Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Vier
Die Elbenkönigin

Langsam nahte der Morgen; das graue Licht wurde perlmuttern, während es den gewölbten Raum erfüllte. Canohando blickte sich staunend um. Er hatte sich ganz am Ende der Halle versteckt, hinter den beiden großen Sesseln, die Seite an Seite auf dem Podest standen, aber jetzt erhob er sich, ging den langen, marmornen Gang hinunter und betrachtete die in Stein gehauenen Abbilder der Könige auf beiden Seiten.

König von Gondor! grübelte er. Aber du bist einer von vielen, wie es scheint, die sich erstrecken bis weit in die Vergangenheit. Wie lange lebt ihr wohl, ihr Könige, dass es so viele von euch gibt? Nicht so lange wie ein Ork, und doch denke ich, du wirst mich überleben. Er langte in die Ledertasche, die von seiner Schulter herabhing und zog ein paar Trockenfleischstreifen heraus, der letzte Rest der Vorräte, die ihn den ganzen Weg von Mordor bei Kräften gehalten hatten. Wenn du mir nach diesem Tag nichts zu Essen gibst, Elbenkönigin, dann werde ich verhungern, aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Wirst du heute in dieser Halle sein, wenn man mich entdeckt?

Draußen vor den hohen Toren gab es ein Geräusch, und der Ork schlüpfte hinter die letzte Statue in der Reihe und kauerte sich neben dem schwarzen Marmorsockel zusammen, den dunklen Umhang über sich gezogen. Das Licht, das durch die Bogenfenster hereinkam, warf Schatten gegen die Wand und auf den Boden, wo er saß, und als die erste Welle von Edelleuten und Hofdamen in die Halle rauschte, bemerkte niemand den Ork, der reglos in der dämmerigen Ecke hockte. 

Hätte Canohando Bescheid gewusst, er hätte seinen Tag nicht besser wählen können. Es war der erste Tag im Monat, der Tag, an dem der König jedermann anhörte, groß oder klein, der irgend eine Angelegenheit vorzubringen hatte. Und auch Arwen würde anwesend sein, denn sie erschien immer an diesem Tag der offenen Audienz, um die Weisheit der Eldar-Rasse beizusteuern, obwohl sie im allgemeinen nicht bei Elessar saß, wenn er Dinge in der öffentlichen Halle regelte.

Die Hofdamen versammelten sich nahe dem Podest auf vergoldeten Stühlen, die man dort für sie aufgestellt hatte. Sie gaben ein hübsches Bild ab mit ihren Gewändern in hellen Farben, wie ein Schwarm exotischer Schmetterlinge. Viele von ihnen holten ausgefallene Stickereien heraus und fingen mit Näharbeiten an; Arwen liebte den Müßiggang nicht und war immer damit beschäftigt, irgend ein schönes Ding anzufertigen, und ihre Dienerinnen folgten ihrem Beispiel.

Die Edelmänner stellten sich in zwei Gruppen auf, eine in der Nähe des Podests und die andere bei den Toren, Sie würden zuerst die befragen, die vor den König kamen, und sie würden ihm jeden Bittsteller präsentieren; die Höflinge nahe dem Thron waren Ratgeber und Boten, bereit, Elessar bei seinen Urteilen behilflich zu sein. Wachen in der Livree des Weißen Baumes folgten den Hofleuten in den Saal und standen in Abständen zwischen den Statuen der Könige.

Bald nachdem alle in Positur standen, erklang draußen Musik und ein Trompetengeschmetter. Die Tore wurden aufgestoßen, und der König trat mit Arwen ein, gefolgt von Musikanten mit Flöten und Geigen und einer Gruppe von Jungen, die aussahen wie Engel und mit hohen, klaren Stimmen sangen. Sie blieben dicht bei den Toren stehen, und Canohando spähte aus seinem Winkel, das Herz von der Musik durchbohrt. Seine Augen folgten Arwen, während sie durch die Halle ging. Sie glühte wie lebendiges Licht, und ihr langes, dunkles Haar floss ihren Rücken hinab wie ein Schleier. Er wollte hinter ihr herrennen und sich ihr zu Füßen werfen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine spitzen Klauen gruben sich ihm in die Handflächen, während er sich zwang, stillzuhalten. Du hast mich aufgebrochen, Herrin, und der Tod kümmert mich nicht länger. Dass ich dich gesehen habe, ist genug. Er merkte nicht, dass ihm die Tränen über das Gesicht strömten.

Der König und die Königin bestiegen das Podest und setzten sich. Elessar schob der Königin persönlich ein Polster unter die Füße und ein weiteres hinter den Kopf; er kümmerte sich zuerst um ihre Bequemlichkeit, ehe er sich selbst niederließ. Endlich nickte er seinen Edelleuten zu, und der erste Bittsteller wurde vorgelassen.

Eine der Hofdamen trat leise neben die Königin und reichte ihr eine Tasche; Arwen öffnete sie und holte einen Stickrahmen und Stränge von Seidenfäden in allen Farben des Regenbogens heraus. Sie saß still da, nähte und hörte dem Mann zu, der seinen Fall dem König vortrug. Sie sah nicht eher auf, bis Elessar keine Fragen mehr stellte, und dann war ihr Blick durchdringend. Sie stellte ihrerseits eine oder zwei Fragen, dann sprach sie dem König leise ins Ohr. Er lauschte und nickte, dann gab er sein Urteil ab. Der Mann entfernte sich unter Verbeugungen, und der nächste Bittsteller trat vor.

Es ging stundenlang so weiter. Die Musikanten hörten auf zu spielen und zogen sich zurück. Mitten am Vormittag kamen Diener herein, die Tabletts trugen, mit Gläsern voller Wein und Obstscheiben in kleinen Kristallschalen. Sie bedienten den König und die Königin und bewegten sich zwischen den versammelten Leuten hindurch. Der König ging die Halle hinunter, um sich mit seinen Edelleuten an den Toren zu beraten, und Canohando hatte die Gelegenheit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen; nicht so strenggesichtig wie sein Bild auf der Münze, entschied der Ork, aber die Haltung des Königs war majestätisch. Er fürchtete diesen Mann, nicht auf die Weise, in der er den Hexenkönig gefürchtet hatte, in kriecherischem Entsetzen, aber...

Du bist ein passender Gefährte für die Herrin des Juwels, dachte er. Dann wurde ihm klar, dass die Haare des Königs grau waren, und er erinnerte sich daran, dass die Herrin elbisch war, der König hingegen nicht.

Der Ork saß reglos da, während ein Mann nach dem anderen vor den Thron trat. Während der Morgen voranschritt, bewegten sich die Schatten durch den Raum, bis er sich voll im Sonnenlicht befand, aber noch immer bemerkte ihn niemand. Endlich gab es keine Bittsteller mehr, die nahe den Toren darauf warteten, dass sie an der Reihe waren. Canohando schüttelte den Umhang von seinen Schultern und ließ ihn zusammen mit seinem Bündel und dem Messer in der Scheide auf dem Boden liegen. Mit einer fließenden Bewegung kam er auf die Beine und war schon halb durch die Halle in Richtung Podest, bevor irgendjemand begriff, dass er da war oder Zeit hatte, zu reagieren.

Überall aus der Halle stürzten sich die Wachen auf ihn. Er ging weiter, entschlossen, das Podest zu erreichen, bevor er aufgehalten wurde, und dann hackte ein Schwert von der Seite nach ihm und die Klinge schlitzte ihm den Arm auf, als er sich bewegte, um sie abzuwehren. Er wirbelte herum, packte den Knauf, riss der Wache, die es geschwungen hatte, das Schwert aus der Hand. und trieb es dem Mann zwischen zwei Atemzügen durch das Herz; er war tot, noch bevor er den Boden berührte.

Canohando stand da mit der blutigen Waffe in seiner Hand, von Entsetzen gepackt angesichts dessen, was er getan hatte. Die Halle war im Aufruhr gewesen, erfüllt von Schreien und Gebrüll, aber jetzt herrschte Schweigen. Die anderen Wachen umringten den Ork, die Schwerter gezogen, aber sie hielten Abstand.

Canohandos Augen glitten an dem Kreis der Klingen entlang, die ihn einkesselten. Ein paar von diesen Männern konnte er töten, aber nicht alle. Er schaute zu dem Podest hinüber. Der König war auf den Beinen und stand vor der Königin, als fürchte er einen Angriff auf sie, aber Arwen saß noch immer still da, ihre Näharbeit im Schoß. Verzweiflung stieg im Herzen des Orks auf und würgte ihn. Er war nicht hergekommen, um zu töten, aber getötet hatte er. Jetzt war es Zeit zu sterben. Man konnte den Juwel bei ihm finden, und sie würden wissen, wer er war - selbst jetzt noch hatte er keinen Zweifel daran, dass Neunfinger dem König erzählt hatte, was aus dem Juwel der Königin geworden war. Sie werden mich erkennen, aber werden sie auch wissen, wieso ich hergekommen bin?

Sei es, wie es wollte. Canohando fing den Blick der Wache ein, die ihm am nächsten stand. Absichtsvoll langte er in seine Tunika und zog den Juwel an seiner Kette heraus; er hielt ihn vor sich hin wie einen Talisman. Dann stieß er das Schwert von sich; es landete klappernd auf dem Boden vor den Füßen der Wache. Der Mann bückte sich, um es aufzuheben, ohne die Augen von Canohandos Gesicht zu nehmen.

Ein Murmeln erhob sich von den bewaffneten Männern, die den Ork einkreisten, und sie kamen vorsichtig näher. Er hatte das Schwert fort geworfen, das er sich genommen hatte, aber sie hatten gesehen, wie schnell er einem Mann die Waffe aus der Hand reißen konnte. Dann erhob sich Arwen mit einem Schrei von ihrem Sitzplatz und verstreute die hellen Seidenstränge aus ihrem Schoß, so dass sie kreuz und quer auf dem Boden lagen wie ein zur Erde gefallener Regenbogen.

"Haltet ein!" rief sie. "Tut ihm nicht weh - das ist Frodos Ork!" Sie hastete vorwärts und ihre Gewänder raschelten über die Fliesen, aber Elessar bewegte sich noch schneller, packte ihre Hand und brachte sie außerhalb des bewaffneten Kreises zum Stehen.

"Warte!" sagte er. Er war ein hoch gewachsener Mann, und über die Köpfe seiner Soldaten hinweg betrachtete er Canohando. "Wer bist du, Bursche, dass du dir den Weg in meine Halle erzwingst und mir einen Mann direkt vor meinen Augen erschlägst?"

Der Ork hielt die Arme seitlich abgespreizt, als wollte er zeigen, dass er keine Waffe trug. "Ich bin ein Krieger, und ich habe mich aus alter Gewohnheit gewehrt, als ein nacktes Schwert auf mich herunterkam. Ich werde keinen deiner Männer mehr erschlagen, König von Gondor, auch nicht, wenn du ihnen befiehlst, mich in Stücke zu schneiden! Ich kam nicht her, um zu töten, sondern um die Elbenkönigin zu finden, deren Juwel ich trage." Er wandte den Blick zu Arwen. "Es tut mir Leid, Herrin. Ich wollte keinen Tod in Eure Gegenwart bringen. Die Dunkelheit rennt auf meinen Spuren, selbst wenn ich davor flüchte." Seine Stimme war schwer vor Kummer.

Unter den Leuten in der Halle gab es Gemurmel. Der tote Wachsoldat lag mit grotesk gespreizten Gliedern auf dem Boden, und sein Blut breitete sich in einer großen Lache um seinen Leichnam aus. Seine Kameraden sahen mit versteinerten Gesichtern zu; sie warteten auf den Willen des Königs. 

"Du bist nicht unbewaffnet hergekommen," sagte Elessar. "Wo ist deine Waffe?" 

Canohando nickte in Richtung der Tore. "Hinter der letzten Säule, bei meinem Bündel. Ich hatte mein Messer, nicht mehr. Ich trage nichts an mir, ich schwöre es!" 

Arwens Stimme war so weich wie eine Frühlingsbrise. "Bei was schwörst du, Ork?"

Er sah ihr voll ins Gesicht, und sein Blick  war voller Anbetung. Ungeschickt kniete er sich vor sie hin. "Bei dem Juwel an meiner Kehle schwöre ich, und bei dem einen, der ihn mir um den Hals gehängt hat. Es ist wahr, Herrin, dass ich den Tod nicht hierher bringen wollte!" Sie schaute ihm tief in die Augen und er ertrug es für einen Moment, ehe er den Kopf senkte.

"Nichtsdestotrotz hast du den Tod gebracht, und dein Leben ist verwirkt." Elessars Stimme war hart. "Strecke die Hände hinter deinem Rücken aus." Canohando gehorchte, ohne aufzublicken.

"Bindet ihn," sagte der König.


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