Namarië, Elessar

von Joanna, übersetzt von Cúthalion

„Ich spreche Euch keinen Trost zu, denn in den Kreisen der Welt gibt es keinen für einen solchen Schmerz.“
(Aragorn zu Arwen, Die Rückkehr des Königs)


Sie flüchtete immer weiter einen geheimen Pfad hinauf, den er vor langer Zeit genommen hatte; sie erklomm den Berg immer weiter nach oben, als hätte sie die verzweifelte Hoffnung, sie könnte den Himmel berühren und ihn wiederfinden.

Nur der Hohe König war zu diesem Abgrund gekommen, über dem sie nun stand und sie starrte hinaus über das, was sein gewesen war, und auch ihr Eigentum. Wo sie die Jahre verbracht hatten, die wahrhaft zählten... lachend, jubelnd, trauernd, und immer, immer voller Liebe.

All die Lande unter ihr waren sein eigen; die Berge, die Felder und die Flüsse, und die große steinerne Stadt in der Tiefe, an der sich die Ebenen brachen. Er hatte die Völker von Mittelerde vereint. Seine Leute – seine Männer – wären ihm bis ans Ende der Welt gefolgt, und hatten dies in der finstersten Zeit auch getan – wegen ihrer schlichten, reinen und nicht endenden Liebe zu ihm.

Ja, er war geliebt worden. Oh, wie sehr sie alle ihn geliebt hatten, und niemand hatte ihn so tief geliebt wie sie.

Sie hatte die Dunkelheit all dieser Jahre in seinen Armen verbracht, die Sicherheit seines beständigen Herzschlages dicht an ihrem Ohr, während er schlief. Sie hatte gedacht, er werde ewig leben und sie verleugnete heftig, dass diese Zeit kommen würde... weil es überhaupt keine Welt geben konnte ohne ihn.

Sie hatte recht behalten. Ihre Welt war in einem heftigen Wirbel aus dem Gleichgewicht geraten und in Stücke zerfallen. Das Land unter ihr war für sie nun so wüst wie Mordor. Sie fand keinen Trost in seiner Stadt, in seinem Reich. Der Wind liebkoste ihre Wangen, aber er beruhigte sie nicht, wie es vielleicht früher geschehen wäre. Niemals mehr würde eine andere Berührung ihr Trost schenken.

An der Stelle stehend, zu der Gandalf Aragorn gebracht hatte, als er zu seinem vollen Ruhm aufstieg, konnte sie fühlen, wie die Erde unter ihr erzitterte. Sie erkannte die Hufschläge von Pferden, die die Stadt schon vor langer Zeit zum letzten Mal verlassen hatten, um nie wiederzukehren. Die Erinnerung überkam sie, klar wie Musik... wie die silbernen Trompeten, die ihn immer heimgerufen hatten zu ihr.

Sie schloß die Augen, hob das Kinn und beschwor die Vergangenheit herauf.

War es nicht leicht, ihn sich ins Gedächtnis zu rufen, wie er als Junge in Bruchtal in einem Baum saß? Wie er vor ihr stand an dem Morgen, als er mit der Gemeinschaft fortging, an seiner Aufgabe zweifelnd ebenso wie am Schicksal der Welt, an allem zweifelnd, außer an der Liebe zu ihr. Wie sie in Minas Tirith einritt an dem Abend, als sie Mann und Frau wurden...wie er auf sie gewartet hatte im Glanz seiner geflügelten Krone, so königlich, so weise, nun, da niemand mehr seinen Wert verleugnete.

Sie hatte noch immer den zornigen Schrei von Eldarion in den Ohren und Aragorns Gelächter unter Tränen, während er mit der einen Hand seinen Erstgeborenen festhielt und mit der anderen ihre Schulter umfasste. Sie hörte das Klirren von Stahl auf Stahl, als er und Éowyn sich in einem Winter vor fast neunzig Jahren einen spielerischen Zweikampf lieferten, während die Feuer prasselten und die Außenwelt durchtobt wurde von einem wirbelnden Schneesturm. Sah das Vergnügen auf seinem Gesicht, als er die Pferde in Augenschein nahm, ein Geschenk Éomers anlässlich des fünften Jahrestages von Saurons Sturz. Sah ihn im Hof vor ihren Gemächern, als er im frühen Morgensonnenschein mit Faramir auf- und abging und Regíerungsangelegenheiten besprach... oder wenigstens so tat, als ob, während die beiden eigentlich alte Überlieferungen austauschten.

Immer und immer wieder sah sie ihn durch die Tore reiten, Legolas an seiner Seite, beide lachend angesichts ihrer Abenteuer und angesichts der völligen Ungezwungenheit und Brüderlichkeit, die sie miteinander teilten. Über Jahre hinweg Seite an Seite, hatten sie Worte nicht mehr nötig gehabt.

Wie er besorgt die Stirn runzelte, als er Frodo nach Anzeichen seiner alten Verletzungen absuchte. Wie er in ihre Gemächer schwankte nach einer bierseligen Nacht mit Gimli. Wie er vor Stolz lächelte, als Merry und Pippin ihm ihre Schlachtenabenteuer erzählten, oder wie er Sams Kinder in den Armen hielt. Wie er strahlte, als er Gliriel beim ersten, kurzen Galopp auf ihrem Pony beobachtete, und als Eldarions Pfeil zum ersten Mal sein Ziel fand. Wie er versuchte, unter Tränen zu lächeln, als er Imerens Hand in die des Mannes legte, den sie erwählt hatte... den Sohn Faramirs, der den Namen seines gefallenen Bruders trug.

Der schreckliche Verlust und das Wissen in seinen Augen, als er erst an Éomers Grab stand, dann an dem von Éowyn und erneut an dem von Faramir. Und an so vielen seither.

Sie konnte noch immer jeden Ausdruck, jede Linie seines Gesichtes deutlich sehen, jede Schattierung seiner Augen. Und noch immer wusste sie, dass die Erinnerungen nie ausreichen würden; nicht für sie, die den Klang seiner Stimme kannte, wenn sie vor Müdigkeit rau wurde, und die sanfte Berührung seiner Hände, die gezeichnet waren von Kampfesnarben.

Deshalb war es ihr unmöglich gewesen, Mittelerde mit ihrem Vater zu verlassen; weil sie nicht nur mit der bloßen Erinnerung an Aragorns Liebe leben mochte.

Erinnerungen, so schien es, waren alles, was blieb. Faramir war vor fast vierzig Jahren aus der Welt geschieden, und die liebliche, wunderschöne kleine Éowyn fünf Jahre davor. Legolas hatte sich in den letzten Jahren selten sehen lassen, und sie wusste, wie sehr es ihn bekümmerte, dass die Zeit Aragorn zeichnete und ihn schließlich für sich beanspruchen würde. Gimli kam in die Jahre und konnte nicht mehr so leicht reisen. Hobbits nahmen nur selten den Weg aus dem Auenland auf sich.

Sie alle waren ihr immer noch so nahe, und er am allermeisten... und doch war der Abstand zu ihm einer, den sie nicht zu überwinden vermochte.

Die Bilder von ihm in ihrem Geist waren so wirklich, so klar, dass er auf dem selben Wind zu reiten schien, der an ihr vorbeirauschte, und sie dachte, sie könnte ihn vielleicht packen und zurückholen, wenn sie sich nur schnell genug bewegte.

Aber er war für sie verloren. Und obwohl selbst die Luft von seiner Gegenwart erfüllt zu sein schien, war er, der ihrem Leben einen solch tiefen Sinn verliehen hatte, dahin; sie fühlte sich ausgehöhlt und spürte, wie die Leere sich von ihrer Mitte her immer mehr ausdehnte.

„Mutter?“

Langsam wandte sie sich von ihrem Platz am Rand des Berges ab und spürte wie ihr die Brust eng wurde von einer Mischung aus Schmerz und Stolz, während er auf der Lichtung stehenblieb und sie unsicher anschaute. Er hatte den Blick seines Vaters. Während sie ihn ansah, begriff sie, dass Worte in diesem Moment allzu mühsam waren; ihre Kehle schmerzte zu sehr, um zu sprechen. Sie hatte nach ihm geschickt, ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er sie hier treffen sollte.

Sie wusste nicht, ob ihr ein Abschiedsgruß geblieben war, und hier war der eine, der am meisten zählte. Sie brachte die Worte, die sie ihm zu sagen hatte, nicht über die Lippen. Nicht, während er vor ihr stand, während Unsicherheit, Angst und Trauer noch immer in den Augen brannten, die die seines Vaters waren... ebenso sehr wie ein neues Wissen: dass er auch sie verlieren würde.

„Du gehst fort.“ Es war keine Frage, keine Anklage, sondern eine Tatsache, die er hinnahm. Eldarions Augen gaben ihr keinen Frieden, während er zu ihr herüberkam.

Wortlos schaute sie über die Stadt hinweg und nickte, während die erste Träne heiß auf ihrer Wange brannte. Sie war erfüllt von Schuld und Scham. Sie hatte nicht die Kraft, hierzubleiben. Nicht einmal um ihrer Kinder willen. Denn obwohl sie ihre Liebe besessen hatten, war Aragorn immer ihre Seele gewesen, der Anfang und das Ende aller Dinge. Und sie hatte nicht das Verlangen, die Stärke und auch nicht den Willen, herauszufinden, was nach ihm kam.

„Ich vermisse ihn.“ sagte Eldarion schlicht. Tränen hingen glitzernd an seinen dunklen Wimpern. „Ich versuche mir auszumalen, wie es für dich sein muss. Und obwohl ich dich hier bei mir haben möchte, werde ich nicht darum bitten. Weil ich sehe, dass das Licht in deinen Augen erloschen ist, und dass du nicht bleiben kannst. Ich werde trauern, aber ich werde auch wieder Freude kennen.“

„Und ich werde es nicht.“ bestätigte Arwen laut die Worte, die Eldarion nicht aussprach.

Er versuchte es abzuwenden. „Es gibt Hoffnung für bessere Zeiten. Es gibt immer Hoffnung. Du hast mich gelehrt, in allen Dingen und zu allen Zeiten nach Hoffnung Ausschau zu halten.“

Und in diesem Moment verstand sie mit erschreckender Klarheit Gilraen und ihrer völligen Verlust aller Zuversicht nach dem Tod von Arathorn. Selbst in den finstersten Stunden der Welt hatte sich Arwen an die Hoffnung geklammert, sie hatte sich geweigert, sie preiszugeben und alle als Narren verachtet, die es taten. Erst jetzt konnte sie die Stärke einer Mutter einschätzen, die sich so viele Jahre lang weiter gemüht hatte nach dem Verlust des einen, den sie liebte. Sie hatte das Leben gewählt und ihren Sohn aufgezogen, bis er auf eigenen Beinen stand.

Arwen fragte sich, ob sie zu bleiben vermochte, wenn ihr Sohn sie noch nötig hatte? Sie wusste die Antwort nicht mit Sicherheit. Sie wusste nur eines: Gilraen war geblieben.

Sie war blind vor Tränen, als sie die bitteren Worte an ihren Sohn weitergab, die Aragorns Mutter einst zu ihrem Sohn gesprochen hatte; aber sie sagte sie sanft, während sie vortrat und ihre Hand gegen seinen kräftigen Wangenknochen legte. "Onen i-Estel Edain, u-chebin estel anim."(2)

Eldarion hob die Hand und drückte die ihre fest gegen sein Gesicht, und sie wusste, dass er verstand, was ihre Worte bedeuteten; dass sie die Kreise der Welt bald verlassen und sich im Jenseits auf die Suche machen würde, nach welcher Hoffnung auch immer.

Dann neigte er sein königliches Haupt und seine Schultern hoben sich in einem großen Schluchzen. Auch Arwen brach in Tränen aus, denn sie hatte den Schmerz ihrer Kinder nie ertragen können, und sie machte einen Schritt nach vorne und nahm ihren Sohn in die Arme. Sie klammerte sich mit aller Kraft an ihn, und er sich an sie, und sie wusste nicht, ob es ihr möglich sein würde, ihn loszulassen, obwohl sie verstand, dass die Zeit dafür gekommen war.

Dieser Mann, dieser König der Menschen, der das Ebenbild seines Vaters war, hatte auch seines Vaters Geduld, seine Weisheit und seine Barmherzigkeit gelernt. Und seine Ehre. Aber was vielleicht Arwens wahres Vermächtnis sein würde – er war in seinem Herzen genauso liebevoll, genauso treu und von der selben, unbedingten Selbstlosigkeit wie Aragorn. Die Männer bewunderten Eldarion und sie würden ihm folgen, so wie sie seinem Vater gefolgt waren, zu welchem Schicksal auch immer.

Und nun wandte Eldarion diese selbstlose Liebe Arwen zu, und er schenkte ihr Verständnis, während sie voller Zweifel war und voller Schmerz darüber, ihn zu verlassen. Und endlich begriff Arwen, dass nicht sie ihren Sohn tröstend umarmt hielt; ihr Sohn tröstete sie.

Zuletzt bezwangen sie ihre Tränen und standen Hand in Hand beieinander, und sie schauten hinaus auf Gondor.

„Schau es dir an, Mutter. Schau, was er aufgebaut hat.“ sagte Eldarion voller Staunen. „Schau, was ihr gemeinsam aufgebaut habt.“

„Über allen Dingen hat er seinen Stolz in dir gefunden. Über allen Dingen haben wir dich geliebt.“ flüsterte Arwen, weil sie nicht mehr imstande war, lauter zu sprechen.

„Und ich habe es immer gewusst. Und niemals werde ich die Liebe vergessen, die ihr beide mir geschenkt habt... aber woran ich mich vielleicht am stärksten von allem erinnern werde, ist die Liebe, die ihr füreinander im Herzen trugt. Niemals hat es in der ganzen Welt je so eine Liebe gegeben. Und niemals wird es sie wieder geben.“

*****

Eldarion blieb bei ihr, bis sie ihn zuletzt zu seinen Pflichten zurückschickte. Als er ging, waren seine breiten Schultern aufrecht und er hielt den Kopf hoch erhoben. Und er schaute nicht zurück, nur einmal, kurz bevor er um eine Ecke bog und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Er sah so groß aus, so stark und so jung, während der Wind ihm das Haar über die Stirn wehte und in seine feuchten Wangen biss. Seine Hand lag auf dem Heft seines Schwertes genau wie immer bei Aragorn. Für einen Augenblick war es, als betrachte sie Estel... genau wie an dem Tag, als sie wusste, sie würde sich ein Leben mit ihm aufbauen. Als er in Lothlórien vor ihr stand, in Elbenweiß gekleidet.

Sie blinzelte heftig, als die Tränen ihr die Sicht auf ihn nahmen, und als sich ihr Blick klärte, war er den Weg hinunter gegangen.

Viel später, nachdem er zum Fuß des Berges hinabgestiegen war, sah sie, wie er auf dem Rücken seines Pferdes über die Ebene jagte, und sie hörte den schwachen Klang der Trompete, als die Turmwache ihn zurückrief in die Stadt, die nun ihm gehörte. Die weißen Mauern hießen ihn willkommen und gaben ihm Zuflucht, und das war das letzte, was sie von ihrem Sohn auf dieser Welt sah.

*****

Als der Wind ihre letzten Tränen getrocknet hatte, wandte sie sich vom letzten Blick auf die Stadt der Menschen ab und nahm den Weg die Bergpfade hinunter. Als sie den Fuß des Berges erreichte, sah sie ein Pferd, das in vollem Galopp auf sie zukam, und als sie den Reiter erkannte, erstarrte alles in ihr.

Es waren also doch noch Abschiede zu nehmen. Und wie nahm man Abschied von einer ganzen, unschätzbaren Lebensspanne?

Legolas war zu ihr gekommen.

Er brachte seinen Hengst über ihr schroff zum Stehen. Unbewusst hob sie die Hand zu dem hoch aufsteigenden Hals des Pferdes, und sie starrte für einen Augenblick fest auf das Tier; sie brachte es nicht fertig, hoch zu schauen.

Er wartete schweigend, und sein Schmerz war fast greifbar. Weil sie ihm so nahe war, konnte sie ihn spüren, so machtvoll, rau und tief wie eine blutende Wunde. Endlich hob sie zögernd den Blick.

Sein Kummer war allumfassend und unabänderlich; nur diejenigen, die nicht gebeugt wurden durch die Last ihrer vorüberziehenden Jahre, waren mit diesem Kummer vertraut. Seit sie Aragorn gekannt hatten, teilten beide die Liebe zu ihm, eine vollständige und unsterbliche Liebe. Und nun zahlten sie den Preis für diese Liebe... dafür, dass sie ihr Herz jemandem schenkten, der sie verlassen hatte... dieser eine, dessen Schicksal es vom ersten Tag an gewesen war, sie zu verlassen.

Nun kannte er den Tod ebenso wie sie, und es war eine bittere Lektion für sie beide.

Sie wusste, dass es nicht nur sein eigener Schmerz war. Er trauerte auch um sie, und um das, was er in ihren Augen sah, als er ihrem Blick begegnete. Endlich streckte er eine Hand nach ihr aus.

Sie trat an seine Seite, nahm die Hand und presste ihr Gesicht hinein. Ihre Tränen tropften zwischen seinen Fingern hindurch, und der Staub von Gondor sog sie gierig auf.

Mit der anderen Hand berührte er ihr Haar und dann hob er ihr Kinn. Sie sah in seine dunklen Augen, und sie nickte und erlaubte ihm, sie vor sich auf sein Pferd zu setzen.

Er würde sie nach Lothlórien geleiten. Sie würden eine letzte Reise als Freunde machen, und obwohl sie weder seinem Trost noch seinen Schutz verlangt hatte, würde er ihr beides geben. Aragorn hätte es so gewollt. Noch war die Zeit der Trennung nicht gekommen.

*****

Eldarion stand hoch auf der Zitadelle, mit seiner jüngsten Schwester an seiner Seite, und er sah, wie ein Pferd über die Ebenen dahinschoss, nicht in Richtung der Stadt, sondern von ihr fort.

Die Haare der beiden Reiter flatterten wie goldene und ebenholzschwarze Banner hinter ihnen, und nicht ein einziges Mal wurden sie langsamer oder zögerten, um zurückzuschauen.

Und weder Eldarion noch Gliriel, noch irgendjemand, der mit ansah, wie ihre geliebte Königin mit dem meistgeliebten Freund des Königs fortging, war sich einer Sache sicher: ob sie sich von Elessar entfernten oder verzweifelt hinter ihm herjagten.

Zuletzt tauchten die Reiter in den Schatten der Berge ein und gingen auch dem schärfsten Blick verloren. Eldarion hatte sich gerade vom Fenster abgewandt, als vom Turm her ein einzelner Trompetenstoß ertönte und mit dem Wind dorthin verwehte, wo die beiden verschwunden waren. Der Klang stieß düster und quälend tief ins Herz von Gondor hinein und hing länger in der Luft als je einer, den die Stadt bis zu diesem Tag vernommen hatte.

Eldarion beugte den Kopf noch tiefer.

„Lebwohl.“ sagte er leise ins Leere.

*****

Sie reisten Wege entlang, die einst voll schwerer Gefahren gewesen waren, Pfade, auf die einst die Schritte der Gefährten fielen... als sie so jung waren, und so tapfer, und als sie sich geweigert hatten, die nahende Finsternis hinzunehmen, selbst angesichts ihrer unmöglichen Aufgabe.

Als sie nach Lórien kamen, gab es nur noch wenige Worte zwischen ihnen.

Auch der Wald war tot. Düster, sagten die Menschen, und niemand wagte sich über die alten Grenzen der Elben. Nachdem sich niemand mehr unter ihnen erging und sie bewunderte, hatten wohl selbst die Bäume die Hoffnung aufgegeben. Sie stachen hoch in den Himmel, als seien sie zerbrochene Schwerter von Kriegern, die lange schon auf den Schlachtfeldern zu ihren Füßen verloren waren.

Legolas würde in den Westen gehen und den Frieden finden, der ihn dort erwartete. Vielleicht würde die Stimme des Meeres, die ihn schon seit so vielen Jahren rief, sich über die Erinnerung an menschliche Stimmen und Gelächter erheben, und über das Geräusch des Windes in den Bäumen.

Und so kam es, dass er vor dem Abendstern stand. Und er beugte sich vor und küsste erst ihre Stirn und dann ganz leicht ihre Lippen. Für einen Augenblick hielt er sich mit aller Kraft an ihr fest, und sie sich an ihm. Sie war so sehr ein Teil seines Lebens gewesen, immer lächelnd und strahlend vor Liebe, voller Hoffnung und Güte.

Legolas hatte sie beide sehr lange geliebt. Doch dies war die Zeit, zu der alles zwischen ihnen ein Ende nahm.

Da war Furcht in ihm, Furcht vor einem letzten Abschied. Er wünschte sich, was nicht sein konnte und er ängstigte sich davor, was aus ihr werden würde. Vielleicht hatte er größere Angst als in all seiner Zeit in Mittelerde... er, der dem finstersten Heer eines ganzen Zeitalters widerstanden hatte.

Arwen trat als erste zurück; sie hob eine schlanke Hand und berührte voller Zuneigung seine Wange, denn immer noch liebte sie ihn, und es waren keine Worte nötig zwischen ihnen beiden.

Sie drehte sich um und ging davon, und für rückwärtsgewandte Blicke war es viel zu spät. Sie zog die Kapuze ihres Umhanges dicht um ihr Gesicht, schritt in die Nebel hinein, die zwischen den sterbenden Bäumen hingen und verschmolz mit ihnen. Ihre Gestalt verlor sich in den Schatten und er hielt noch lange, lange Auschau nach ihr, nachdem sie seinem Blick ganz und gar entschwunden war.

Und dann ließ er Arwen in den Wäldern der Herrin zurück, denn das war es, was sie wünschte. Und er wandte sich ab, um seinen Weg nach Hause zu finden.

*****

Sie ging zu dem Hügel, wo sie sich einander versprochen hatten, während sie die Hitze von Legolas’ Lippen immer noch auf ihrer Stirn spürte – ein Brandzeichen, das sie mit sich nehmen konnte, und die letzte Berührung eines anderen, die ihr auf Mittelerde vergönnt sein würde. Sie legte sich nieder und wartete.

Zum ersten Mal in ihrem Leben schien die Zeit sich zu dehnen, schien die Augenblicke zwischen ihren Herzschlägen heimlich zu vereinnahmen, bis sie das Gefühl hatte, sie sei schon eine Ewigkeit hier, getrennt von ihm.

Doch nicht einmal ein so würdiger Gegner wie die Zeit mag über eine Liebe triumphieren, die sich nicht respektvoll vor den Grenzen von Stunden, von Tagen und Jahren und Zeitaltern beugt, und zuletzt wandelte sich die Erde unter ihr und die Zeit gab nach.

Sie konnte ihn wieder spüren, sie konnte seine Stimme im Wind hören und fühlte seinen Herzschlag unter den Gebeinen der Erde. Der Himmel hatte den Farbton seiner Augen. Er war überall. Er war alles.

Freude und Frieden erfüllten sie in einem solchen Maß, dass sie sich fragte, ob es möglich war, sie in sich zu tragen, oder ob ihre Grenzen sich ganz auflösen würden, so dass ihr Ich mit dem Wínd verwehte.

Und als sie den Kreisen dieser Welt entkam, war ihre eigene Welt vollkommen.


ENDE


(1) „Lebwohl, Elbenstein“ (einer der zahlreichen Namen von Aragorn)

(2) „Hoffnung gab ich den Dúnedain, ich behielt keine Hoffnung für mich“


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