Eine Blüte aus Marmor
von Neume Indil

Ich bin immer wieder verblüfft über die Stärke in meiner zukünftigen Frau. Während der Zeit ihrer Erholung vor einem Jahr beklagte sie sich nie über die Schmerzen oder den Juckreiz oder das Schuldgefühl, zurück gelassen worden zu sein; nicht einmal hat sie untröstlich in der Öffentlichkeit geweint. Ihre Trauer, obgleich allgemein bekannt und bestätigt, wurde niemals zur Schau getragen, um sich Gunst oder Mitleid zu erkaufen - wie andere, die weniger verloren hatten und noch weniger Hilfe leisteten, es in jenen Tagen taten. Wenn Zeit zum Trauern war, dann trauerte sie, und wenn keine war, dann machte sie sich an die Arbeit. Das – so fand ich schnell heraus – war ihre Art, denn Arbeit gab es immer. Trauer nicht.

Éowyn wollte kein „Nein“ gelten lassen, als diejenigen von uns, die in Minas Tirith zurück geblieben waren, sich versammelten, um über die Verteidigung der Stadt zu sprechen; sie nahm an jeder Versammlung teil, das goldene Haar straff geflochten; das zu kurze Kleid, das einst meiner Mutter gehört hatte, ließ sie bleicher und verhärmter aussehen, als sie es in Wirklichkeit war. Ihre Gedanken zur Lage waren überaus hilfreich, ihr Verständnis der Art, wie ihr Volk Krieg führte, übertraf die irgendeines Herrn von Gondor bei weitem, denn sie war die einzige Anwesende, die sie aus erster Hand kannte, so wie ein Krieger es tut. Sie war nicht die zerknitterte, launische Lilie der Mark, die meine Befehlshaber erwartet hatten; hier – sagte einer, nachdem sie uns verlassen hatte – war eine Blüte aus Marmor, glatt und weiß und kühl und dazu gemacht, dem Gewicht der Welt zu widerstehen.

Doch sahen sie sie nicht in der Morgendämmerung, wie sie über Balkone und durch Gärten strich, den Blick stets nach Osten gewandt. Sie sahen sie nicht zur Mittagszeit, wie sie versuchsweise ihren allzu mitgenommenen Schildarm dehnte – merkwürdig, von einer Frau mit einem Schildarm zu sprechen – damit die Muskeln nicht schrumpften. Sie sahen sie nicht in der Abenddämmerung, wenn sie wieder nach Osten schaute, so müde vom Tagewerk, dass Trauern alles war, wozu sie noch die Kraft besaß. Ich wünschte mir, diesen Kummer fort küssen zu können und die stillen Tränen mit dem Ärmel von ihren Wangen zu tupfen, aber solche Dinge ziemten sich nicht. Endlich war sie es, die zu mir kam, als wir während unserer geteilten Genesungszeit Freundschaft geschlossen hatten.

„Ich vermisse die Gesellschaft von Männern,“ sagte sie, während wir den östlichen Himmel beobachteten, getrübt von aufgeblähten, rauchverschmutzten Wolken. „Ich bin nie behandelt worden wie eine feine Dame; ich war stets ein Teil meiner Familie, und nach dem Tod von Großmutter war es eine Familie von Männern.“

„Und doch seid Ihr eine feine Dame,“ sagte ich ihr; ich wagte mich behutsam vor, da ich ihre Stimmung nicht kannte, „und umso feiner des Stahles wegen, der in euch verborgen liegt. Einer Gabe – wenn ich wagen darf, darauf hinzuweisen – von den Männern Eurer Familie.“

„Und eine, die ich vielleicht ohne Beistand weitergeben muss,“ sagte sie nachdenklich und spielte mit einen Blatt der Purpurwinde, die sich über das Geländer rankte. „Das Haus Thengels ist gefallen. Wird das Haus Éomunds sich je erheben, es sei denn mit einer Frau an der Spitze?“

„Das können wir nicht sagen,“ bestätigte ich mit einem Nicken. „Doch wieviel größer könnte dieses Haus sein, wenn Ihr ihm vorsteht?“

„Diese Bürde sollte nicht die meine sein,“ sagte sie; das schwache Beben ihrer Stimme der einzige Hinweis auf ihren Kummer. „Ich sollte nicht alleine sein damit.“

„Das werdet Ihr nicht,“ versprach ich und drückte behutsam ihre Hand neben mir. „Ich befinde mich in der Lage, behilflich zu sein, wenigstens, wenn es sich um Staatsangelegenheiten handelt. Sollte Hilfe vonnöten sein, dann wäre ich geehrt, wenn Ihr mich ausreichend als Freund betrachtet, dass ich euch beistehen darf.“

„Als Freund,“ sagte sie nachdenklich, ein bitteres Lächeln auf den Lippen. „Ja, Freunde habe ich auch nötig.“

„Was braucht Ihr denn außerdem?“ fragte ich.

Zur Antwort fuhr sie plötzlich herum, stieß meine Hand fort und vergrub ihr tränenüberströmtes Gesicht an meiner Brust; sie zitterte von kaum unterdrücktem Schluchzen.

Ich hielt sie still, und mein Kinn ruhte sachte auf ihrem Haar. Das Ende ihres Zopfes streifte kitzelnd mein Handgelenk. Das Gefühl schickte mir eine Gänsehaut die Arme hinauf und ich hielt sie noch fester und blickte nach Osten. Stets nach Osten. ---

Nun, beinahe auf den Tag genau ein Jahr später, halte ich sie wieder still fest, und mein Kinn ruht leicht auf ihrem Haar, während sie von stummem Schluchzen geschüttelt wird. Vor einem Jahr waren die Felder vor uns löchrig wie von Pockennarben, und übersät von den rauchenden Überresten toter Feinde. Vor einem Jahr lagen dort Steine in unordentlichen Haufen, blindlings verstreut auf der Suche nach den Lebenden und den Erschlagenen.

Vor einem Jahr lag König Théoden aufgebahrt in goldenen Tüchern, unter Wolken aus Weihrauch und Trauer.

Vor einem Jahr kam es, dass ich anfing, sie zu lieben, denn sie öffnete ihre Blütenblätter nur für mich, und mit sich brachte sie die Sonne.

FINIS


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