nach etwa einer halben Stunde blieb Artanis stehen.

„Ich werde jetzt meine Fackel anzünden, Herr,” sagte er sehr leise. „Etwa zwanzig Schritte voraus solltet Ihr eine Tür finden. Sie führt zu einem Raum, der in früheren Jahren als Zelle benutzt wurde, und als Rastplatz für die Wachen, bevor die Pläne verloren gingen und dieser Teil des Tunnelsystems gänzlich vergessen wurde. Ich bin sicher, der Gärtner ist dort.. und mein Vater auch.” Wieder fühlte sie sich von der Gefahr und dem Irrwitz der gesamten Lage überwältigt, aber mit einer starken Willensanstrengung nahm sie sich zusammen. „Eure Augen müssen sich wieder an das Licht gewöhnen, oder ihr werdet sehr im Nachteil sein, wenn Ihr hinein kommt und den Männern dort drinnen gegenüber tretet.” Sie schluckte mühsam. „Ihr müsst vorsichtig sein, Herr.”

„Das werden wir, und zwar wir alle.” erwiderte Faramir. „Vielleicht stellen wir fest, dass der König bereits Herr der Lage ist und der größte Teil der Gefahr vorüber.”

Artanis fragte sich, ob er das nur sagte, um sie zu beruhigen, aber sie sollte es nie herausfinden. Im nächsten Moment kam ein gedämpfter Schrei vom hinteren Ende des Tunnels, gefolgt von einem wütenden Ausruf und dem Klirren von Metall auf Metall. Faramir schoss vorwärts, die Hobbits auf den Fersen, und mit einem Knall flog die Tür zu dem verlassenen Wachraum auf.

*****

Sam blinzelte durch den Nebel aus Fieber und Erschöpfung. Die Kammer, die noch ein paar Sekunden zuvor totenstill gewesen war, war plötzlich von Stimmen und dem Scharren von Füßen erfüllt. Aragorn kniete noch immer vor ihm, einen Arm in einer Geste der Abwehr erhoben; Andúril war eine flammende Feuerzunge im Licht der Fackeln. Der Pfeifer versuchte, den Befehl seines Meisters zu befolgen, aber dann erstarrte er, den Mund weit offen, und das Messer, dass er in weiß verkrampftem Griff hielt, klapperte mit der Spitze zuerst auf den Boden. Er sank sehr langsam nach vorne und fiel flach auf das Gesicht; eine kleine Gestalt kam hinter ihm zum Vorschein, gespannt wie eine Bogensehne. Herr Merry! Wo um Himmels Willen kommt denn der her? dachte Sam verwirrt, aber dann sah er, dass auch Herr Pippin da war. Der Grinser packte das verwaiste Messer seines Kumpanen, kam auf die Beine und drehte sich um, um sich mit dem gesunden Arm zu verteidigen. Aber seine Waffe schnitt durch leere Luft, und plötzlich wurde eine kurze Klinge an seine Kehle gepresst. Er starrte hinunter in die Augen eines weiteren kleinen, gänzlich unerwarteten Kriegers.

„Du solltest dir deine Gegner sorgfältiger aussuchen.” sagte Peregrin Tuk mit kalter Stimme, seine Hand unbewegt. „Geringere Größe heißt nicht geringere Gefahr, du dummer Narr.”

Sams Blick flog nach links und er entdeckte – Wunder über Wunder! – Hauptmann Faramir. Einer seiner Arme lag eng um Ardhenons Hals und hielt ihn auf der Stelle fest. Das Gesicht des alten Mannes war kreideweiß, eine Mischung aus Wut und Verblüffung.

„Gebt mir einen Grund, Euch umzubringen,” zischte Faramir dicht an Ardhenons Ohr, „und ich werde Gondor freudig von einem schmutzigen Verräter befreien.”

Wieder blinzelte Sam und versuchte durch das wachsende, weiße Rauschen in seinem Kopf die dramatische Änderung der Dinge zu begreifen. Plötzlich durchdrang ein scharfer Schrei der Bestürzung den Nebel. Er kannte die Stimme und wandte instinktiv den Kopf, und dann wurde er in eine sanfte Umarmung gezogen und seine Stirn sank gegen die Schulter seines Herrn.

„Herr Frodo… du solltest nicht hier sein!” brachte er hervor und überließ sich gleichzeitig dem Trost der vertrauten Berührung. „Das ist doch viel zu gefährlich für dich. Streicher hat mir versprochen---” Und dann erinnerte er sich daran, dass Streicher ein wenig zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sein Leben zu retten, um sich auch noch um das von Frodo zu kümmern, und er gab ein schwächliches, kleines Glucksen von sich. „Bitte um Verzeihung, Herr… ich nehm’ mal an, das war Blödsinn.”

„Ganz bestimmt.” Frodos Antwort schwankte zwischen Lachen und Schluchzen. „Jetzt ruh deinen armen Kopf aus, mein lieber Sam. Ich verspreche dir, ich kümmere mich um dich.”

Sam spürte, wie warme Lippen über seine Stirn streiften und schloss die Augen in segensreicher, glücklicher Erleichterung.

*****

Als Artanis dem Raum erreichte, war der Kampf vorüber. Sie zögerte auf der Türschwelle und nahm die Szene in sich auf wie ein fremdartiges Gemälde. Am hinteren Ende des Raumes konnte sie den Ringträger sehen, der auf dem Boden saß und den Gärtner im Schoß hielt wie ein verloren gegangenes und endlich wiedergefundenes Kind. Einer der Männer ihres Vaters lag auf dem Boden, offensichtlich tot, der andere stand an der Wand zu ihrer Linken. Ein Arm hing an seiner Seite herab und sein Rücken war gegen den rauen Stein gepresst, während Meriadoc Brandybock emsig damit beschäftigt war, ihn zu fesseln. Peregrin Tuk kniete neben Frodo Beutlin und Samweis, und Faramir kauerte vor dem König, den dunklen Kopf über eine Wunde direkt unter Aragorns Knie gebeugt.

Wo war ihr Vater?

Dann fand sie ihn, eine hochgewachsene, verschattete Gestalt zu ihrer Rechten. Sie konnte nur sein Profil sehen, eine weiße, reglose Maske aus Stein. Plötzlich wollte sie sprechen, ein schwacher Versuch, den Grund für das zu erklären, was der finsterste Verrat sein musste für diesen stolzen Mann, dessen Pläne nun zerschmettert rings um ihn verstreut lagen. Aber ehe sie auch nur den Mund auftun konnte, sah sie, dass er sich bewegte.

Seile… da lagen Seilstücke auf dem Boden, sauber zerschnitten, und während sie noch immer hinschaute und zu begreifen versuchte, was sie sah, war es Ardhenon gelungen, auch seine Hände zu befreien. Ihre geweiteten Augen fingen ein kurzes Aufblitzen von Feuerschein auf Metall ein, und die Welt kam abrupt zum Stehen.

Ein Messer. Er hatte ein Messer.

Sie sah, wie er sich auf die Füße erhob, und dann machte er einen langen, lautlosen Schritt in Richtung des Königs. Natürlich – das war immer sein Plan gewesen, und er war noch immer verzweifelt entschlossen, diesen letzten, bösartigsten Sieg zu erreichen. Artanis hörte ein tiefes, heiseres Knurren und begriff verspätet, dass es ihre eigene Stimme war. Dann warf sie sich nach vorne und packte mit beiden Händen den Arm ihres Vaters.

Ardhenon kam stolpernd zum Stehen und starrte in zorniger Verwirrung auf das unerwartete Hindernis hinunter. Sie sah, wie das Verstehen in seinen Augen aufdämmerte – sein letztes Werkzeug hatte sich ganz und gar gegen ihn gewandt – und sie erstarrte unter der eisigen Druckwelle ihrer völligen Verdammung. Der Berg, der ihr ganzes Leben überschattet hatte, türmte sich über ihr auf, und da war weder Gnade noch Vergebung; ihr wurden die Knie weich und für eine Sekunde lockerte sie den Griff um ihres Vaters Handgelenk.

Der Arm mit dem Dolch schwang in einem flammenden Bogen herunter und kaltes Metall traf auf warmes Fleisch; Artanis spürte einen reißenden Schmerz in der Seite. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam heraus. Statt dessen begann die Welt wieder, sich zu drehen und kippte sachte zur Seite, während sie fiel, eine Hand gegen die heiße Feuchtigkeit gepresst, die den Stoff ihres Kleides durchtränkte. Sie spürte den rauen Stein des Bodens an der Wange und sah mit kristallener Klarheit, wie ihr Vater ohne einen Blick zurück noch einmal vorwärts schoss, die Lippen in einer wölfischen Grimasse von den Zähnen zurückgezogen, die Augen glasige Fenster zu wirbelnder Finsternis. Aber ehe er die Tat vollenden konnte, die er so lange geplant hatte, bewegte sich plötzlich eine der kleinen Gestalten, die sich um Samweis drängten. Peregrin, Ritter von Gondor, erhob sich mit einer fließenden, raschen Bewegung vom Fußboden und streckte zielsicher den Schwertarm aus; seine Klinge bohrte sich bis zum Heft in die Brust des alten Mannes.

Artanis versuchte, sich auf beide Hände aufzustützen; sie schwankte am Rand der Bewusstlosigkeit. Sie betrachtete die Szene rings um sich und schnappte leise nach Luft; später wusste sie nie genau, ob das, was sie in diesen letzten Momenten klarer Wahrnehmung gesehen hatte, wirklich gewesen war oder ein Ergebnis von plötzlichem Blutverlust und Schock.

Dort war der Ringträger… und ja, sie hatte Recht gehabt: ein seidiges Licht schimmerte rings um ihn her wie eine opalene Aureole, durchsetzt von Funken in Rot, Orange und Türkis. Aber die stille Gestalt in seinen Armen war nicht blau, sondern rot… das Rot von Jaspis, das die Wärme von lebendigem Blut und dunkler, fruchtbarer Erde ausstrahlte. Neben ihr glühte Peregrin in wabernder Hitze wie ein brennender Bernstein und verschluckte beinahe den kühlen Schimmer von Smaragd, wo der Hobbit Meriadoc stand. Und direkt vor sich konnte sie den beruhigenden, blauen Glanz eines vollkommenen Saphirs sehen; Faramir hatte seinen Kopf in ihre Richtung gewandt und betrachtete sie besorgt und in tiefem Mitgefühl.

Artanis blinzelte.

Der König… des Königs Farbe war so klar wie Adamant, durchscheinend, aber nicht von der stillen Kälte eines Steins oder Juwels… er war erfüllt von atemberaubenden Leben. Die Aureole rings um ihn her schimmerte purpurn, blau und in einem tiefen Moosgrün, wie ein kostbarer Turmalin. Sie begriff, dass es tatsächlich keinen Edelstein gab, den sie wählen konnte, um Aragorn vollständig zu beschreiben, den Sohn des Arathorn, Elessar, König von Gondor. In einer plötzlichen Offenbarung verstand sie, dass das, was sie wahrnahm, die Essenz des uralten Königtums war, die mit heftiger, goldener Flamme in seinem Fleisch loderte.

„Vergebt mir, mein Herr,” flüsterte sie, während ihr der salzige Eisengeschmack von Blut in die Kehle stieg. „Ich habe es nicht gewusst.”

Und dann hüllte die Dunkelheit sie ein und die Welt verlor alle Farben.

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*Diese bissige Bemerkung bezieht sich auf die Filmversion der „Die Gefährten”-Szene in Moria – natürlich. Wie Peter Jackson fand ich es immer schwer zu glauben, dass ein einziger Kiesel, der in einen alten Brunnen fällt, eine solche Katastrophe auslösen würde. Aber ich glaube, dass der infernalische Lärm, den Pippin in der Filmszene machte, als er diesen Schädel, den Helm, die Waffen und die Kette in den Brunnen purzeln ließ, durchaus ausreichen würde, um einen schläfrigen Balrog aufzuwecken!


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