Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zweiunddreißig
Belohnung

Tagsüber suchte Canohando Holz aus, das ihm zusagte, und fing an, ihre Bögen zu schnitzen. Nachdem sie einmal in Form gebracht waren, wärmte er sie vor dem Küchenfeuer an, setzte sich hin und rieb Öl in das Holz. Neben ihm nähte Malawen Köcher aus Hirschhaut. Sie hatte in die Mitte von jedem einen halben Sternenschauer gestickt. „Für Arwen Undómiel,“ sagte sie. „Sie war der Abendstern, und du bist ihr Ritter.“

„Sie war meine Königin, Melethril,“ sagte er. „Aber du bist mein heller Morgen.“

Sie errötete und stach ihre Nadel in die Hirschhaut. „Komm ein Weilchen nach draußen; es ist zu warm, um am Feuer zu sitzen. Wo hält sich eigentlich dein Zauberer auf? Wir haben ihn schon eine Woche nicht mehr gesehen.“

Er zuckte die Achseln und legte die unfertigen Bögen nach oben auf den Kaminsims, doch Dartha schaute von den Pasteten auf, die sie machte, und sagte: „Der Zauberer verbringt seine Tage im Wachhaus, mit dem Hauptmann dieser Elben, die euch her gebracht haben.“

„Mit Itaril?“ wiederholte Canohando, doch Malawen hob ruckartig den Kopf: ihre Augen flammten.

„Wieso sollte er seine Zeit auf jemanden wie den verschwenden, so arrogant und blutgierig? Celeborn hat ein zu gütiges Herz, dass er ihn im Wachhaus gefangen hält; ein Kerker würde ihm besser zu Gesicht stehen!“

„Still, Elbchen,“ sagte der Ork leise. Er streichelte ihr das seidige Haar, vom Scheitel bis dorthin, wo die gekräuselten Locken an ihrer Taille endeten, wieder und wieder, um sie zu besänftigen. „Ich hätte erraten können, wo der alte Mann sein würde, wenn ich darüber nachgedacht hätte.“ Er legte einen Arm um sie und führte sie hinaus in das Sonnenlicht.

„Er ist verrückt,“ sagte Malawen, gedämpft, doch noch immer mit Heftigkeit, und Canohando lächelte.

„Oh ja. Er ist verrückt; das war er schon immer. Wenn er närrisch genug war zu denken, dass Orks sich von der Finsternis abwenden könnten, wieso sollte er dann bezweifeln, dass ein Elb erlöst werden kann? Der Braune lässt kein brachliegendes Erdreich ungepflügt.“

Und so zeigte Canohando ein paar Tage später keinerlei Überraschung, als Radagast mit der Bitte zu ihm kam, ihn zu begleiten und Itaril zu besuchen. „Ich dachte mir schon, dass das als Nächstes kommt, alter Mann. Ja, ich werde kommen.“

„Nein!“ rief Malawen. „Von Anfang an hatte er deinen Tod im Sinn, und jetzt umso mehr, da er beschämt und eingesperrt ist! Überlass ihn Celeborn, Liebster, und dem Zauberer, wenn er so eifrig darauf bedacht ist, ihn wieder in Anspruch zu nehmen.“

Doch Canohando küsste sie auf die Stirn und löste ihre Arme von seiner Mitte. „Ich habe ihn nicht gefürchtet, als ich gebunden war und er zwanzig Bogenschützen im Rücken hatte, und sicherlich nicht jetzt, da ich frei bin. Ich muss das tun Elbchen. Geh und setz dich zu Dartha, und nachher komme ich zu dir.“ Doch sie wollte ihn nicht verlassen; sie hing mit weißem Gesicht an seinem Arm, während sie sich auf den Weg zum Wachhaus machten.

Sie fanden Itaril in einem kleinen, fensterlosen Raum mit verriegelter Tür. Als er Malawen und den Ork sah, sprang er auf die Füße.

„Du wagst es, deine zahme Bestie zu mir zu bringen, Zauberer vom Rhosgobel? Und diesen verkrüppelten Zwerg, der ihm auf den Fersen folgt?“

„Du bist eher eine Bestie als er, Morion! Herr Celeborn hat gut daran getan, dich einzusperren; du taugst nicht dazu, frei herum zu laufen!“ Malawens Stimme bebte vor Leidenschaft, doch Canohando zog sie in seine Arme; er stand da, beruhigte sie und sprach ihr leise ins Ohr. Er hatte keinen Blick für Itaril übrig.

Radagast wartete, bis Malawen sich beruhigt hatte, bevor er eine Frage stellte. „Kannst du Yarga in ihm sehen, Canohando?“

Der Ork ließ sich Zeit mit der Antwort. Malawen hatte sich von ihm zurück gezogen und blickte finster drein, aber Canohando lehnte vollkommen entspannt im Türrahmen und betrachtete prüfend Itarils Gesicht.

„Wo ist sein Freund?“ fragte er endlich.

„Was meinst du damit?“ sagte Radagast. „Die anderen wurden zu den Anfurten geschickt.“

Der Ork grunzte. „Wir sind Yarga gefolgt, alter Mann, als er von der Schwarzen Grube floh. Wenn wir ihn sich selbst überlassen hätten...“ Er scheuerte seinen Rücken am Türrahmen. „Wir haben einander gerettet, als wir allein ertrunken wären. Doch dieser Elb hat niemanden, der seinen Kopf oben hält, wenn er untergeht.“

„Worin wärst du ertrunken, Ork? In deiner eigenen Bosheit?“ Itarils Stimme triefte vor Verachtung, doch Canohando betrachtete ihn sehr ernst.

„In der Finsternis,“ sagte er. „Ja, es war unsere eigene, oder wenigstens lebte sie in uns, genau wie in dir.“

Der Elb antwortete nicht, doch seine Augen schossen Dolche, und Radagast regte sich. „Er sagt, er will nicht nach Valinor gehen; lieber wirft er sich von Bord und versinkt in den Wellen. Es bedeutet ihm nichts, wenn er stirbt.“

„Was würdest du tun, wenn du frei wärst?“ fragte Canohando.

„Ich würde nach Hause zurückkehren. Eryn Lasgalen ist noch immer ein Hafen für die, die nicht fortgehen wollen, ob König Thranduil das Schiff nun besteigt oder nicht.“ Er sprach, als würden die Worte aus seiner Kehle gezwungen.

„Valinor wurde schon früher von Bosheit zerrissen,“ sagte Radagast. „Celeborn denkt daran, die Höchsten dort über ihn urteilen zu lassen, doch mein Herz ist misstrauisch, eine solch ungezügelte Wut in das Segensreich zu bringen.“

„Wenn der Herr von Bruchtal befiehlt --“ begann Canohando.

„Das letzte Wort liegt nicht bei Celeborn. Es ist an mir, Itaril festzuhalten oder ihn zubefreien, und ich hätte gern deinen Rat. Du spürst, was auch ich spüre: die Finsternis in ihm. Kann er sie austreiben, wenn wir ihn nach Lasgalen zurückgehen lassen?“

Der Ork betrachtete Radagast zweifelnd. Das dunkle Haar des Zauberers war jetzt mit weißem Frost bereift, sein braunes Gewand fleckig von seinen Reisen, und doch war er so lebhaft und freundlich, wie er es immer gewesen war. Es ist Macht in ihm, doch reicht sie aus, um den silbernen Fürsten zu überstimmen?

Der Zauberer lächelte, als hätte Canohando laut gesprochen. „Macht ist nicht immer in einen Harnisch gekleidet. Celeborn wird kein Wort dagegen sagen, wenn ich diese Tür entriegele und Itaril gehen lasse. Aber du bist es, dem Unrecht getan wurde, und Malawen auch, und Elladan. Ich werde ihn in dem Westen schicken, seinem Urteil entgegen, wenn das dein Wunsch ist.“

„Schick ihn weg.“ Malawen hob den Kopf und sprach mit klarer, harter Stimme. „Wir wollen ihn hier nicht.“

Doch Canohando beobachtete den Elb; er bemerkte den bitteren Mund, die Augen, in denen keine Hoffnung lag, nur siedende Abscheu.

„Lass ihn nach Hause gehen,“ sagte er. „Es wäre besser, wenn er einen Freund hätte, aber vielleicht findet er ja einen in seinem eigenen Land. Gib ihm die Chance, die du uns gegeben hast, alter Mann.“

Radagast schaute Malawen an, doch sie sagte nichts mehr; sie drückte nur Canohandos Hand an ihre Lippen. Der Zauberer berührte den Riegel an seiner Haspe; er brach entzwei und fiel auf den Boden. Er zog die Tür auf.

„Du hast Freundlichkeit von denen empfangen, denen du sie nicht erweisen wolltest,“ sagte er streng. „Geh heim. Itaril von Eryn Lasgalen, und lerne, was Gnade ist.“

Itaril verließ steifbeinig seine Zelle, hob seinen Umhang auf und schwang ihn sich um die Schultern. Er starrte Canohando und Malawen mit finsterer Verachtung an, doch dann begegnete er Radagasts Blick und senkte die Augen.

„Danke,“ murmelte er.

„Ich werde mit dir bis zur Grenze gehen, damit niemand dich aufhält.“ Der Zauberer schlug Canohando auf die Schulter, als er an ihm vorbei kam. „Ich denke, dieser Tage ist mehr Esel* als Ork an dir,“ meinte er.

Canohando grinste. „Das ist meine Hoffnung,“ sagte er.

*****

Es vergingen einige Tage, ehe sie Radagast wiedersahen. Die Bögen waren fertig, ihre Köcher gefüllt, und sie machten Schießübungen unten am Fluss; sie forderten einander zu immer schwierigeren Schüssen heraus und lachten, bis sie ihre Bögen kaum noch gerade genug halten konnten, um zu zielen.

„Ich bin froh, dass ich dir nie in der Schlacht gegenüber getreten bin, Elbchen. Du hast ein tödliches Auge.“

Malawen gab ein freudiges Krähen von sich und schoss; ihr Pfeil blieb in einem Baumstamm hinter ihm stecken, einen Meter über seinem Kopf. „Behalte das nur im Gedächtnis, Ork! Du bist mein Gefährte, aber versuch niemals, mein Meister zu sein!“

Er hielt die Hände in spöttischer Unterwerfung hoch, aber als sie hin ging, um ihren Pfeil einzusammeln, stürzte er sich von hinten auf sie, hielt ihre Arme fest und hob sie über ihren Kopf, während sie kreischte und sich wehrte.

„Nun, kleiner Vogel, sag mir: wer ist der Meister?“

Sie trat wild nach ihm und er duckte sich und versuchte, ihren fliegenden Fersen auszuweichen. Dann ließ er sie plötzlich los und sie fiel. Sie schlug um sich und schrie auf, diesmal in echtem Entsetzen, nur, um sicher in seinen Armen aufgefangen zu werden.

„Da, Liebste, da – ich würde dich nicht fallen lassen!“ Er wiegte sie an seiner Brust und küsste ihre Angst fort, doch dann grinste er. „Wer ist der Meister?“ verlangte er zu wissen.

„Das bin ich,“ sagte sie und blickte keck zu ihm auf; er lachte schallend.

„Ich denke, das ist sie wirklich, denn ich bezweifle, dass du sie zähmen kannst,“ sprach eine Stimme; sie drehten sich um um stellten fest, das Radagast sie mit einem breiten Lächeln beobachtete. „Es ist gut, in Bruchtal noch solche Fröhlichkeit zu finden,“ sagte er.

„Dann hast du den Elbenhauptmann sicher auf seinen Weg gebracht?“ fragte Canohando.

„Das habe ich, und nun gibt es etwas, das ich euch beiden zeigen möchte, wenn ihr euch die Zeit nehmen wollt, mit mir zu kommen.“

Sie gingen bereitwillig mit, und er führte sie einen schmalen Pfad entlang, bis sie zu einer ländlichen Stelle kamen. Ein Kreis von Bäumen, riesig und alt, mit glatter, silbriger Rinde, umgab eine kleine Lichtung. In der Mitte speiste ein murmelnder Bach einen Springbrunnen, das Bildnis einer Frau, die eine Schale in den Händen hielt und ihr Wasser endlos in ein Becken zu ihren Füßen goss. Ihr Gesicht war weder traurig noch fröhlich, sondern friedevoll und sehr schön.

Vor dem Springbrunnen stand eine Bank aus Stein, und Radagast setzte sich darauf. „Die Elben nennen diesen Ort ,Elronds Tränen'“, sagte er.

Canohando betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. „Und Elrond war – wer? Der Vater der Herrin, oder nicht? Hat er so viele Tränen vergossen, dass man einen Brunnen nach ihm benannt hat?“

„Setz dich, Canohando,“ sagte Radagast. „Hat dir Malawen Arwens Geschichte erzählt?“

„Einiges davon, und Dartha in der Küche hat uns noch mehr erzählt.“

„Dann weißt du, dass Arwens Mutter von Orks in den Bergen gefangen genommen und gequält wurde. Ihre Söhne eilten zu ihrer Rettung herbei, aber sie erholte sich nicht mehr davon. Elrond hatte überreichlich Grund für Tränen. Und später ebenfalls, als seine Tochter ein sterbliches Leben wählte.“

Canohando nickte; er hatte das Gefühl, dass er lieber nicht an die Mutter der Herrin erinnert worden wäre, die unter den Händen von Orks gelitten hatte... genauso, wie er lieber nicht an diesem Ort gewesen wäre, den man nach Elronds Kummer benannt hatte. Würde es nie ein Ende haben, dass er sich seines Daseins als Ork schämte, als Ausgeburt einer verfluchten Rasse? Er starrte blind an dem Ring der Bäume vorbei, und dann fing eine Bewegung zwischen ihnen seinen Blick ein, und Celeborn trat auf die Lichtung.

„Steh nicht auf, Canohando,“ sagte der Elbenfürst, denn der Ork kam bereits stolpernd auf die Beine. „Ich hatte den Wunsch, mit dir zu sprechen, und ich bat Radagast, dich her zu bringen. Dies schien mit ein passender Ort zu sein für das, was ich zu sagen habe.“

Er bewegte sich zum Springbrunnen hinüber, hielt die gewölbten Hände unter das Wasser und ließ es durch seine Finger rinnen. „Ja, ein passender Ort,“ wiederholte er. Er füllte seine Hände einmal mehr, und dann trat er zu dem Ork hinüber und goss ihm das kalte Wasser über den Kopf.

„Elronds Tränen,“ sagte er. „Dieses Wäldchen war seine Zuflucht, als er den Verlust von Celebrían nicht ertragen konnte; hierher kam er, um seine Trauer zu verbergen, bis er seine Fassung wieder gewonnen hatte, denn ein starker Anführer kann nicht immerzu weinen, egal, wie tief der Schmerz ist, den er leidet. Orks waren die Ursache vieler seiner Leiden, aber nicht von allen; sein Vorauswissen von Arwens Tod betrübte ihn schon lange, bevor dieser Tod eintrat.“

Canohando saß mit gesenktem Kopf. Wasser tropfte aus seinen Haaren, und Malawen neben ihm starrte wild zu Celeborn auf, als wollte sie ihn mit ihrem harten Blick zum Schweigen bringen.

„Nein, kleiner Sonnenstrahl, ich bürde deinem Liebsten keine Schmach auf; schau mich nicht so finster an! Was Elrond in all seiner Weisheit nicht wissen konnte, war, wie Arwen am Ende getröstet werden würde, durch einen Ork, Das ist der Grund, weshalb ich wollte, dass du diesen Ort siehst, Canohando.

„Du hast ein Netz der Trauer zerrissen, das zurück reicht bis in die frühesten Zeiten. Vielleicht ist nur ein Faden durchtrennt in diesem monströsen Gewebe, aber der ist machtvoll. Selbst deinem tödlichen Feind erweist du noch Gnade, denn der Zauberer hat mir berichtet, wie du ihn dazu gedrängt hast, Itaril zurück nach Eryn Lasgalen zu schicken. Und so sage ich dir, Canohando von Mordor, dass du dir die Gunst der Mächte erworben hast. Dir allein von all den Verlorenen Morgoths ist es geschenkt, in den Westen zu gehen.“

Canohandos Kopf zuckte hoch; seine Augen waren vor Schreck geweitet, und Celeborn lächelte. „Ich werde segeln, wenn der Sommer endet. Radagast wird Teil der Reisegesellschaft sein, und die meisten der Elben, die jetzt in Bruchtal versammelt sind, wie ich vermute. Ihr dürft beide mit uns kommen, wenn das euer Wunsch ist.“

Der Ork sagte nichts; Freude überflutete sein Gesicht wie der Sonnenaufgang, und er wandte sich um, um sie mit Malawen zu teilen. Doch sie sprang mit einem Schrei auf und stürzte davon, in die Wälder.

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*,Esel' war Radagasts Spitzname für Frodo, den Ringträger. Er sagte Frodo, er sei wie ein geduldiger, kleiner Esel, überladen bis fast zum Zusammenbruch, und er nahm ihn mit sich, damit er in der Wildnis heil werden konnte.


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