Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion
Kapitel Vierzig
Frodos Land
Dieses Mal wollte Malawen nicht zurück gelassen werden, als ihr Gefährte in den Krieg zog. Und so kam es, dass sie hinter einem der Soldaten im Sattel saß, auf jenem wilden Sturmritt den Grünweg hinunter, um Itarils Heer abzufangen, und in der Schlacht sang ihr Bogen so tapfer wie die der anderen. Sie überraschten eine Streitmacht von mehreren hundert Mann auf dem offenen Gelände südlich der Sarnfurt, und der Kampf war schnell und brutal.
„Keine Gefangenen,“ hatte Canohando befohlen. „Sie sind Verräter, sonst wären sie nicht hier unter Waffen, an diesem stillen Ort. Am heutigenTag werden wir Furcht in die Herzen derer säen, die daran denken, in dieses bewachte Land einzufallen.“
Doch er selbst verschonte ein Leben einen Grünschnabel, der über einem gefallenen Kameraden stand und ihn verteidigte, bis ein Pfeil seinen Schwertarm durchbohrte. Der Ork machte dem verwundeten Rebell mit einem Messerstreich den Garaus, aber er rief seine Männer zurück, bevor sie den jungen Kerl töten konnten.
„Du verdienst eine bessere Sache für dein Schwert,“ knurrte er. „Nimm dir ein Pferd und trag die Nachricht von mir zu den Führern dieses Aufstandes: Itaril ist tot, und Eldarion herrscht, im Norden ebenso wie in Gondor!“ Er ließ die Wunde des jungen Mannes verbinden, zerbrach sein Schwert und schickte ihn weg.
Sie hatten ein paar ihrer eigenen Männer verloren, wenn auch nicht so viele, wie es ohne die gerissene Führung des Orks hätten sein können. Canohando hätte ihnen den Scheiterhaufen eines Kriegers gegeben, aber er beugte sich dem Widerspruch von Darak und den anderen und ließ zu, dass sie ihren eigenen Begräbnisbräuchen folgten. Sie trugen ihre Gefallenen zurück zu der Festung über der Straße und legten sie an einer waldigen Stelle in der Nähe zur Ruhe, im Schatten der hohen Bäume. Doch als alles getan war, um die Trauer der Lebenden und die Ehre der Toten zu befriedigen, da kam Radagast, um mit Canohando zu sprechen.
„Die Zeit ist nun eher in Woche denn in Monaten bemessen, bevor ich abreisen muss, um Celeborn an den Anfurten zu treffen,“ sagte er. „Und ich muss zuerst in die Groß-Smials gehen, denn dort und in einigen der abseits gelegenen Dörfer gibt es das Fieber, und doch hätte ich deine Kameradschaft gern noch eine Weile länger. Und ich sollte Malawen alles lehren, was ich kann, damit sie an meiner Stelle weiter machen kann. Werdet ihr mit mir kommen? Meine geflügelten Freunde werden, wenn es nötig ist, Botschaften hin und her tragen, von dir zu deiner Garnison.“
Canohando war einverstanden. „Der gesamte Norden ist in Alarmbereitschaft, und wie ich Eldarion kenne, hat er eine Kompanie nach Düsterwald geschickt, um den Aufstand dort an der Quelle zu ersticken. Wenn du jeden Abend einen Boten in die Festung sendest, damit Darak mir Bericht erstatten kann, dann werde ich mit Freuden gehen. Es macht mich traurig, deine Freundschaft wieder so schnell zu verlieren, alter Mann.“
Radagast legte dem Ork eine Hand auf die Schulter. „Wir werden unsere Gemeinschaft verlieren, aber nicht unsere Freundschaft, Haltacala.“
Also machten sie sich wieder gemeinsam auf den Weg, mit Farador als ihrem Führer, wie er es schon zuvor gewesen war, denn er bestand darauf, sie zu begleiten.
„Ich habe Onkel Ordi versprochen, ich würde dich zum Thain bringen,“ erklärte er. „Und nebenbei, ich will Canohando immer noch Beutelsend zeigen.“
Direkt hinter der Grenze von Tukland fanden sie ein krankes Kind in einem abgelegenen Smial. Radagast saß die ganze Nacht bei ihm und hüllte es in nasse Tücher, um das Fieber hinunter zu bringen; am Morgen rief er Malawen und ging die notwendige Behandlung sorgfältig mit ihr durch.
„Diesen Kleinen hat es nicht so böse erwischt wie die Zwillinge. Ich denke,du kannst ihn durchbringen, meine Liebe, und ich muss die Groß-Smials erreichen und was immer ich auch an Wissen über diese Seuche habe, mit den Heilern dort teilen. Bleibt hier, bis er außer Gefahr ist, und dann kommt mir nach.“
Also kümmerte sich Malawen um den fiebrigen Jungen im Haus, und Canohando versuchte, die Ängste seiner einfachen Eltern zu beschwichtigen, sowohl wegen der Krankheit ihres Kindes als auch vor ihren ausländischen Besuchern. Doch es geschah nicht vor dem dritten Abend, als er seine Trommel spielte, dass die Hobbits an diesem Ort anfingen, ihre entsetzte Furcht vor ihm zu verlieren.
Er saß bei Sonnenuntergang draußen im Freien und erinnerte sich daran, wie er manchmal in Mordor mit seinem Kümmerling zusammen gesessen hatte, während die Wolken sich scharlachrot und purpurn färbten; er hatte Frodos verzauberten Gesichtsausdruck mehr beachtet als den Himmel. Es war sein Kümmerling, der ihn gelehrt hatte, die Schönheit zu lieben sie überhaupt erst zu sehen und hier war er, unglaublicherweise, in Frodos eigenem Land. Plötzlich wurde er von tiefer Dankbarkeit durchbohrt wie von einem Schwert. Es ging weit über Worte hinaus, und doch konnte er nicht schweigen, und er zog seine Trommel zwischen die Knie. Erst leise, dann mit größerer Sicherheit und Vollmacht, schlugen seine Hände Musik aus der Fülle seines Herzens.
Die Sonne blitzte ein letztes Mal golden auf und verschwand, und der westliche Himmel kühlte sich zu einem Lavendelton ab und wurde dunkel. Canohando kam wieder zu sich und schloss den Mund; er hatte gesungen, ohne es zu merken und sich zum Rhythmus der Trommel ein Dankeslied ausgedacht. Er machte die Berührung seiner Finger auf dem Leder weicher, bis der Ton verklang, ebenso wie das Licht. Dann sprach ihn eine Stimme leise von hinten an.
„Was hast du da gesungen, wenn es dir nichts ausmacht, dass ich frage? Es war so wild wie die Füchse, die den Mond anjaulen, und trotzdem auch ganz zart, als wenn eine alte Henne ihren kleinen Küken was vorgluckt beinahe genug, dass man Tränen in den Augen hat.“
Es war der alte Großvater, der einzige aus der ganzen Familie, der nicht jedes Mal hastig aus seinem Blickfeld verschwand, wenn der Ork in seine Richtung schaute. Canohando musste einen Moment nachdenken, um sich die Worte ins Gedächtnis zu rufen, die er aneinander gereiht hatte, während er die Trommel schlug.
„Ich habe ein Versprechen gegeben,“ sagte er langsam. „Ich hatte einen Freund, einen Schildbruder, und dies war sein Heimatland, aber er ist jetzt tot; ich habe ihm gegenüber eine Schuld, die ich nicht zurückzahlen kann, es sei denn, dass ich das Auenland auch zu meiner Heimat mache und es um seinetwillen behüte.“
Der Hobbit kam aus dem Smial heraus und setzte sich auf Armeslänge neben Canohando. „Es ist mir ein Rätsel, wie jemand aus dem Auenland soviel sein kann für einen Ork nicht, dass ich viel über Orks wüsste, wenn wir schon drüber reden. Aber es kommt mir ordentlich fremd vor, und ich hätte gar nichts dagegen, mir die Geschichte anzuhören, wenn du sie mir erzählen magst.“
Canohando gluckste und betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
„Sehr schön, Halbling, ich will sie dir erzählen. Er hat mir genug Geschichten erzählt, über Länder und Leute, die fast über meinen Verstand gegangen sind, und ich frage mich, was du wohl von dieser hier hältst.
Also dann; da war ein Halbling und ich nannte ihn Neunfinger, aber sein richtiger Name war Frodo Beutlin...“
Der Sommer rannte auf fiebrigen Füßen vorüber. Viele Kinder waren krank, und Radagast und Malawen kämpften beide unablässig darum, ihnen das Leben zu retten; sie reisten kreuz und quer durch das Auenland, wenn die Hilferufe sie erreichten. Canohando ging dorthin, wo Malawen hin ging; er wollte nicht von ihr getrennt sein, und sie hätte es auch nicht zugelassen. Doch in die Nähe von Beutelsend kamen sie nicht.
Endlich fingen die Tage an, kürzer zu werden, und das Fieber flaute ab. Die Reisenden machten sich erschöpft auf den Weg zurück nach Bockland. Vierzehn Tage später kam eine Gruppe Hobbits auf den Vorhof des Brandyschlosses geritten, gebräunt und staubig von der Straße, und überglücklich, heim zu kommen: Fordibras und seine Kameraden, zurück aus Bruchtal. Sie ergossen sich in die Halle wie Starkbier, das in einem Krug über den Rand schäumt; sie erfüllten das Schloss mit Lärm und mit Nachrichten von der Außenwelt.
Fordibras leerte seine Satteltaschen auf den großen Schreibtisch des Herrn; vier Bücher, in rehbraunes Leder gebunden, die Blätter darin mit Elbenschrift und mit feinen Zeichnungen des menschlichen Körpers bedeckt, und auch von heilende Kräutern; Namen standen sauber darunter geschrieben, und auch, welche Teile verwendet werden sollten.
„Ich zähle darauf, dass du die hier lesen kannst, Vetter,“ sagte er mit einem Grinsen. „Vielleicht wandere ich in der Welt herum wie der alte Bilbo, aber ich bin nicht der Gelehrte, der er war. Du wirst den Winter damit zubringen müssen, sie zu übersetzen.“
Sariadoc nahm einen der Bände und blätterte die Seiten ehrfürchtig um.
„Celeborn hat dir die gegeben?“
„Jawohl, und mit ihnen hat er seinen Segen geschickt. Elrond hat die Heilkunde von Menschen ebenso studiert wie die von Elben, und er hat sein Wissen in diesen Büchern gesammelt. Die Dosierung muss man natürlich für Hobbits anpassen. War der Zauberer in diesem Sommer irgendeine Hilfe?“
„Mmmm...“ Sariadoc murmelte vor sich hin, während er las; er hörte nur halb hin. „Was hast du gesagt, Vetter? Oh, der Zauberer, ja: er war tatsächlich eine große Hilfe, und er hat sein Wissen mit Marabuc hier im Schloss geteilt, und mit den Heilern in Buckelstadt. Und er hat auch das Elbenmädchen unterrichtet. Ich könnte sie bitten, mir bei der Übersetzung zu helfen. Mit ihrer Hilfe komme ich schneller voran, und auf diese Weise sind wir vorbereitet, wenn die Jahreszeit des Fiebers wieder kommt. Wir haben keines der Kinder verloren, die der Zauberer in Pflege hatte, und nur zwei haben irgendwelche Nachwirkungen erlitten.“ Er blickte mit einem schwachen Lächeln auf. „Du hast die ganze Aufregung verpasst, Ordi.“
Fordibras goss sich ein Glas vom Besten des Schlosses ein und tat das selbe für Sariadoc.
„Aufregung, im Auenland? Das Fieber kannst du nicht meinen: das ist grimmig genug, aber wohl kaum aufregend. Doch bleibt die Elbenfrau über den Winter? Was ist mit ihrem Gefährten? Ich bezweifle, dass Hobbits auf lange Sicht über solche Besucher froh wären.“
Der Herr nippte an seinem Branntwein. „Nun, sie werden in der Festung an der Brücke sein, nicht im Auenland selbst, und ich vermute, dass die Hobbits sich daran werden gewöhnen müssen. Der König hat Canohando zum Befehlshaber der Grenzwache ernannt, und ich muss sagen, der Ork hat gründliche Arbeit geleistet, als es darum ging, die Räuber zu vertreiben, die uns in diesem Sommer heimgesucht haben.
„Ach ja, ich habe allen Ernstes das Horn der Mark geblasen, zum ersten Mal in meinem Leben, und ich bin so kühn in die Schlacht geritten wie Meriadoc höchstpersönlich! Und ich hoffe, ich höre nie wieder so einen Laut wie den, den der Ork von sich gegeben hat, als wir aufbrachen: es hat gereicht, dass einem das Blut gefror, und ich dachte, die Ponys würden von hier bis zu den Turmbergen laufen!“
Fordibras starrte ihn an, das Glas auf halbem Weg zu Mund.
„Ein Ork, um das Auenland zu bewachen? Und ihr hattet Räuber hier! Wenn ich an die Zeiten denke, als ich das Gefühl hatte, ich wäre am hellichten Tag halb eingeschlafen, und als ich mir etwas gewünscht habe irgend etwas um die Eintönigkeit zu durchbrechen und während ich von Zuhause weg bin, kommt das Abenteuer direkt auf meine Türschwelle! Das scheint mir kaum gerecht zu sein, Vetter. Ich nehme an,es hatte etwas mit der Verschwörung einiger Elben aus Eryn Lasgalen zu tun, von der wir in Bruchtal gehört haben? Es kamen Boten vom König, die bei Celeborn Rat suchten, aber ich dachte nie, dass ihr hier irgendetwas davon mitbekommen hättet!“
Sariadoc lächelte dünn. „Ich wusste, es würde dir Leid tun, dass du es verpasst hast! Was mich angeht, ich ziehe die Langeweile vor. Das Auenland ist sehr knapp davon gekommen, zum größten Teil dank des Orks, doch wir haben vier Hobbits verloren, und das sind vier zu viel.“
Fordibras stellte sein Glas hin. „Vergib mir, Sari: ich habe nicht nachgedacht. Jetzt sollten wir allerdings Frieden haben. Die Männer des Königs waren auf dem Marsch, als ich Bruchtal verließ, und wenn Canohando die Auenland-Garnison befehligt, zweifle ich, dass wir noch mehr Eindringlinge zu Gesicht bekommen werden.“
„Das wollen wir wirklich nicht hoffen,“ sagte Sariadoc.
„Ist der Zauberer noch hier?“
„Nein,“ sagte der Herr, „Er ist vor einer Woche zu den Anfurten abgereist, um alles für die Abfahrt der Elben bereit zu machen.“
Radagast hatte ein paar Tagen in der Festung verbracht, ehe er fortging; er schrieb für Malawens Gebrauch alles nieder, was er während des Sommers darüber gelernt hatte, wie das seltsame Fieber der Hobbits behandelt werden musste. Abends saß er mit Canohando im privaten Wohnzimmer der Kommandanten vor dem Feuer. Gemeinsam ließen sie ihre Jahre in Mordor ein wenig Revue passieren: Lash und seine Söhne, Yarga und Frodo, immer wieder Frodo.
„Du hast Beutelsend immer noch nicht besucht,“ sagte der Zauberer.
„Wir werden gehen, wenn der Winter kommt,“ sagte Canohando. „Schnee wird die Straßen verstopfen und den Aufstand abkühlen, wenn bis dahin noch irgend etwas davon übrig ist, und ich werde mich sicherer dabei fühlen, nicht in der Festung zu sein. Beutelsend ist zu weit von der Grenze entfernt.“
Radagast lächelte und blies einen Rauchring an die Decke.
„Na ja, du hast reichlich Zeit. Nun, da ich Gelegenheit hatte, über die Sache nachzudenken, glaube ich, dass du Recht hast, im Auenland zu bleiben. Du könntest dir keinen besseren Ort wünschen, um deine Familie aufzuziehen.“
„Die Halblinge würden das genießen, meinst du nicht: ein Nest junger Orks, die auf ihrer Türschwelle aufwachsen? Ich bin nicht so sicher: ich denke, wir werden vielleicht eine weitere Festung Richtung Westen bauen, in einem Jahr etwa... zwischen dem Auenland und den Anfurten. Es ist diese Gegend, die Itaril in Versuchung geführt hat, und sie wird leer stehen.“
Der Ork kippte seinen Stuhl nach hinten gegen die Wand er gewöhnte sich endlich daran, auf Stühlen zu sitzen und bohrte sich mit einem Holzsplitter in den Zähnen. „Wir werden uns in der Wildnis außerhalb der Heimat meines Bruders ansiedeln, ein schützender Ring, wie eine Mauer rings um das Auenland. In tausend Jahren, wenn es Gondor vielleicht nicht mehr gibt, dann sind wir noch immer hier, und das Land ist sicher.“
„Und mögen die Heiligen ihren Segen dazu geben,“ sagte Radagast. Er erhob sich und klopfte seine Pfeifenasche im Kamin aus. „Ich muss bei Tagesanbruch fort, Canohando. Ich habe mich schon zu lange aufgehalten, weil ich unsere gemeinsame Zeit verlängern wollte.“
Der Ork kam auf die Beine und zog den Zauberer in eine schwerfällige Umarmung hinein.
„Du gehst an den Ort, der dir rechtmäßig zusteht, Brauner, und ich bleibe dort, wohin Liebe und Pflicht mich rufen. Doch es betrübt mich, dass wir uns nie wieder begegnen werden, in all den langen Wendungen der Welt.“
„Wer hat dir denn das erzählt?“ sagte Radagast. „,Niemals' ist eine lange Zeit, mein Freund.“
Der Zauberer machte sich in der Morgendämmerung auf den Weg, und später hörten sie, dass drei graue Schiffe von den Anfurten abgesegelt waren, ehe die Herbststürme kamen; doch der Ork ging in diesem Winter nicht nach Hobbingen. Zu der Zeit, als Nachricht aus Minas Tirith kam, das Itarils Aufstand vollständig nieder geschlagen worden war, zögerte Malawen, sich hinaus zu wagen; Canohando verhätschelte sie und schickte nach einer von Faradors Tanten aus Bockland, damit sie kam und ihr Gesellschaft leistete. Als der März zu Ende ging, wurden ihre Hoffnungen Wirklichkeit, und die Elbin lag mit ihrem neu geborenen Sohn in den Armen, während Canohando sich über die beiden beugte. Er wagte kaum, das Kind zu berühren und konnte den Blick nicht abwenden.
„Er ist so klein,“ staunte er, doch Malawen gluckste.
„Er ist da groß, wo es zählt,“ antwortete sie, und ihre Augen tanzten vor Mutwillen. „Sagtest du, dass du viele Enkelkinder willst, Melethron?“
Canohando starrte sie einen Augenblick lang ausdruckslos an; dann zog er sie und das Baby gleichzeitig in seine Arme; er zitterte vor Lachen. „Oh mein Elbchen, aus welchem Baum bist denn du gefallen? Wenn ich früher meinem Kümmerling zuhörte, wie er Geschichten von den Elben erzählte, dann dachte ich, sie wären reines Sternenlicht und Mithril, und Klingen aus scharfem Stahl, die in der Sonne blitzen. Du hättest ihn bis zu den Haarwurzeln erröten lassen, Melethril! Ich glaube nicht, dass er je einem Elb wie dir begegnet ist.“
Sie kicherte, die Stimme an seiner Brust gedämpft. „Ich war zu oft in der Gesellschaft von Soldaten, und von einem gewissen Ork-Kommandanten. Schau dir sein Gesicht an, Liebster, er hat deine Augen! Wie sollen wir ihn nennen?“
Canohando bettete sie sanft zurück zwischen die Kissen; er nahm ihr das Kind aus den Armen und hielt es sicher fest, während er die Decken Schicht für Schicht abschälte. Das Baby war schmal, aber stämmig gebaut, mit großen Händen und Füßen, und er schlug mit Armen und Beinen um sich und quäkte, als die kühle Luft seine Haut berührte. Der Ork untersuchte ihn gründlich, ohne auf seine Proteste zu achten, doch als der Kleine zu zittern anfing, wickelte sein Vater ihn wieder ein und steckte die Decken sauber fest; er ließ jedoch eine Hand frei. Er legte seinen Finger gegen die winzige Handfläche, und das Kind schloss auf der Stelle die Faust darum.
„Er hat einen starken Griff. Was ist das elbische Wort für ,Beschützer', Melethril?“
„Osta. Oder vielleicht Vara.“
„Osta. Das wird sein Name sein. Unser Erstgeborener, unser ältester Sohn: und eines Tages wird er die Grenzen des Auenlandes gemeinsam mit mir abschreiten, als stellvertretender Kommandant über seine Brüder.“
Es war Ende Mai, ehe sie sich endlich auf den Weg ins Westviertel machten. Farador war bei ihnen, hoch erfreut, dass er Canohando endlich nach Beutelsend geleitete. Er ritt ein struppiges Pony und Malawen saß auf ihrer eigenen Stute, aus den Ställen der Festung, Osta in einer Rehhaut auf ihren Rücken gebunden. Das Baby schlief die meiste Zeit, an sie gekuschelt und beruhigt vom steten Tritt des Pferdes, doch wenn er hungrig wurde, gab es ein leises Schnauben und Grummeln von sich und erwachte langsam, bis es vollends wach war und brüllend seine Unzufriedenheit kundtat. Dann hielten sie an und rasteten unter einem Baum, während Malawen den Kleinen stillte.
Canohando weigerte sich noch immer, auf dem Pferderücken zu reisen, und er ging neben ihnen her. Manchmal langte er nach oben, um für eine Meile oder zwei die Hand mit der von Malawen zu verschränken, oder um dem Baby sanft den Rücken zu reiben, wenn es unruhig zu sein schien.
Sie hatten keine Eile, und sie reisten im Schritttempo. Das Wetter war schön, der Frühlingssonnenschein angenehm warm auf ihren Armen und Gesichtern, und wenn es eine Brise gab, dann duftete sie nach Apfelblüten und Klee.Die Weizenfelder zeigten das erste, neue Wachstum der Jahreszeit, und die wogenden, grasigen Hügel waren willkürlich mit runden Fenstern übersät, die in der Sonne blinkten, und mit runden Türen in blau, grün oder rot.
Canohando war im vorigen Sommer durch diese Landschaft gekommen, aber damals hatten die Zwillingsschatten von Krankheit und Bürgerkrieg darüber gehangen, und sein Geist war starr gewesen vor Wachsamkeit. Nun war überall rings um ihn her ein Friede, der ihm in jede Pore drang; er konnte spüren, wie die Spannung aus seinem Rücken und seinen Schultermuskeln sickerte, wie ein Bogen, der am Ende der Schlacht gelockert wird.
Dann ist die Schlacht also vorüber? fragte er sich, aber er wusste, dass es andere Kämpfe geben würde, andere Feinde, in den Jahren die kamen. Nur dass da jetzt diese Atempause war, und er hatte das Gefühl, sich auf einer Pilgerfahrt zu befinden und in der Zeit rückwärts zu reisen, obwohl er auf der Straße voran zog.
Viele Jahre lang hatte er sich Neunfinger nicht mehr so nahe gefühlt. Das Land war grün, genauso, wie Frodo es ihm vor langer Zeit erzählt hatte, und der Himmel zeigte ein so klares, lebhaftes Blau, dass der Ork das merkwürdige Gefühl hatte, unter einer umgekehrten See zu reisen als ob das Himmelszelt sich ohne Vorwarnung von innen nach außen kehren und ihn mit frischem Wasser übergießen könnte. Schäfchenwolken segelten über seinem Kopf dahin wie Boote auf dem Núrnenmeer, von dem er gehört, das er aber nie gesehen hatte, weit im Süden von Mordor. Mehr und mehr fühlte er sich wie in einem Wachtraum.
Halblinge kamen auf der Straße an ihnen vorbei und starrten sie neugierig, doch ohne Furcht an Gerüchte über die Elbendame mit ihrer heilenden Gabe und über den Ork, der die Räuber praktisch auf eigene Faust vertrieben hatte, hatten sich während der Wintermonate kreuz und quer verbreitet. Canohando ertappte sich dabei, dass er in jedem Gesicht, das er sah, nach dem Bild seines Kümmerlings suchte, aber dies hier war ein munteres, vernünftig ausschauendes Volk, mit runden, rosigen Wangen und Lachfältchen rings um die Augen. Hobbits, erinnerte er sich, das Wort fremd auf seiner Zunge. Nur Farador besaß Frodos zart gezeichnetes Gesicht, und selbst er hatte nicht die tiefen Augen, die die Seele eines jeden an die Oberfläche zu ziehen zu schienen, um sie ins Licht zu halten.
„Für dieses Land, für diesen Frieden haben wir den Krieg geführt,“ sagte Malawen leise, und er schaute so rechtzeitig auf, dass sie einen Kuss auf seine Stirn drücken konnte. Sie fing an, in der Elbensprache zu singen, die er noch immer nur unvollkommen verstand, irgendetwas über einen in Grau gekleideten Wanderer. Mehr als das konnte er nicht aufschnappen, und er ließ sich von der Melodie überspülen, ohne sich um die Worte zu kümmern.
Sie war zu seiner Linken, aber er fing an, sich einzubilden, dass noch jemand auf seiner anderen Seite ging. Er meinte beinahe, rasche Schritte zu hören, für jeden, den er selbst tat, zwei, als hätte er eine kleine Eskorte, die sich beeilte, aufzuholen. Er schaute hin, aber da war niemand; er blickte entschlossen geradeaus und versuchte, aus dem Augenwinkel einen Hauch zu erhaschen, aber da war nichts zu sehen. Da war nur das Gefühl, dass dort jemand war, dass diese Reisegruppe fünf Mitglieder hatte, nicht nur vier.
Er gab den Versuch auf, etwas zu sehen und überließ sich ganz dem Gefühl. Malawen hatte ihre Hand auf seiner Schulter; sie wärmte ihn durch das Hemd. Und auf seiner anderen Seite bewegten sich die leichten, raschen Fußtritte... er wurde langsamer und sie wurden es ebenfalls und wanderten friedlich neben ihm her. Er streckte die Finger aus, und obwohl er nichts spürte, wusste er, dass sie ergriffen worden waren; er ging Hand in Hand mit dem unsichtbaren Wesen an seiner Seite.
Ich habe meine Gefährtin gefunden, dachte er, und da war ein Lächeln neben ihm. Ich habe einen Sohn, so wie Lash, und es wird noch mehr geben, und Töchter auch, hoffe ich. Das Lächeln wurde zu einem Grinsen, und dann zu einem Glucksen, das er fühlte, ohne es zu hören.
Farador benannte jedes kleine Dorf, wenn sie dorthin kamen, und sie hielten abends an, um die Nacht in einem Gasthaus zu verbringen. Doch die ganze Zeit hatte Canohando das geisterhafte Gefühl, dass jemand anderes ihm Dinge zeigte; einen knorrigen, alten Baum von gewaltiger Größe am Rand der Straße, und da war die Erinnerung an Furcht neben ihm; ein Bauernhof mit Holzgebäuden anstelle einer runden Tür im Hügel, und Gelächter sprudelte neben ihm, wie über einen alten Scherz, der noch immer Freude bereitete. Der Ork war froh, dass Malawen damit zufrieden war, sich mit Farador zu unterhalten oder Wiegenlieder für Osta zu singen, während sie dahin ritt. Sie verlangte kein Gespräch von ihm, und er war frei, sich um den ungesehenen Gefährten zu kümmern, der neben ihm ging.
Am Nachmittag des dritten Tages kamen sie zu einer schlichten Holzbrücke über einem Fluss, und danach in ein anderes, kleines Dorf, über dem der Höcker eines Hügels thronte, der hoch gegen den Horizont aufragte, umkränzt von einem verschwenderischen Blumengarten. Steinstufen, die in den Hügel eingesetzt waren, führten zu einer runden, grünen Tür.
„Und hier ist Beutelsend,“ sagte Farador, aber Canohando wusste es bereits, durch den Rausch jubelnder Heimkehr an seiner Seite. Er fühlte ein Aufblitzen großer Freude, die von der unsichtbaren Gegenwart ausging, und für einen Augenblick stand das Gesicht seines Kümmerlings ihm klar vor Augen. Dann ging der Moment vorüber, und es waren nur noch vier Reisende.
Sie wurden feierlich von dem jungen Herrn von Beutelsend willkommen geheißen; er war eindeutig nervös, tat aber sein Bestes, das unter untadeligem Benehmen zu verbergen. Er öffnete höchstpersönlich die Tür und bat sie unter Verbeugungen herein, und sie stellten fest, dass die kleine Eingangshalle von wenigstens einem Dutzend Hobbits wimmelte, allesamt in ihren besten Kleidern und mit ihren feinsten Manieren; sie schnatterten leise untereinander, bemüht, ihre Aufregung zu unterdrücken.
„Willkommen, guter Herr und gute Herrin. Hallo, Farador. Seit dem letzten Sommer haben wir uns darauf gefreut, euch zu sehen, aber ich wusste, ihr wart mit dringenderen Angelegenheiten beschäftigt. Ich glaube, ich spreche für jedermann in Hobbingen, wenn ich unseren ehrlich empfundenen Dank für eure Mühen zum Wohle des Auenlandes ausdrücke.“ Wieder verbeugte er sich, und seine kastanienbraunen Locken streiften beinahe Canohandos Knie; der Ork legte die Hand vor den Mund, um ein Grinsen zu verbergen.
„Ich danke dir, junger Hobbit. Ich habe mir viele Jahre gewünscht, das Heim meines Bruders zu sehen, und ich bin froh, endlich hier zu sein. Bist du Harding, der Vetter, von dem Farador gesprochen hat?“
„Ja, Harding vom Bühl, und darf ich dir mein Weib vorstellen, Reseda - “ Er zog eine hübsche, junge Frau mit honigfarbenem Haar nach vorne, die einen Knicks machte und errötete; aber sie lächelte mit Wärme, als sie Malawens Blick einfing. Ein winziges Hobbitmädchen klammerte sich an ihre Röcke und spähte vorsichtig um ihre Mutter herum, damit sie zu dem Ork hinauf starren konnte, der sich über der Gesellschaft auftürmte.
„O-o-oh!" schnaufte sie und brach in geräuschvolles Schluchzen aus.
„Und meine Tochter, Rosie,“ fügte Harding hinzu, hob sie auf und erlaubte ihr, das Gesicht in seiner bestickten Weste zu vergraben. „Vergib ihr, bitte: wir haben versucht, sie vorzubereiten, aber sie ist noch zu jung, um es wirklich zu begreifen. Wollt ihr ins Wohnzimmer kommen und euch erfrischen, während wir sie beruhigen?“
Doch Canohando hatte sich im Schneidersitz auf der Erde nieder gelassen; er bedeutete Malawen, ihm das Baby zu reichen. Er ignorierte das weinende Mädchen und saß nur da und liebkoste Osta. Er summte leise und strich mit einem Finger über die Nase des Babys und die kleine Wölbung über seinen Augenbrauen.
„Wach auf, kleiner Junge, wach auf! Schau, hier sind höfliche Gastgeber, die du begrüßen musst, und ein Kleines, ganz genau wie du. Mach die Augen auf, mein Sohn.“
Im Sitzen befand er sich auf Augenhöhe mit den erwachsenen Hobbits, und er warf dem jungen Herrn ein verschwörerisches Lächeln zu. Harding nahm de Wink auf und fing an, seinem kleinen Mädchen etwas ins Ohr zu flüstern, und endlich wagte sie es, hinter einem Vorhang aus Haaren einen vorsichtigen Blick zu riskieren. Ihre Augen richteten sich fest auf Osta, und sie zappelte, um vom Arm ihres Vaters hinunter zu kommen.
„Baby!“ rief sie aus. Sie hockte sich neben Osta und berührte seine Wange. Dann hielt sie ihre Hand an sein Gesicht, offenbar betroffen von ihrer unterschiedlichen Hautfarbe; der kleine Ork war eine Schattierung heller als sein Vater, aber immer noch unverwechselbar grau.
„Baby krank?“ fragte sie besorgt.
„Nein, er ist nicht krank. Er ist wie ich,“ sagte Canohando.
Sie spähte zu ihm hoch, noch immer wachsam, doch er saß friedlich unter ihrem Blick und machte keinerlei Bewegung, obwohl seine Augen zwinkerten, während er sie betrachtete. Endlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen und pflanzte ihm zur Verblüffung aller Anwesenden einen Kuss auf die Lippen.
„Du lieb!“ stellte sie nachdrücklich fest, plumpste auf den Steinboden und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Baby zu. Inzwischen war Osta wach; seine hellen Augen starrten zu ihr auf, und sie fing an, ihn zu umglucken und sein Gesicht zu tätscheln.
Reseda nahm Malawens Hand und lächelte. „Also, dieser kleine Sturm ist vorüber! Ich denke, sie werden Freunde sein, du nicht auch? Komm herein und trink eine Tasse Tee, meine Liebe; du musst müde sein von deiner Reise. Lass die Väter sich eine Weile um ihre Kleinen kümmern.“
Es war der Beginn eines angenehmen Besuches, der fast vierzehn Tage andauerte, und Canohando fühlte sich in Beutelsend so sehr zu Hause wie jemals irgendwo. Die Gärtners waren freundliche und warmherzige Gastgeber, von Hardings Vater Holfast, einem rüstigen Achtzigjährigen, der sich noch immer an jedem schönen Tag um seinen Garten kümmerte, bis zu Klein Rosie, die den Ork als einen weiteren Onkel adoptiert zu haben schien und abwechselnd Ritte auf seinen Schultern erbettelte oder mit Baby Osta spielte.
Natürlich zeigten sie ihm Frodos Buch der Erinnerungen, und das Schwert Stich, das über dem Kaminsims hing. Da Canohando nicht lesen konnte, las der alte Holfast ihm das Buch vor, Abend für Abend am Kamin. Der Ork lauschte aufmerksam; manchmal lachte er und erzählte von seinen eigenen Erinnerungen an die Vorfälle, die Frodo beschrieb.
Und sie zeigten ihm den geschnitzten Bärenzahn, den er seinem Kümmerling gegeben hatte; er wurde unter einer Kristallkuppel aufbewahrt, genau so, wie Sariadoc es ihm gesagt hatte. Er drehte ihn immer wieder zwischen den Fingern, als würde er ihn liebkosen, und Holfast sagte:
„Ich weiß noch, wie er mir zeigte, was er da um seinen Hals trug; weißt du, wir hatten den Lederbändel gesehen, an dem er hing, aber er hielt den Zahn immer in sein Hemd gesteckt. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, dass es ein merkwürdiges Ding wäre, um von einem Edelhobbit getragen zu werden. Irgendwie wild und fremdländisch, und der alte Frodo war immer so wählerisch bei seiner Erscheinung, und zwar bei allem! Aber er hat ihn nie abgenommen, bis zum Tag, an dem er starb, und als er ihn mir gezeigt hat, da ist er genau so damit umgegangen wie du gerade als wäre er ein kostbarer Edelstein.“
Canohando starrte ihn an.
„Du erinnerst dich an ihn? Ich dachte, die, die ihn gekannt haben, wären alle schon vor langer Zeit gestorben.“
Holfast gluckste gemütlich. „Oh, ein paar von uns sind schon noch übrig! Nicht viele, verstehst du; die Zeit läuft weiter, und der alte Frodo ging nicht mehr viel unter die Leute, nachdem er zurückgekommen war. Er blieb hübsch in der Nähe von daheim und kümmerte sich um meinen Großvater das war sein Freund Samweis; ich vermute, er muss dir von ihm erzählt haben. Und er lebte nur noch ein paar Monate, nachdem Bürgermeister Sam gestorben war. Aber er hat uns immer Geschichten erzählt, uns Kindern, und wir durften sein Schwert nehmen und mit seinem Bogen draußen im Garten Schießen üben. Ich erinnere mich gut genug an ihn.“
„Mit seinem Bogen? Ihr habt ihn immer noch?“
„Sicher haben wir das; er ist einer der Schätze von Beutelsend. Die Kinder dürfen aber nicht mehr damit spielen; er hängt an der Wand in dem Zimmer, in dem er schlief, gleich neben dem Bild von ihm. Komm mit, ich zeig's dir.“
Doch als Canohando vor dem Bild stand, wurde es ihm fast zu viel. Es zeigte einen weit jüngeren Frodo als den, den er gekannt hatte; Bilbo hatte es in dem Sommer anfertigen lassen, bevor Frodo jährig wurde, und die blauen Augen waren erfüllt von Intelligenz und einem Hauch Mutwillen, nicht von dem hart erkämpften Frieden, an den Canohando sich erinnerte. Trotzdem sah es ihm sehr ähnlich, und der Ork ballte die Fäuste, bis die Fingernägel sich in seine Handflächen bohrten; er rang darum, nicht zusammen zu brechen.
„Ich mache einen Spaziergang,“ sagte er, als sie die Schlafkammer verließen. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus, und Holfast starrte bestürzt hinter ihm her und fragte sich, ob irgendetwas, das er gesagt hatte, eine Beleidigung gewesen war.
Man hatte Canohando Frodos Grab gezeigt, auf dem kleinen Friedhof außerhalb von Hobbingen, aber es war ihm gleichgültig gewesen. Nach seinem Dafürhalten sollten die geehrten Toten mit einem Feuersturm in die nächste Welt geschickt werden, zusammen mit ihren meist geschätzten Besitztümern. Es ließ sein Herz frösteln, daran zu denken, dass irgendjemand, den er liebte, für alle Zeiten in der kalten Erde lag. Nun allerdings wandte er sich instinktiv in Richtung Friedhof; er sehnte sich nach seinem Kümmerling und verzehrte sich nach Einsamkeit, um zu trauern.
Es tat gut, zu wissen, dass Frodo nicht vergessen war. Es tröstete ihn, einem anderen Geschöpf zu begegnen, das seinen Kümmerling gekannt hatte und ihn in Ehren hielt, und Beutelsend schien ihm Frodo so nahe zu bringen und doch nicht nahe genug. Er erreichte den Friedhof, still und leer in der Abendkühle, und streckte sich neben Frodos Grab auf der Erde aus.
„Ich erinnere mich an dich,“ flüsterte er.
Der Geruch nach Erde und nach wachsenden Dingen stieg ihm scharf in die Nase, und die Tränen, die er zurückgehalten hatte, überwältigten ihn. Er lieferte sich der Trauer aus: um seinen Kümmerling, der nun schon so viele Jahre für ihn verloren war, aber auch um das Schiff, das ohne ihn in das Segensreich gesegelt war, das er nun niemals zu Gesicht bekommen würde. Um Malawens Willen war er zurück geblieben, und für ihre Kinder, und auch deswegen, weil der Ruf ihn ereilt hatte, das Auenland zu beschützen - aber die ganze Zeit über hatte der Hunger, zu gehen, in ihm geschmerzt, wie sehr er ihn auch nieder zwang, ihm widerstand und ihn verleugnete.
Als er sich ausgeweint hatte, lag er still da, den Kopf auf den Armen. Es war jetzt dunkel, und irgendwo in der Nähe quakte ein Ochsenfrosch; ein anderer antwortete ihm von weiter weg. Eine Eule rief, und er fragte sich, ob es wohl Frösche oder Eulen in Valinor gab. Erinnerungen an Frodo glitten in seinen Geist hinein, eine nach der anderen, abwechselnd lustig und rührend, und er wurde ruhiger und friedlicher. Nach einer Weile schlief er ein.
Er erwachte in einer Dämmerung aus Perlen und Bernstein, und er setzte sich auf und schaute zu, wie die Sonne aufging. Während das Licht stärker wurde, ließ es den Glimmer in den grauen Grabsteinen aufglitzern, und in einem Spinnennetz im Gras funkelte der Tau. Frodos Grabhügel war ein dichter Teppich aus herzförmigen Blättern und kleinen, purpurroten Blüten. Der Ork zog sich hoch und kam auf die Beine, ein wenig steif vom Liegen auf dem Boden; er dachte, dass dies immerhin doch kein so schlechter Ort für einen Sterblichen war, um seinen letzten Schlaf zu schlafen.
Deine Knochen liegen hier, mein Kümmerling, aber nicht dein sanfter Geist. Und der ist nicht verloren, denn du bist mit mit die Straße entlang bis vor deine Tür gewandert... Er legte liebkosend eine Hand auf den Grabstein. Du bist nicht ganz und gar fort gegangen aus diesem Land, das du liebst, und auch ich werde nicht fort gehen. So zahle ich meine Schuld an dich zurück, Bruder doch nein, es gibt keine Frage der Bezahlung zwischen dir und mir. Denn ich liebe dich, und um deinetwillen liebe ich das Land deiner Geburt.
Er machte sich wieder auf den Weg zurück nach Beutelsend, und plötzlich überkam ihn Freude. Er schwang mit den Armen, während er lief; er hatte das Gefühl, als wären neue Stärke und Zuversicht auf irgendeine Weise während der Nacht in ihm eingepflanzt worden wären. Wieder dachte er an Frodo, aber diesmal mit einem Lächeln; er schien das Bedauern hinter sich auf dem Friedhof zurück gelassen zu haben... als wäre es gemeinsam mit seinen Tränen im Boden versickert. Dies war die Zuflucht, die ihm geschenkt worden war; vielleicht nicht mitten im Auenland, aber ganz in der Nähe, um darüber zu wachen.
Er blickte voraus und sah, dass jemand in seine Richtung kam; die einzige andere Person, die an diesem frühen Morgen auf der Straße war. Dann fing sie an zu rennen, und er wusste, dass es Malawen war und rannte auch; er fing sie auf und wirbelte sie unter Gelächter herum.
„Wo ist das Baby, Melethril? Draußen im Garten, um seine Bogenschießkunst zu üben?“
Sie lehnte sich außer Atem an ihn und klammerte sich an seinen Arm. „Noch nicht ganz! Er wächst, aber nicht so schnell. Wo bist du gewesen, Liebster? Siehst du, ich mache mir Sorgen, wenn du nicht bei mir bist; das ist der Grund, weswegen ich mit dir in den Westen gegangen wäre, damit ich nicht mehr um dich fürchten muss.“
Er hob sie hoch, als wäre sie ein Kind, und wiegte sie an seinem Herzen.
„Nein, Melethril, hab keine Angst! Wir sind jetzt daheim; dies ist, wo wir hingehören, du und ich, und unsere Kinder. Das Auenland wird unser Segensreich sein.“
ENDE
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