Der Aufstieg der Lerche (The Rising of the Lark)
von Cúthalion


Kapitel Vier
Im Ballsaal

„Grün vielleicht,“ meinte die Schneiderin gedankenvoll; sie legte den Kopf schräg und betrachtete die junge Frau vor sich von Kopf bis Fuß. „Nicht zu dunkel und nicht zu hell... moosgrün, denke ich. Ein tiefes Moosgrün.“

„Die Farbe ist mir gleich,“ sagte Lírulin und schluckte nervös, „solange es passt. Und Ihr habt sowieso nicht die Zeit, ein neues zu nähen. Ich brauche es morgen.“

„Darüber bin ich mir vollkommen im Klaren,“ entgegnete die Schneiderin. „Ich habe ein Dutzend Kleider mitgebracht, auf die Ihr vielleicht einen Blick werfen wollt. Siriwen? Herein mit dir, Mädel, aber schnell!“

Eine junge Dienerin kämpfte sich durch die schmale Tür in das sonnenhelle Wohnzimmer: sie wurde von dem riesigen Stoffberg behindert, den sie zu tragen versuchte, ohne die ganze Ladung fallen zu lassen. Lírulin eilte ihr zur Hilfe und die Kleider landeten sicher auf dem Tisch, ein Regenbogen aus Farben von tiefstem Purpur zu hellstem Blau.

Die Schneiderin hob den Ärmel des obersten Kleides an; es war aus dunkebraunem Samt, reich geschmückt mit Spitze und gestickten Blumen.

„Nein,“ sagte sie entschieden. „Nicht Eure Farbe, und viel zu warm. Wir wollen doch nicht, dass Ihr mitten während eines Tanzes in Ohnmacht fallt, oder?“ Ein Kragen aus Klöppelspitze tauchte zwischen ihren Händen auf, befestigt auf einem gelben Seidenmieder. „Ihr würdet aussehen wie ein übergroßer Kanarienvogel. Wie wäre es mit kirschrotem Satin...“

Das fragliche Kleid wurde geprüft, erwogen und verworfen.

„Vielleicht sollte ich die ganze Sache einfach vergessen,“ bemerkte Lírulin und runzelte die Stirn. „Ehrlich, die Vorstellung, den ganzen Abend unter all diesen Herren und Damen zu verbringen, macht mir Angst. Wieso kann ich Königin Arwen denn nicht besuchen, wenn wir das nächste Mal in Minas Tirith sind?“

„Gute Frage,“ murmelte Noerwen vor sich hin. Doch dann straffte sie sich und setzte ein zuversichtliches, ermutigendes Lächeln auf. „Genieß den Ball, Kind,“ sagte sie. „In deinem besonderen Fall kennst du den fraglichen Prinzen sogar schon, und das ist immerhin ein Segen.“

„Ich hab's!“ Es war ein Ausruf reinen Triumphes, und er kam von der Schneiderin. Sie zog ein Stück schimmernder, grüner Seide aus dem Stapel. „Das hier.“

Es war ein schlichtes Kleid, mit einem runden Ausschnitt. Die einzige Verzierung bestand aus einer gestickten Efeuranke in blassem Silber, die sich von der linken Schulter hinunter zog bis zum Saum. Die langen Trompetenärmel waren aus dünnerem Stoff gemacht, durchscheinend wie ein zarter Schleier.

„Bitte sehr. Und jetzt geht und probiert es an,“ kommandierte die Schneiderin. „Mit ein wenig Glück muss ich es nur hier und da ein wenig abändern.“

Lírulin legte das Kleid behutsam zusammen und verließ das Zimmer. Die Schneiderin kramte in ihrem Beutel herum und zog Faden, eine kleine Blechbüchse mit Nadeln und eine Schere heraus. Noerwen stand am Fenster und blickte auf die sonnenbetupfte Wiese hinaus. Wieder dachte sie an den Ball... eine Versammlung der edelsten Damen von Gondor, die ihre gut erzogenen, gut gekleideten Töchter einem jungen Mann präsentierten, von dem erwartet wurde, dass er die richtige Wahl traf... oder eher noch, dass er den harmlosesten Raubfisch in einem Becken voller Haie fand. Der arme Junge.

Und nun wurde ihre Tochter gezwungen, ebenfalls in diesen gefahrvollen Gewässern zu überleben, wenn auch nur für einen Abend. Noerwen würde Arwen das eine oder andere zu sagen haben, Abendstern ihres Volkes oder nicht.

„Mama?”

Sie drehte sich um... und dann stand sie ganz still und atmete langsam aus.

Lírulin wartete auf der Türschwelle; sie kaute auf ihrer Unterlippe. Sie hatte den Zopf gelöst, den sie üblicherweise trug und ihr Haar ausgekämmt; es fiel in glänzenden Wellen über Schultern, die das Kleid, das sie trug, beinahe entblößte. Der Ausschnitt war tief – nicht tief genug, um ungehörig zu sein, doch er zeigte eine köstliche Ahnung vom Brustansatz des Mädchens...nein, nicht mehr ein Mädchen, dachte Noerwen, sondern statt dessen eine Frau. Gründe Seide floss auf ihre Füße hinab und liebkoste auf dem Weg runde, feste Brüste und sanft geschwungene Hüften, und sonnengetönte Haut schimmerte durch das dünne Gewebe der Ärmel. Es war ein schlichtes Kleid, doch gemeinsam mit Lírulins natürlicher Lieblichkeit wirkte es atemberaubend.

Noerwen schluckte. „Du... du bist wunderschön.“

Lírulin antwortete nicht, aber sie lächelte, und es war ein strahlendes Lächeln. Eine ganze Weile war es still im Zimmer, dann gab Siriwen, die Dienerin, ein wässeriges Schnüffeln von sich, gefolgt von einem entschlossenen Schnauben der Schneiderin.

„Nun, Herrin Noerwen, wenn wir uns jetzt um die naheliegendste Aufgabe kümmern könnten...“

„Natürlich,“ sagte Noerwen und schüttelte die Verzauberung ab. Lírulin stellte sie auf wie ihr geheißen und streckte gehorsam beide Arme vom Körper weg, während die Schneiderin auf dem Holzfußboden kniete, und Siriwen aus dem Mundwinkel Anweisungen zumurmelte, während sie entschied, wo das Kleid noch mit ein paar Stichen angepasst werden musste und die in Frage kommenden Stellen mit einer Unzahl von Nadeln markierte. Nachdem sie ihr eine halbe Stunde bei der Arbeit zugesehen hatte, räusperte Noerwen sich.

Würdet Ihr mich entschuldigen? Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Lírulin, aber ich muss einen kurzen Blick auf die Beinwellsalbe werfen, die ich heute Morgen angesetzt habe. Nebenbei kommt dein Vater bald zurück; ich sollte mich um unser Mittagessen kümmern.“

„Laffp piefe Fönheip hier niff pufiel effen,“ sagte die Schneiderin; Stecknadelköpfe ragten zwischen ihren Lippen hervor „Oper paf Kleip kneifp an ein paar fehr unangenehmen Ftellen.“

Lírulin hob eine Augenbraue und unterdrückte ein Kichern.

„Sie gibt dir den Rat, die Mahlzeiten auszulassen, bis der Ball beginnt, oder dein Kleid könnte zu eng werden, um noch bequem zu sein,“ übersetzte Noerwen; ihre Augen zwinkerten. „Die meisten der jungen Edelfräulein werden zweifellos genau das tun.“

„Also, ich tue das ganz ohne Zweifel nicht,“ sagte Lírulin, eine entschlossene, steile Falte zwischen den Augenbrauen. „Es ist sowieso nur ein Abend, und zum Glück wird nicht von mir erwartet, dass ich Elboron den Kopf verdrehe.“ Sie hielt inne, dann fuhr sie mit einem winzigen Seufzer fort: „Er wird mich sowieso kaum bemerken.“

Wenn er das tatsächlich nicht tut, dann ist er so blind wie ein Maulwurf, dachte Noerwen. Aber sie sagte es nicht laut.

*****

Der Abend des Balles nahte heran. Lírulin hatte ein Bad genommen, und das Kleid wurde gerade rechtzeitig geliefert. Zusammen damit kam eine kleine Schachtel aus Holz; in den Deckel waren elbische Buchstaben eingraviert, und er war mit Perlmutt eingelegt. Noerwen öffnete die Schachtel und fand eine klein zusammen gefaltete Nachricht.

Ich glaube nicht, dass Eure Tochter viele Juwelen nötig hat, um ihre Schönheit zu unterstreichen, aber das hier wird ihr hoffentlich ein wenig Freude machen.

A.

Auf einem Bett aus schwarzem Satin lag eine Blume, ein runder Smaragd, von Blütenblättern aus Süßwasserperlen umgeben und an einem grünen Samtband befestigt. Sie war klug gewählt... der perfekte Schmuck für eine unschuldige Jungfer. Nicht zum letzten Mal fragte sich Noerwen, wieso um Himmels Willen Arwen so ein grundlegendes Interesse an der Erscheinung ihrer Tochter nahm; doch dies war etwas, was sich im Moment nicht beantworten ließ.

Sie ließ Lírulin genügend Gelegenheit, das unerwartete Geschenk der Königin zu bewundern, während sie sich mit dem Haar des Mädchens beschäftigte. Statt eine komplizierte Krone zu erschaffen, nahm sie einfach zwei dicke Strähnen von dort, wo es Lírulins Gesicht einrahmte; sie flocht sie zu zwei schlichten Zöpfen und befestigte sie an ihrem Hinterkopf. Noerwen wusste, dass ein paar von den etwas mutigeren Damen am Hof von Gondor die Angewohnheit entwickelt hatten, die Frisur ihrer elbischen Königin nachzuahmen. Erst nachdem ihre Tochter sie nach einer innigen Umarmung verlassen hatte, erinnerte sie sich plötzlich daran, was Legolas ihr vor einigen Jahren erzählt hatte: das Elbenkrieger ihr Haar genauso zähmten, wie sie die schwarzen Locken ihrer Tochter gezähmt hatte – bevor sie in die Schlacht zogen. ---

Die Residenz war hell erleuchtet, als Lírulin aus dem kleinen Einspänner kletterte. Die Prinzessin Éowyn hatte einen der Kutscher von Emyn Arnen geschickt, um sie abzuholen; Malegond, ein alter, mürrischer Mann mit einer Narbe, die von seiner linken Schläfe bis zu seinem Hals hinunter lief. Sie kannte ihn praktisch, seit sie laufen gelernt hatte, und sie war mit seinem Geschichten über die Schlacht auf den Pelennorfeldern aufgewachsen. Der verblüffte Ausdruck auf seinem mürrischen Gesicht, als er sie zum ersten Mal in dem grünen Kleid gesehen hatte, wärmte sie noch immer und verlieh ihr Mut.

Er geleitete sie zum Haupteingang, wo sie von Aranel in Empfang genommen wurde, einer von Königin Arwens Hofdamen; es war eine junge, freundliche Frau, die Lírulin ebenfalls bereits kannte, und auch sie hatte man mit Bedacht ausgewählt. Als Lírulin drei Jahre zuvor Minas Tirith besucht hatte, hatte sie viele Stunden damit zugebracht, ihr beizubringen, wie man eine Kissenhülle bestickte. Lírulins Hände waren geschickt und zuverlässig, wenn es um heilende Pulver und Tränke ging, aber wann immer sie Nadel und Faden in die Finger bekam, vermochte sie mit einem unschuldigen Stück Stoff großes Unheil anzurichten. Unter der geduldigen Anleitung von Aranel hatte sie tatsächlich etwas ziemlich Vorzeigbares zustande gebracht, und sie hatte es ihrer Mutter zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Und nun reichte die Gegenwart ihrer freundlichen Lehrerin aus, dass sie sich beschützt und halbwegs selbstsicher fühlte, als sie endlich die Tür zum Ballsaal erreichte.

Es war eine beeindruckende Szene... junge Edeldamen in festlichen Gewändern, so bunt und mannigfach wie ein Blumengarten in voller Blüte, umkreisten prunkvoll gekleidete Höflinge mit den langsamen, gemessenen Schritten eines zeremoniellen Tanzes. Die Luft war von der Musik von Flöten, Geigen und Lauten erfüllt, und schwer vom Duft unterschiedlicher Parfums. Am hinteren Ende der Halle hatte man vier goldene Sessel auf einem Podest aufgereiht:sie sah Fürst Faramir und die Prinzessin Éowyn, und neben ihnen Aragorn und Arwen. Die schiere Anwesenheit von so viel hochgeborenem Blut hätte selbst die Knie einer wesentlich wagemutigeren Person zum Zittern gebracht, und für einen kurzen, schwindelerregenden Moment verspürte Lírulin den überwältigenden Drang, Fersengeld zu geben.

Sie erbleichte und scheute unwillkürlich zurück, aber dann berührte eine warme Hand sie an der Schulter.

„Habt keine Angst,“ sagte Aranel. „Ihr genießt die Gunst einer Königin und einer Prinzessin, und der Erbe von Ithilien ist seit Kindheitstagen Euer Freund. Und nebenbei...“ Sie kam ein wenig näher; ihre Stimme klang verschwörerisch. „Er verdient ein freundliches Gesicht unter all diesen Schönheiten auf der Jagd nach seiner Hand, denkt Ihr nicht?“

Als hätte die Erwähnung von Elboron gewirkt wie ein Zauber, entdeckte Lírulin ihn plötzlich. Er tanzte in der Nähe des Podestes und hielt die Hand eines hübschen Mädchens, das in Rosa und Gold gekleidet war. Ihr blondes Haar war eine kunstvoll aufgetürmte Lockenpracht, mit Rosenknospen geschmückt. Sie gaben ein schönes Paar ab, und Elborons Haltung war makellos, aber Lírulin, deren Blick durch ihr eigenes Unbehagen geschärft war, konnte seine Anspannung sehen und verspürte einen kurzen, unerwarteten Stich des Mitgefühls.

„Wahrscheinlich habt Ihr Recht,“ sagte sie langsam. Sie sah zu, wie Aranel eine der großen Flügeltüren öffnete und einen Diener heran winkte. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Mann bahnte sich einen Weg zwischen Tänzern und Musikanten hindurch, bis er das Podest erreichte. Er verneigte sich vor der Königin, die aufschaute und einen suchenden Blick zum anderen Ende des Saales warf. Nun war der Tanz zu Ende; Elboron führte das Mädchen zu ihrem Platz zurück. Lírulin entdeckte einen älteren Mann und neben ihm eine blonde Frau mit den selben blonden Locken wie das Mädchen; vermutlich ihre Eltern. Der Diener traf in der Mitte des Ballsaales mit Elboron zusammen, während er auf das Podest zuging. Er verneigte sich zum zweiten Mal. Plötzlich leuchtete das Gesicht des jungen Prinzen auf, und im nächsten Moment kam er mit raschen Schritten auf die Tür zu.

Hin zu ihr.

Mit plötzlicher Klarheit begriff sie, dass dies ihre letzte Gelegenheit war, sich zurückzuziehen. Der junge Mann, der sich ihr näherte, war nicht der schlaksige Bursche, den sie erbarmungslos geneckt hatte, während sie mit bloßen Füßen auf einem Baum hockte... nicht einmal der Fremde, den sie erst vor drei Tagen splitternackt am Flussufer entdeckt hatte. Er war ein Prinz, der Erbe von Ithilien, festlich in Samt und Seide gekleidet, und sein Gesicht war das Gesicht eines Mannes.

Und dann war er da, und er selbst öffnete die Tür. Sie trat über die Schwelle in den Ballsaal und er nahm ihre Hand.

„Du hast also tatsächlich das richtige Kleid für den Anlass,“ bemerkte er leise; in seinen Augen glitzerte ein heimliches Lachen. Sie erinnerte sich an ihr gut gelauntes Wortgefecht auf dem Rückweg zum Haus ihrer Mutter, und ihr Gesicht entspannte sich, „Obwohl ,das richtige Kleid' mir wie die Untertreibung des Jahres vorkommt. Du siehst... unglaublich aus.“

Sie lächelte schwach. „Die Schneiderin deiner Mutter hat das Kleid ausgewählt; du solltest wohl besser sie loben. Nebenbei – in dem Kleid stecke immer noch ich.“

„Und Eru sei Dank dafür,“ bemerkte er trocken. „All diese Schönheiten sind ungemein höflich, verblüffend hübsch und so unfassbar wohlerzogen, dass sie mich zu Tode langweilen. Mir eine Braut zu suchen sollte angenehmer sein, um Himmels Willen.“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Deshalb schwieg sie, aber sie drückte seine Finger ein klein wenig fester.

„Tanz mit mir, wina min,“ sagte er. „Mutter hat mir versprochen, dass an diesem Abend wenigstens ein halbes Dutzend Rohirric-Tänze gespielt werden sollen, also haben wir vielleicht Glück.“

Und Glück hatten sie; die Musikanten stimmten eine lebhafte Melodie an, und die Tanzfläche leerte sich beträchtlich. Heutzutage waren die Damen von Gondor an die Weisen gewöhnt, die die Prinzessin von Ithilien aus ihrem barbarischen Heimatland im Norden mitgebracht hatte, aber die schnellen, ausgelassenen Tänze galten nach wie vor als ein wenig... skandalös. Und so stand mehr als die Hälfte der noblen Gäste in ungläubiger Reglosigkeit da und sah zu, wie der Erbe von Ithilien eine strahlend schöne junge Frau in einem fröhlichen Galopp herum schwenkte. Flachsblondes und schwarzes Haar mischten sich jedes Mal, wenn er sie zurück wirbelte in seine Arme.

*****

Lírulin genoss den Ball, ganz so, wie ihre Mutter es ihr geraten hatte. Sie umarmte das Fest wie ein Kind, dem unerwartet eine Belohnung zuteil wurde, und sie dachte keinen Moment daran, dass ihr irgendjemand die Freude missgönnen könnte, die sie empfand. Dass sie umgeben von der liebenden Fürsorge ihrer Eltern aufgewachsen war, hatte sie nicht eben auf gewisse Fallstricke von Eifersucht und Neid vorbereitet...und als der Schlag fiel, traf er sie ohne Vorwarnung.

Der Abend verging unter Musik und Gelächter. Der Himmel verdunkelte sich langsam von hellem zu dunklen Blau, während die Sonne unterging, Pasteten, Kuchen, Obst und Salate, gekühlter Wein und würziger Punsch wurden in den Pavillons draußen auf dem Rasen serviert. Die Gäste schlenderten die Gartenpfade entlang, plauderten und knabberten kleine Leckereien. Lírulin war ihrem letzten Bewunderer entkommen; sie ließ sich in einem der Pavillons nieder, versteckt hinter einem Stützpfeiler, der mit Blumen und Efeuranken umwunden war.

Für einen Augenblick fühlte sie sich unbeobachtet und nutzte die Gelegenheit, ihre dünnen Seidenschuhe abzustreifen. Elborons offene Wertschätzung hatte ihr die Aufmerksamkeit von so manchem Höfling eingetragen, der sie normalerweise wahrscheinlich nicht beachtet haben würde. Sie konnte kaum noch zählen, wie viele von ihnen sie auf die Tanzfläche geführt hatten, und obwohl sie weit davon entfernt war, erschöpft zu sein, begannen ihre Füße weh zu tun. Und so wackelte sie mit den Zehen, dankbar für die Chance, sich auszuruhen. Sie steckte sich Birnen- und Pfirsichscheiben von einem Teller in den Mund, den sie auf den Knien balancierte.

„...ich kann nur hoffen, dass ihr mir Wein mitgebracht habt! Ich bin geradezu ausgedörrt, und ich habe wirklich keine Ahnung, wieso Mutter darauf bestanden hat, mich hierher mitzuschleppen. Wen kümmert schon ein Prinz, der seine ganze Aufmerksamkeit an irgend so ein unbekanntes Fräulein verschwendet, von dem noch nie jemand etwas gehört hat?“

Lírulin erstarrte und hätte beinahe den Teller fallen lassen. Sie stellte ihn behutsam auf den Boden, lehnte sich in ihrem Sessel vor und spähte hinter die Säule. Zu ihrem Staunen und ihrer Bestürzung entdeckte sie das junge Mädchen, mit dem Elboron zuerst getanzt hatte, als sie noch draußen vor dem Ballsaal wartete. Die junge Dame war von einem Hofstaat anderer Mädchen umgeben, und sie trank aus einem Glas, das eine ihrer Gefährtinnen ihr reichte. Sie war lieblich, ihre Haut zart wie ein Rosenblatt, aber ihr Gesicht war das eines verwöhnten Kindes, das sich mit einem Spielzeug langweilte... übel gelaunt und unzufrieden.

„Wer ist das überhaupt?“ fragte sie, stellte das Glas achtlos ab und fächelte sich mit einem feinen Taschentuch Luft zu. „Sie erscheint aus dem Nichts, und plötzlich scheint sich der ganze Hof nur noch um sie zu drehen. Es geht das Gerücht, dass die Königin sie eingeladen hat- aber wenn die Braut schon gewählt ist, wozu dann eine solche Scharade?“

Die Braut? Lírulin sank in ihren Sessel zurück; ihr drehte sich der Kopf. Der süße Pfirsichgeschmack in ihrem Mund wurde plötzlich bitter.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Braut ist,“ sagte eines der anderen Mädchen, in dem hörbaren Versuch, die junge Dame zu beschwichtigen. „Ich habe gehört, sie sei die Tochter einer Frau, die die Gunst von Prinzessin Éowyn genießt... und das würde bedeuten, dass die Einladung eine freundliche Geste ist, nicht mehr.“

„Ja,“ fügte eine anderen hinzu, eifrig bemüht, zu gefallen. „Die Mutter des Mädchens ist dem Vernehmen nach die Heilerin von Ithilien... sie ist mit einem von Fürst Faramirs Waldläufern verheiratet und steht seit Jahren im Dienst der fürstlichen Familie. Soweit ich herausfinden konnte, heißt sie Noerwen.“

„Noerwen?“ Die Reaktion kam so scharf wie ein Peitschenhieb. „Meine Mutter hat mir von ihr erzählt! Sie sind sich bei einem Frühstück für die Hofdamen begegnet, am Hof in Minas Tirith, und Noerwen hat sie auf eine so abscheuliche Weise gekränkt, dass meine Mutter sich gezwungen sah, sofort zu gehen.“

Lírulin fuhr zusammen; ihr zitterten die Hände. Sie hatte von dieser verhängnisvollen Begegnung gehört. Ihre Eltern hatten sich darüber unterhalten, ohne zu wissen, dass sie sich im Zimmer nebenan befand, und in diesem Moment war die Geschichte ihr beinahe komisch vorgekommen. Doch jetzt verspürte sie keinerlei Lust, zu lachen; dies musste die Tochter des Herrn Angbor von Lamedon und seiner Frau Alassiel sein... die Frau, die ihre Mutter eine aufgeblasene Kuh mit der Zunge einer Natter genannt hatte. Die nächsten Worte, die sie hörte, übertrafen sogar noch ihre schlimmsten Befürchtungen.

„Wartet...“ Die Stimme von Herrn Angbors Tochter war leise, aber immer noch wütend. „Das hier ist Prinz Elborons Heimatland, und er muss dieses Mädchen seit seiner Kindheit kennen. Aber sie ist kein Kind mehr, und er auch nicht.“

Du denkst doch nicht, dass sie...“ Es klang wie eine Mischung aus einem Kichern und einem schockierten Schnappen nach Luft.

„Wieso nicht?“ Die junge Dame senkte die Stimme; plötzlich begriff Lírulin, dass sie – trotz ihrer hochnäsigen Empörung – ihr saftiges Stück Verleumdung durchaus genoss. „Stellt euch das vor – er hat sich schon mit ihr im Heu gewälzt, bevor er seinen Dienst im Heer des Königs antrat. Und jetzt kommt er nach Hause, sucht angeblich unter dem eldelsten Nachwuchs von Gondor nach einer Braut, und alles, woran er denken kann, ist, seine kleine Schlampe in den Palast einzuschmuggeln, um uns alle zum Gespött zu machen!“

Lírulin kam stolpernd auf die Beine; wie konnte sie von diesem Ort entkommen, ohne dabei entdeckt zu werden? Plötzlich blähte ein kräftiger Windstoß die Zeltwand direkt neben ihr. Er war erstaunlich kalt und brachte den Geruch nach Regen mit sich. Lírulin hörte erschrockene Stimmen und hastige Schritte, während die Gäste sich eilig in die Sicherheit des Palastes zurückzogen, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Minuten verstrichen quälend langsam,und als sie zum zweiten Mal hinter die Säule spähte, war niemand mehr im Pavillon.

Sie stand zwischen leeren Tischen und Stühlen, das Gesicht kalkweiß. Sie konnte nicht zu dem Fest zurück... sie fühlte sich vollkommen außerstande, irgendjemandem gegenüber zu treten, und am allerwenigsten Elboron. Die bösen Mutmaßungen, die sie gerade erst belauscht hatte, dröhnten ihr noch immer in den Ohren. Ihr üblicher Mut und ihr Selbstvertrauen waren zerschmettert, und sie dachte, sie müsste sterben vor Scham.

Sie dachte nicht an Malegond und seinen Einspänner, nicht daran, irgendjemandem zu sagen, dass sie gehen wollte, und warum. Sie schlüpfte einfach aus dem Pavillon, die Seidenschuhe immer noch in der Hand – und traf auf eine veränderte Welt. Der blaue Abendhimmel hatte sich zu stürmischem Schwarz verdunkelt; Wolken drängten von den Bergen heran und verbargen die Sterne, und als sie den Kopf in den Nacken legte, fielen ihr die ersten schweren Tropfen auf das Gesicht.

Es kümmerte sie nicht. Sie kannte jeden Baum und jeden Felsen in dieser Gegend, und wie ein krankes, erschöpftes Kind konnte sie nur daran denken, nach Hause zu gelangen und ihre Mutter zu finden. Sie überquerte den Rasen, während der Boden unter ihren Füßen zu glitschigem Schlamm aufweichte. Ihr Rock blieb an der eisernen Pforte hängen, die Éowyns Gärten von den Wäldern trennte und zerriss, und immer noch rannte sie, blindlings der einzigen Zuflucht zugewandt, die ihr einfiel. Minuten später verschwand sie im Schatten der Bäume.

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Wina min – Rohirric für „meine Freundin"


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