Märzfrost (Marchfrost)
von SilverMoonLady, übersetzt von Cúthalion

Estella hat einen leichten Schlaf; den hat sie immer, deshalb wird ihr die Änderung von Merrys Atmung bewusst, noch bevor die gemurmelten Worte die Stille der Nacht durchbrechen. Sie nimmt sich einen Augenblick Zeit, die Glut in dem kleinen Kamin zu schüren und Wärme und Licht wiederzuerwecken. Flammen haben eine gewisse Macht gegen diese Finsternis, wie sie wohl weiß.

Sie schlüpft zurück in ihr breites Bett; sie sitzt neben ihm, lauscht dem vertrauten Beginn seines Alptraums und fragt sich, wie weit er wohl heute Nacht fortschreiten wird. Sie hofft nicht länger, mehr aus diesen unglückseligen Vorkommnissen zu lernen. Sie möchte einfach, dass die Schatten von ihren verstörenden Besuchen ablassen und ihn nicht mehr mit dem Widerhall längst vergangener Taten bekümmern.

„Die Stadt steht in Flammen... Es ist zu spät...“

Minas Tirith. Die Pelennorfelder. Dass sie die Geschichte kennt, hilft ihr nicht wirklich, obwohl Pippin dachte, es wäre vielleicht so.

Seine Muskeln ziehen sich unter ihren Fingern zusammen, seine Schultern sind verspannt vor Anstrengung und wachsender Furcht. Er klammert sich an sie, als hinge sein Leben davon ab, sie weiß es, aber dies ist der leichte Teil. Plötzlich erstarrt er, die Fäuste hart in die Decke verkrampft. Estella spannt sich an.

„Er kommt...“

Ein Schaudern durchschüttelt ihn und scheint auf ihren Körper überzugreifen. Sie kann seine Angst schmecken, und sie wird zu ihrer eigenen.

„Er ist hier...“

Jetzt umspült hohler Schrecken das Fußende des Bettes wie ein Teich aus Finsternis. Ob durch die Kraft ihrer erschöpften Einbildung oder irgendeinen rachsüchtigen Funken dieses verfluchten Geistes, heute Nacht besitzt der Alpdruck Substanz. Aber Merry weiß es nicht besser, die Augen geschlossen und noch immer in seinen Erinnerungen verloren.

„Halt stand, du Narr und Feigling! Er ist tot, lass sie nichts noch schlimmeres tun!“ Die bittere Selbstverachtung, die sie hört, ist beinahe schlimmer als die hoffnungslose Furcht, der sie entgegenzutreten sucht.

Seine Hand sucht herum und verfängt sich in den Laken, aber die gesuchte Klinge findet sie nicht. Estella bekommt sie zu fassen und bietet ihm ein lebendiges Rettungsseil in die Wirklichkeit. Diese einfach Berührung hat ihn manchmal aus dem Traum herausgeholt, aber nicht heute Nacht.

Das Gefühl der Bosheit, das aus der schattigen Ecke neben dem Bett hervorquillt, verdoppelt sich wieder und scheint daraus neue Macht zu ziehen. Estella drückt die geliebte Hand zwischen ihren eigenen und spürt bereits die furchtbare Kälte, die unter seine Haut sickert. Sie kann den Blick nicht von dieser fast fühlbaren Finsternis abwenden; Furcht nährt die Einbildung, aber sie muss nicht auf Merrys Gesicht hinunterschauen, um sein Entsetzen zu sehen, zu wissen, dass es der Tod ist, der nahe über ihnen schwebt.

„Sie soll nicht ohne Hilfe sterben, oder allein! Geh weg von ihr!“

Seine Finger verkrampfen sich nichtsdestotrotz um ihre Hand, kalt wie Eis, während reine Willenskraft ihn auf dem zerwühlten Bett hoch und auf die Knie zwingt. Seine Augen sind jetzt offen; sie nehmen seine Umgebung nicht wahr, sie sehen nur die Gespenster einer lang vergangenen Schlacht und eines zu spät überwundenen Feindes.

„Èowyn!“ Ihr Name ist ein Wimmern, denn Alpträume halten den Trost der Wahrheit fern, und für ihn scheint sie tot zu sein.

„Im Stich gelassen...“ flüstert er, die Stimme von Trauer erstickt, und er fällt mit dem Gesicht nach vorn auf die hochgetürmten Decken. „Ich habe sie alle im Stich gelassen...“ Im schwachen, flackernden Licht des Feuers scheint das dunkle Übel der Verzweiflung nicht zu schwanken wie es soll, sondern sich zu neigen und auf seine gebeugte Gestalt zuzugleiten. Estella ist nicht imstande, sich von dieser Annäherung abzuwenden, aber es ist weder Merrys eisenharter Griff noch ihr unwissender Schrecken, der sie auf der Stelle festhält. Es ist Zorn... flammende Wut auf dieses namenlose Ergebnis unverdienter Schuld und alter Bosheit, die den verfolgt, den sie liebt.

„Zurück mit dir in das Grab mit deinen verfaulten Knochen, wo immer es auch liegt, und quäl uns nicht länger!“ Estella ist schockiert, ihre zitternde Stimme ungebeten in die Stille hinein aufschreien zu hören.

Und wie von einer unsichtbaren Hand umgestoßen kracht ein Holzscheit, schickt einen Funkenschauer in die Nacht und überspült den Raum mit plötzlicher Helligkeit. Als das Licht einmal mehr verblasst, ist da kein Fleck von tieferem Schwarz inmitten der Schatten des Zimmers, keine Drohung, die von Fußende des Bettes her ausstrahlt... und Merry beruhigt sich. Atem und Körper entspannen sich und er gleitet zurück in den Schlaf.

Mit einem letzten Blick durch das Zimmer zieht Estella die Decke um sie beide hoch und legt sich neben ihn. Bald wird das Feuer ersterben und den Raum bis zum Morgen kalt zurücklassen, aber für den Moment kann sie sich nicht darum kümmern; sie ist noch immer zu erschüttert, um von seiner Seite zu weichen und es anständig zu schüren. Sie rollt sich dicht an seinem Körper zusammen und Merry streckt einen Arm aus, um sie noch dichter an sich zu ziehen. Seine Hand ist nicht länger von eisigem Tod berührt, sondern stark und warm, wie sie sie immer gekannt hat.

In den drei Monaten seit Jul hatten sie Frieden, aber vielleicht ist es zuviel zu hoffen, dass der Frost gemeinsam mit dem Märzmonat vergeht...

ENDE


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