Der Preis der Freiheit (The Price of Freedom)
von Erin Lasgalen, übersetzt von Cúthalion


2. Kapitel
Furcht vor der Finsternis

Éowyn kniete in der Halle der Königin, nachdem sie ihren knappen, gefühllosen Bericht über alles, was am Südpass geschehen war, beendet hatte. Die Mittagshitze hing drückend in der Luft um sie her, als Hurin von Gondor und Gimli ihre Seite der Geschichte erzählten. Gimli, Sohn des Glóin, saß neben ihr und sah so unbehaglich aus, wie sich ein Zwerg nur fühlen konnte. Zu Beginn des Gesprächs hatte er mannhaft versucht, sich auf seinem Polster zu halten, aber die Natur hatte seine Beine nicht mit genügend Länge ausgestattet, und er rutschte ständig auf einer Seite hinunter. Eine Weile kämpfte er tapfer mit dem Kissen, bevor er es mit einer gemurmelten Entschuldigung in Indassas Richtung zur Seite legte. Jetzt saß er auf Zwergenart mit verschränkten Beinen da, sein rötliches Gesicht von schlafloser Sorge verkrampft. Er hatte sich erst bereit erklärt, von Legolas’ Seite zu weichen, nachdem Fallah ihm bei den Seelen ihrer Vorfahren geschworen hatte, dass der Elb außer Gefahr war.

„Sagt mir“, hatte Indassa sie gefragt, ihr Kindergesicht eine ausdruckslose Fassade, die nichts verriet, „wie kommt es, dass Soldaten aus Gondor an der Seite ihrer alten Feinde in mein Königreich einmarschieren, einhundertfünfzig Meilen entfernt von König Elessars Reich?“ Wenn man das Zittern der Hände nicht bemerkte, die in ihrem Schoß lagen, hätte man die Königin für vollkommen beherrscht gehalten.

„Der Kaiser von Harad kam zum ersten Mal vor einigen Monaten an den Hof von König Elessar“, erzählte ihr Hurin. „Er kam, um eine offizielle Übereinkunft des Friedens zwischen seiner Nation und der unseren einzufordern – etwas, das es nie zuvor gegeben hat. Elessar war natürlich misstrauisch, vor allem im Licht der Tatsache, dass Haradoun die letzten zwei Jahre damit verbracht hat, sich den Weg zu einer Übermacht über alle Länder, die südlich und östlich von Gondor liegen, zu schlachten und zu morden. Er hat all die Völker, die einst Sauron gefolgt sind, unter seiner Flagge vereinigt. Aber als der König in ihn drang, erzählte er uns eine Geschichte, die seine Absichten viel kühler und zweckmäßiger erscheinen ließ als der einfache Wunsch nach Frieden. Er sagte, seine nördlichsten Grenzen wären von Morgulbestien besetzt... Blutsäufer, die sich ohne Unterscheidung bewaffnete Männer, Schafhirten und Babys in der Wiege zur Beute suchten. Er sagte, sie würden sich wie eine Seuche in seinen Ländern ausbreiten, sie würden ihre Opfer zu Geschöpfen ihresgleichen machen, ihre Anzahl damit vergrößern und dabei ganze Dörfer ausradieren.“

„Saah!“ fluchte Indassa leise in der Haradrim-Sprache.

Hurin begriff die Bedeutung, ohne dass eine Übersetzung nötig war. „Unser König war ganz derselben Meinung, Majestät. Diese Art Bestie wurde, wenn es nach den Weisen geht, seit dem Zweiten Zeitalter nicht mehr gesehen. Aber Haradoun war hartnäckig. Monatelange Verhandlungen folgten zwischen Haradoun und dem König von Gondor und es gab langsame Fortschritte in Richtung auf ein brauchbares Abkommen. Dann fingen die Blutsäufer an, Gondor äußerste nordöstliche Grenzen in den Emyn Muil anzugreifen.“

Éowyn fuhr zusammen; sie verspürte einen kalten Schauder des Entsetzens. Wie, bei allem, was heilig war, hatten die Jäger sich so weit ausbreiten können?!

„Wieder“, fuhr Hurin fort, „kam Haradoun persönlich nach Minas Tirith, und dieses Mal flehte er nahezu um Hilfe. Er war sehr überzeugend; er sagte unserem König, dass in seiner Vorstellung ein vereinigtes Reich von Harad, das den gesamten Osten umschließt, eine große und ruhmreiche Sache sei. Aber er wünschte sich kein Reich voll wandelnder Leichen. Der König war von seinen Bitten gerührt, aber noch mehr durch das Flehen von Haradouns Völkern und den Bürgern Gondors, die versuchten hatten, sich in den Emyn Muil wieder etwas aufzubauen. Der Kaiser sagte uns, dass er glaubte, die Blutsäufer hätten sich von einem zentralen Nest aus verbreitet. Er sagte, es würde sich die Legende halten, dass solche Geschöpfe in den Dhak-Dir-Bergen lebten, die das Talkönigreich von Rhunballa umgeben. Er erzählte uns, das Volk von Rhunballa bestünde aus Hexen, die die Dhak-Dir vor langer Zeit versklavt hätten, und dass sie selbst von den Ostlingsstämmen des Rhun-Meeres gefürchtet würden. Haradoun schien zu denken, dass - wie bei vielen anderen Dingen im ehemaligen Reich des Dunklen Herrschers – das Gleichgewicht der Macht durch Saurons Sturz gestört sei... dass die Hexen ihre früheren ,Schoßtiere’ nicht länger beherrschten. Ohne die unausgesprochene Drohung von Mordor, die die Blutsäufer in Schach hielt, seien sie jetzt außer Kontrolle und verbreiteten sich wie Ungeziefer, dessen natürliche Feinde fort sind.“

„Die Königin von Gondor glaubte, es sei ein wenig Wahrheit in dieser wilden Mär“, sagte Gimli. „Ihr Vater war ein uralter und gelehrter Elbenherr, und er hatten in seinen Büchern der Lehre und Geschichte geschrieben, es hielte sich seit einem Jahrtausend das Gerücht von etwas Furchtbarem – einem überlebenden Schrecken des Ersten Zeitalters – das in den roten Bergen südlich des Rhunmeeres existierte.“

„Und so“, fragte Indassa kühl, „habt Ihr euch meinem edlen Gemahl auf seiner tapferen Fahrt angeschlossen, diese Welt von den Nachtjägern zu befreien?“

Éowyn beobachtete sie genau; sie sah Zeichen, die sie nach zwei Jahren, in denen sie die Stimmungen und Reaktionen des Mädchens beurteilte, gut kannte. Indassa war eine großartige Schauspielerin geworden, geschickt darin, ihre Gedanken mit wenig oder ohne alle Anstrengung vor ihren Ministern zu verbergen. Aber unter dieser beherrschten Oberfläche war die Königin angespannt wie eine zu eng gedrehte Sprungfeder, die jede Sekunde hochschnellen konnte.

„Nein, Majestät“, erwiderte Hurin. „Haradoun führte eine Streitmacht von tausend Männern an, um die Wahrheit über Rhunballa herauszufinden. Elessar steuerte die gleiche Anzahl bei. Zusätzlich sandte er auf Haradouns Bitte zwei seiner Ratgeber mit aus, denen er am meisten vertraute, damit er dem Bericht über das, was gefunden wurde, ohne Zögern Glauben schenken konnte. Wenn wir tatsächlich fänden, was wir suchten, dann würde das Wort von Herrn Gimli und dem Prinzen von Düsterwald ausreichen, um Elessar davon zu überzeugen, Hilfe in den Osten zu schicken, damit die Blutsäufer ausgerottet würden.“

„Majestät, die einfache Wahrheit ist“, fügte Gimli hinzu, „ich glaube, Aragorn witterte, dass etwas faul war. Er ist ein Großer, wenn es darum geht, Lügen und Halbwahrheiten aufzuspüren. Aber er wusste auch, dass das Hauptnest – wo immer es auch lag – ausgemerzt werden musste.“

„So ist es“, sagte Hurin zustimmend. Seine strengen, grauen Augen bohrten sich in die von Indassa. „Es lag ein wenig Wahrheit in dem, was Haradoun uns erzählte. Diese Dämmerung kam für mich und meine Männer nicht einen Augenblick zu früh.“

„Wir haben immer gewusst, was die Berge heimsucht“, sagte Indassa. Sie hob das Kinn und weigerte sich, unter diesem durchbohrenden, anklagenden Blick zusammenzuzucken. „Ihr mögt uns mit einem Haus vergleichen, das in einer Stadt von Banditen und Sklavenhaltern steht. Ein Haus, umringt von einem Burggraben, der verseucht ist mit Vipern. Es ist nicht das, was wir uns für eine vollkommene Welt wünschen, aber die Vipern haben dieses Tal seit Jahrhunderten vor der Versklavung durch Mordor bewahrt.“

Hurin betrachtete sie ruhig und mit dem verschlossenen Gesicht eines altgedienten Soldaten, der den Klang einer Lüge durch das Weglassen von Einzelheiten erkennt, wenn er sie hört. Allmählich sah Indassa so aus, als würde sie dagegen ankämpfen, sich unter diesem stahlfarbenen Blick nicht zu winden.

„War Haradoun bei Euch?“ fragte die Königin endlich in die schwere Stille der Halle hinein.

„Das war er, Majestät“, sagte Hurin. „Er führte uns auf dem Weg in den Pass. Wir waren ein fröhlicher Haufen Narren und dachten, wir wären sicher, weil die Sonne an der Südseite aufzugehen begann. Er war einer der ersten, die ergriffen wurden. Ich sah, wie sie ihn aus dem Sattel zerrten, ehe er auch nur seinen Säbel ziehen konnte.“

Die Königin rang kurz nach Atem und legte eine Hand auf die Brust, als litte sie Schmerzen. Sie saß für einen Moment wie eingefroren, gefangen in der Schwebe zwischen Begreifen und Reaktion. Dann fing sie an zu weinen wie ein Kind, dem soeben das Herz bricht.

Éowyn war auf den Beinen und nahm das schluchzende Mädchen in die Arme. Gimli und Herr Hurin sahen es mit der verständnislosen, hilflosen Bestürzung, die gutherzige Männer im Angesicht unbeherrschter weiblicher Gefühle immer zeigen.

„Er ist fort! Er ist fort!“ schluchzte Indassa und wiederholte die Worte wie ein Gebet. „Oh Éowyn, er ist tot! Ich bin frei von ihm! Er ist tot!“

„Mein Herr“, sagte Gimlis ruppige Stimme sanft. „Wir wollen uns ein wenig zurückziehen. Wenn ich mich nicht irre, dann ist dieses Gespräch für den Augenblick beendet.“

Éowyn nickte ihnen über Indassas Kopf hinweg leicht und dankbar zu. Es brauchte eine lange Zeit, das Mädchen von seinem Thron aus seidenen Kissen herunter und in ihre eigenen Gemächer zu locken. Nach einer guten Stunde herzzerreißender Tränen versank die kleine Königin in der Stille der Erschöpfung.

„Es ist vorbei“, flüsterte Indassa tonlos, als Éowyn sie ins Bett steckte. „Die—die Jäger haben ihn aufgehalten, aber—aber Ihr sagtet, sie haben die Wache angegriffen. Éowyn – was wird heute Nacht geschehen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Éowyn. Ihr Herz war halb zerrissen von den Qualen des Mädchens, aber es gab hundert Dinge zu tun und es war nicht genug Tageslicht übrig. Der Mittag war schon vorüber. „Wir sollten uns auf das Schlimmste vorbereiten“, sagte sie Indassa. „Wenn sie sich entschließen, die Stadt geradewegs anzugreifen---“ Sie schloss die Augen gegen die Kopfschmerzen der Anspannung, der sich dahinter aufbaute. Sie versuchte, irgendeinen Verteidigungsplan zu sehen, aus dem das Volk von Rhunballa siegreich hervorging, wenn die Jäger mit aller Macht angriffen. Die grauenvollen Bilder von der Schlächterei am Südpass, die monströse, unmenschliche Stärke, die sie gespürt hatte, als sie in Morsuls Armen hing, die Geschwindigkeit, mit der diese Geschöpfe sich bewegt hatten---

„Ich habe der Wache befohlen, jede lebende Seele in die Schutzräume der Stadt zu bringen“, sagte sie der Königin. „Ikako kümmert sich darum, aber ich muss gehen und ihr helfen. Wir haben letzte Nacht Fallahs gesamten Vorrat an Feuerwaffen aufgebraucht und sie kann in einem halben Tag nicht mehr davon bauen. Als Leibwache der Königin würde ich Euch bitten, mir zu gestatten, Euch heute Abend vor Einbruch der Dämmerung zum Wachhaus zu geleiten. Dort können wir Euch besser beschützen als in der königlichen Villa.“ Sie lächelte grimmig und strich die verwirrten, schwarzen Locken aus Indassas Gesicht. Letzte Nacht hatte sie gesehen, dass es etwas gab, das sie fürchteten.

Etwas, das sie verbrannte, mit nicht mehr als einer flackernden Berührung seines silbrigen Lichtes. Sie klammerte sich an das Bild der schimmernden Kugel, die Legolas benutzt hatte, um die Überlebenden des Massakers von letzter Nacht abzuschirmen. An diesem Punkt war das ihre einzige Hoffnung. „Wir sind nicht ganz ohne Waffen gegen ihre Finsternis, Majestät.“ Sie musste auf der Stelle mit Gimli reden.

„Beschützt mein Volk“, seufzte Indassa, nur noch einen Atemzug vom Schlaf entfernt. „Tut, was immer Ihr tun müsst.“

„Ich schwöre es bei meinem Leben.“ flüsterte Éowyn.

*****

„---niedrig geborene Enkeltochter eines Sabadi-Ziegenhirten!“ spie Obari, die Frau des Weinhändlers, Suni giftig ins Gesicht. „Denk bloß nicht, dass die Tatsache, dass du königlich... gestoßen bist, dir mir gegenüber irgendwelche Rechte gibt! Du wirst mich nicht von meiner Königin fernhalten!“

„Solange diese Notlage andauert, darf niemand ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Befehlshabers der Wache den Haushalt der Königin betreten.“ sagte Suni in einem gelangweilten Tonfall, der nicht zu dem selbstzufriedenen, halben Lächeln passen wollte, das um ihre Lippen spielte.

Éowyn entdeckte Gimli und Herrn Hurin, die leicht abseits von der Szene auf den Vorderstufen der königlichen Villa standen. Obari und Sharadi hatten eine Menge von fast einhundert Frauen versammelt. Éowyn war ein wenig erleichtert. Dies waren einflussreiche, wohl geachtete Frauen. Der kleine Mob hätte viel größer sein können. Es waren nicht annähernd genug, um die Wache rings um Indassas Villa allen Ernstes anzugreifen.

„Ihr!“ knurrte Obari und drehte sich zu Éowyn um, als sie sah, dass sie sich näherte.

„Dies ist Eure Schuld, Ihr barbarischer Troll! Ihr habt Euren ,Soldaten’ befohlen, diese – diese Feuerpfeile auf die Jäger zu richten. Jetzt haben wir Glück, wenn wir heute Nacht nicht in unseren Betten verbrannt werden!“

„Sie töteten die Haradrim, als sie durch den Pass kamen“, erklärte Éowyn mit tragender Stimme. „Dann fingen sie an, auch die Wache zu töten – Eure Töchter und Schwestern.“ Sie richtete einen kalten Blick auf die Frau des Weinhändlers. „Wenn wir nicht in dem Moment gefeuert hätten, in dem wir es getan haben, dann hätten sie Eure Erstgeborene in Stücke gerissen.“

Obari erbleichte - ob aus Sorge um Shaeri oder aus Wut, weil die Zugehörigkeit ihrer Tochter zur Wache öffentlich verkündet wurde, vermochte Éowyn nicht zu sagen. Aber das zornige Stimmengewirr sank zu einem verängstigten Gemurmel herab.

„Und Haradoun?“ fragte eine Frau in der Menge.

„Haradoun ist tot.“ sagte Éowyn schlicht.

Ein kleiner Jubelschrei erhob sich, der aber weit davon entfernt war, aus vollem Herzen zu kommen. Die Bedrohung durch Haradoun war weit weniger beängstigend als ein Ende der friedlichen Beziehung zu den Jägern.

„Wir wissen nicht, was heute Nacht geschehen wird“, sagte Éowyn ihnen. „Aber die unter Euch mit großen Besitztümern bereiten sich und ihre Haushalte besser darauf vor, viele Besucher aufzunehmen. Auf Befehl der Königin ziehen wir jede Siedlung und jedes Gehöft in die Begrenzungen der Stadt zurück. Alle werden untergebracht werden müssen, so lange es dauert.“

„Wir haben nur Euer Wort darauf“ sagte Sharadi störrisch.“ Indassa muss eine öffentliche Ankündigung machen, oder in Ermangelung dessen ihre Ministerinnen empfangen.“ Zustimmendes Gemurmel lief durch die Menge.

„In dieser letzten Nacht hat sie nicht geschlafen und auf Nachricht vom Südpass gewartet“, sagte Éowyn ihnen, „Sie war begreiflicherweise zutiefst unglücklich, als sie von allem erfuhr, was dort geschah. Gebt ihr zwei Stunden Ruhe, meine Damen. Dann werde ich Euch ihre Türen öffnen.“ Sie betrachtete Obari; ihr Blick war hart und unerbittlich. „Ich bin sicher, Ihr wünscht keine Auseinandersetzungen unter uns, während wir immer noch erst sehen müssen, ob wir uns jetzt im offenen Krieg mit den Jägern befinden. Das wäre eine sehr gefährliche Sache.“

Die ältere Frau stakste die Stufen hoch, von der Warnung in Éowyns Worten keineswegs eingeschüchtert. „Ihr wagt es, mir zu drohen, Ihr...“

„Ich warne Euch.“ sagte Éowyn, ihre Stimme ein barsches Flüstern. „Ich bin Befehlshaberin der Wache und Rhunballa befindet sich in einer Notlage. Wenn Ihr die Verteidigung der Königin oder dieses Landes vereitelt, dann sperre ich Euch in den Kerker, bis alles vorüber ist.“ Die Frau des Weinhändlers holte Luft, um ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich zu geben, aber Éowyn schnitt ihr das Wort ab. „Zwingt mich nicht, Euch vor all diesen Leuten zu beschämen, Obari“, sagte sie der rotgesichtigen Witwe. Sie trat noch dichter an sie heran und sprach zu leise als dass irgend jemand anderes sie hören konnte außer der wutentbrannten Frau. „Jeder, den Ihr jemals gekannt habt, wird sich beim nächsten Sonnenuntergang in tödlicher Gefahr befinden---“

„Wegen Eurer Unfähigkeit zu---!“

„Helft mir, Eurem Volk zu helfen!“ sagte Éowyn. „Macht mich für alles verantwortlich, was Ihr wollt, wenn wir die Zeit für einen solchen Luxus übrig haben. Ich flehe Euch an, Obari! Helft mir! Wir müssen in Einheit zusammenarbeiten, wenn wir dies überleben wollen!“

Obaris faltiges, von Anspannung verzerrtes Gesicht war noch immer eine verkrampfte Maske unterdrückter Wut, aber das Wort ,Flehen’ schien ihren Stolz ein wenig besänftigt zu haben. Einen langen Augenblick war sie still. „Zwei Stunden“, sagte sie schließlich zustimmend. „Aber ich werde nicht einen Augenblick länger auf meine Königin warten. Und ihr werdet nicht auch nur einen einzigen, schmierigen Bauernlümmel in meinem Haus einquartieren, bis ich den Befehl dazu von Indassas eigenen Lippen höre!“ Sie fuhr in einem Wirbel grüner Seide herum, bahnte sich rüde einen Weg durch die Gruppe ihrer eigenen Anhänger und schubste sie dabei mit wütenden, kleinen Klapsen beiseite.

„Was für ein elendes, selbstsüchtiges Weib“, murmelte Éowyn vor sich hin, als die Menge anfing, sich aufzulösen.

„Kaltherziges Biest“, sagte Suni angeekelt. „Sie hat sich nicht einmal nach den Verletzungen ihres eigenen Kindes erkundigt.“

Éowyn beäugte sie. „Was hat sie mit ,königlich gestoßen’ gemeint?“

Die hochgewachsene, kupferhäutige Bogenschützin wirkte amüsiert. „Das ist allgemein bekannt. Du solltest bereitwilliger auf Klatsch hören. Mein Vater war ein Sabadi-Ziegenhirte. Meine Mutter war die Tochter des jungen König Udam, von einem Bauernmädchen in Südquell.“

„Dann bist du Indassas --- Nichte?“

Suni schüttelte den Kopf und betrachtete Éowyn liebevoll. „Nein, meine naive Schwester. Ich bin Kommandantin von Wachhaus des Gespannten Bogens und Indassas getreue Dienerin.“

Natürlich, dachte Eowyn betrübt. Wäre Udams illegitimes Kind ein Junge gewesen, der König hätte ihn vielleicht voller Stolz anerkannt. Aber ein Bastardmädchen war im Osten von keinerlei Wert. „Haltet noch zwei Stunden Wache“, sagte Éowyn zu ihr. „Ich werde kurz vorher zurückkommen, um Indassa zu wecken. Schick einen Läufer zu mir in das Wachhaus der königlichen Garde, wenn sich noch einmal eine Menge zusammenrottet.“

„Vorsicht“, sagte Suni feierlich, „meine beiden Kleinen sind bereits in der Gemeinschaftshalle. Du kommst vielleicht zum Wachhaus und findest eine rauchende Ruine vor, wenn sich zu lange keiner um sie gekümmert hat.“ Éowyn unterdrückte ein Grinsen.

Sie drehte sich um und stellte fest, dass Gimli und Hurin sie mit großem Interesse beobachteten. „Es tut mir leid...“ begann sie.

„Nein, Herrin“. Hurin schüttelte freundlich den Kopf. „Entschuldigt Euch nicht, wenn Staatsangelegenheiten zu klären sind. Herr Gimli und ich, wir haben miteinander gesprochen, und wir stimmen hierin überein.“

„Ja, Mädel“, sagte Gimli. „Gib uns eine Aufgabe, damit wir helfen können, die Stadt zu sichern.“

„Liebend gern!“ sagte sie mit Gefühl. „Kommt mit mir, meine Herren. Das Wachhaus der Königinnengarde ist gleich auf der anderen Seite.“

Éowyn beschirmte ihre Augen, als sie ihr über den Brunnenplatz folgten. Es war schon eine Stunde nach Mittag.

„Wir haben weniger als sieben Stunden Tageslicht übrig“, sagte Gimli und sprach ihre Gedanken laut aus.

Das Wachhaus der Königinnengarde hatte sein Dasein als Bäckerei begonnen, die größte in der Stadt. Die äußere Gemeinschaftshalle bewahrte zeitweise immer noch den geisterhaften, tröstlichen Duft nach frischem Brot. Dafür, dass es eine Stunde nach Mittag war, waren die Gemeinschaftsräume seltsam leer. Abgesehen von Sunis beiden kleinen Söhnen, die auf einer der Pritschen im Haupthaus gnädigerweise ihr Nachmittagsschläfchen hielten, war das Gebäude völlig ausgestorben. Éowyn hatte alle Haus-Kommandeure damit beauftragt, die Leute jeweils aus einem eigenen Gebietsabschnitt in die Stadt zu holen und hatte sie eilends in alle vier Richtungen auf der Landkarte geschickt, ehe sich ihre Pferde nach dem langen Ritt zurück vom Südpass auch nur abgekühlt hatten.

Sie führte die beiden durch die inneren Baracken, wo Fallah und die Hebamme Rumashi eine Erholungsstation errichtet hatten für die Wache, die verwundeten Soldaten aus Gondor und die Haradrim, die zu schwer verletzt waren für den Kerker. Mütter und Kinder der Wachmitglieder wachten über ihre Lieben, und weniger ängstliche Verwandte kümmerten sich um die Männer aus Gondor und Harad.

Während sie vorbeikamen, wurden ein Dutzend verschiedener Unterhaltungen unterbrochen und sanken zu neugierigem Gemurmel herab – oder zu einem kurzen Nach-Luft-Schnappen von denen, die Gimli das erste Mal zu Gesicht bekamen. Die Rhunballani sahen selten Fremde, geschweige denn Fremde, die nicht von menschlicher Rasse waren. Die starrenden Blicke waren weder verängstigt noch feindselig, aber da war ein scharfes Interesse, eine eifrige Neugier, die die Leute normalerweise für reisende Gaukler reserviert hielten. Diese Reaktion war Éowyns Hauptsorge gewesen, als sie befohlen hatte, dass Legolas in ihren Räumen untergebracht wurde anstatt in den Hauptbaracken bei den anderen Verletzten. Sie betraten Éowyns Schlafkammer und fanden Fallah, die auf dem unbequemen, hochrückigen Stuhl neben dem Bett döste.

Fallah schreckte hoch und wachte auf, als Éowyn sie leicht am Arm berührte. Éowyn sah, dass die Augen ihrer Freundin rot geweint waren. Fallah hatte jede Unze Kraft und alle ihre Fähigkeiten damit verbraucht, um die Verwundeten auf dem Weg zurück vom Südpass am Leben zu halten. Ihretwegen war nicht ein einziger Mann oder eine einzige Frau, die den Pass lebend verlassen hatten, heute gestorben. Aber das Wissen darum, was ihre Hände angerichtet hatten, die Erinnerung an diesen qualmenden Haufen menschlicher Überreste mit abgerissenen Gliedern musste ein Loch in ihr Heilerherz reißen.

„Wie geht es ihm?“ fragte Éowyn mit gedämpfter Stimme.

„Besser“, sagte Fallah müde. Sie blickte zu ihrem schlafenden Patienten hinüber und runzelte benommen die Stirn. „Unnatürlich ist das... es heilt viel zu schnell.“

„Er ist kein Mensch, Fallah.“ meinte Éowyn.

Gimli war hinzu getreten und stand neben Éowyn, sein Gesicht eine tief eingegrabene Maske der Sorge, während er auf das bleiche Gesicht des Elben hinunter schaute. Legolas lag mit dem Gesicht nach unten unter einem Baumwolllaken, das eine dicke Schicht Brandkompressen bedeckte. Die Wunde, die der Pfeil des Wachhauses vom Gespannten Bogen in seinen rechten Schenkel gerissen hatte, war sauber und verbunden. Fallah stand auf, und als sie die Gesichter von Gimli und Éowyn sah, hob sie den Rand der Kompresse von Gimlis Rücken. Sie tastete auf dem Nachttisch nach ihren Augengläsern, ehe ihr klar wurde, dass sie sie auf dem Kopf trug.

„Schaut“, sagte Fallah. „Das grenzt für mich an ein Wunder. Es gibt zwei Stellen auf seinem Rücken, wo die Brandwunden wirklich tief ins Fleisch gingen. Der Rest sind bloß hässliche Brandblasen. Aber die Rötung und die Schwellung gehen bereits zurück. Er könnte sehr wohl ohne eine Narbe, die von seinen Verletzungen erzählt, aus dieser Sache hervorgehen. Die Pfeilwunde war das Schlimmste daran.“

Gimli gluckste. „Ich wette, er wird dir sagen, dass sein abgesengtes Haar das Allerschlimmste ist! Er wird in einen Zustand der Trauer verfallen, wenn er aufwacht und feststellt, dass er das Meiste davon verloren hat!“

Éowyn starrte auf die zornroten Blasen hinunter, die die blasse, makellose Haut auf dem bloßen Rücken des Elben verunstalteten, und sie spürte, wie ein schreckliches Schuldgefühl in ihr aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. „Ihr und er, ihr habt mit mir Freundschaft geschlossen, als ich Freunde verzweifelt nötig hatte“, sagte sie dem Zwerg mit kleiner Stimme, „Und ich habe Euch eure Freundlichkeit mir Eurem eigenen Blut zurückgezahlt---“

„Schluss jetzt erst einmal mit diesem Blödsinn, Mädchen!“ sagte Gimli streng. „Du verdienst nicht, dafür verantwortlich gemacht zu werden, und selbst wenn du es tätest, hast du keine Zeit, dich darin zu suhlen!“

Sie blinzelte überrascht.

„Ich denke, dass wir uns zwischen dem, was du uns erzählt hast und den Dingen, die deine kleine Königin weggelassen hat, ein ziemlich deutliches Bild von dem haben machen können, was passiert ist.“ sagte er. „Und wer dafür verantwortlich gemacht werden muss.“

„Haradouns Verrat wurde zuletzt endlich angemessen belohnt.“ sagte Hurin grimmig.

„Haradoun ist tot?“ fragte Fallah; ein winziges, erschöpftes Lächeln hob ihre Mundwinkel.

„Herr Hurin hat gesehen, wie sie ihn mitgenommen haben.“ sagte Éowyn. Sie wandte ihren Blick von Legolas allzu bleichem Gesicht ab, zurück zu Gimli. Sie sah Fallahs saubere Naht quer über seiner Stirn, wo der Riss gewesen war. „Ihr Herren, es ist sehr gut möglich, dass wir uns ab der kommenden Abenddämmerung im Belagerungszustand befinden. Ich würde diese Worte nicht vor den Ohren von irgend jemand anderem außer Fallah aussprechen, aber unsere Chancen sind gering bis aussichtslos, wenn wir sie mit Schwert und Bogen bekämpfen. Fallah...“

„Ich wusste, was du mich fragen würdest, meine Freundin“, sagte Fallah und wischte sich den Schlaf aus den überanstrengten Augen. „Ich werde in meinen Laden gehen und eine Inventur von all meinen Vorräten machen. Obwohl unser Arsenal im Kampf der letzten Nacht so gut wie erschöpft worden ist. Ich werde schauen, was für eine Art von Brandsätzen ich mit dem zusammenzaubern kann, was übrig ist. Sagt Rumashi, sie soll die Salbenkompressen bei denen, die Verbrennungen haben, alle drei Stunden wechseln. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang bin ich wieder zurück.“ Sie ging leise hinaus; als sie an Hurin vorbei kam, begegneten sich kurz ihre Augen. „Für das, was durch meine Hände geschehen ist, habe ich Euch gegenüber eine Blutschuld, Herr“, sagte sie leise. „Verlasst Euch darauf, dass ich sie zurückzahlen werde, wenn wir dies hier überleben.“

Hurins stahlgraue Augen folgten ihr, als sie verschwand. „Das“, sagte er langsam, „ist vermutlich die gefährlichste Frau, der ich je begegnet bin. Diese Feuerwaffen...“ Er schauderte. „Eru! Wenn ein solches Ding je in die Hände eines bösen Mannes fallen sollte---“

„Es war meine Idee“, sagte Éowyn schwer. „Ich dachte, ihre Himmelsfeuer würden – wenn man sie vergrößerte und verstärkte – hervorragend Feuerholz aus den Jägern machen. Wir haben uns verschworen, sie und ich, eine Art Waffe zu ersinnen, die sie allesamt ausradieren würde.“ Sie schüttelte das erstickende Schuldgefühl ab; lebendig geißeln konnte sie sich später. Wie Gimli gesagt hatte – für solche Dinge hatten sie jetzt keine Zeit.

„Meister Gimli“, sagte sie und sank auf dem Stuhl neben dem Bett, den Fallah verlassen hatte. „Legolas hatte eine kristallene Lichtkugel in der Hand, als ihr aus dem Pass heraus geritten seid. Sie war, es, dir euch und die Soldaten aus Gondor vor den Jägern beschirmt hat.“

„Ja.“ Gimli nickte. „Die von diesen üblen Dingern, die dem Licht zu nahe kamen, das die Kugel in ihrer Gegenwart ausstrahlte, fingen Feuer, als hätte man sie mit heißem Öl übergossen.“ Langsam, fast ehrfürchtig, zog er die Kugel aus der Ledertasche, die er um die Mitte trug. Sie sah aus wie ein einfacher gläserner Ball, eingesetzt in eine vollkommene Glasrundung. Sie war ungefähr so groß wie eine Männerfaust.

„Was ist das?“ fragte Éowyn. „Ist es irgend ein heiliges, elbisches Ding?“

„Das glaube ich, ja.“ erwiderte Gimli. „Die Königin hat es Legolas gegeben, als wir uns in Minas Tirith verabschiedet haben. Arwen hatte wegen unserer kleinen Mission zur Feststellung der Tatsachen große Befürchtungen. Sie ist die Tochter des Elrond von Bruchtal und auch die Enkelin der Herrin Galadriel von Lórien. Sie hat noch immer einen Hauch ihrer vorausschauenden Gabe, auch wenn sie nun sterblich ist. Sie hatte ein schreckliches Gefühl der Vorahnung, was unsere Sicherheit anging. Sie sagte, dies würde gewissen Arten unnatürlicher Bosheit abwehren.“

Éowyn berührte das makellose Kristallding und hob es mit einer Hand hoch. Während sie das tat, teilte es sich in zwei Hälften und öffnete sich an unsichtbaren Scharnieren wie eine Muschelschale. Die Innenseite war hohl, eine vollkommen wider gespiegelte Kugel. Sie schüttelte den Kopf und spürte wieder, wie ein bedrückender Schwall der Hoffnungslosigkeit sie überschwemmte.

„Sie ist wundervoll“, sagte sie und rieb sich die Schläfen. Ihr Kopf dröhnte. „Aber sie reicht nicht aus. Selbst in offenem Gelände hat sie weniger als hundert Männer geschützt. In diesem Tal sind mehr als zehntausend Frauen und Kinder. Ihr habt gesehen, wie schnell die Jäger sich bewegen, wie stark sie sind. Sie werden heute Nacht über uns herfallen und---“

„Zerbrecht sie.“

Die Musik seiner Stimme war schwach und von Schmerzen verzerrt. Éowyn starrte in den unmenschlichen Glanz von Legolas’ dunkelgrauen Augen. Er lag auf dem Bauch; sen Gesicht war ihr zugewandt, die Augen offen und wach. Sie beugte sich vor und hörte Gimlis glückliches, erleichtertes Glucksen an ihrer Schulter. Einen Moment später fing der Zwerg an, seinen Freund grimmig als unvorsichtigen Narren auszuschelten. Éowyn stellte fest, das sie lächelte, während Legolas die Tirade geduldig über sich ergehen ließ. Vier Jahre hatten nichts dazu getan, das süße Strahlen seines Lächelns zu dämpfen, und plötzlich verspürte sie Hoffnung, wo zuvor nur wachsende Verzweiflung gewesen war. Götter, es war so gut, diese beiden wiederzusehen, wie auch immer die Umstände aussahen!

„Ich bin froh, dass Ihr wach seid.“ sagte sie ihm. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

„Ich bin froh, Euch wiederzusehen.“ sagte er. „Ich habe mich während der letzten Jahre oft gefragt, ob es Euch gut geht, meine Herrin. Ich habe gebetet, dass Ihr euer Glück findet.“

„Ein gewisses Maß.“ erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln. „Ihr habt gesagt, wir sollen sie zerbrechen.“ fragte sie dann gespannt. „Wird das nicht ihre Macht zerstören?“

„Nein“, sagte er leise. „Sie hat Elwing von Doriath gehört; sie wurde von Eärendil gemacht, als eine Art Schatzkistchen für den Silmaril, der Lúthien Tinúviels Brautpreis war, vor langer, langer Zeit. Arwen, die Königin von Gondor, ist Elwings Enkelin. Sie hat gesagt, dass der Kristall etwas von dem Licht und der Macht des Silmaril in sich aufgenommen haben muss, den er so viele Jahre beherbergt hat. Jede Unze davon ist mit Kraft überzogen. Arwen sagte, er würde nötig werden, um das Leben vieler Unschuldiger zu bewahren. Zerbrecht ihn, Éowyn, in so viele kleine Stücke wie es geht. Ihr könnt die Scherben dazu verwenden, jedes Haus in dieser Stadt zu beschützen.“

Sie fragte sich, woher er wusste, was die genaue Natur ihrer Bedrohung war. Vielleicht verloren Elben ja nie völlig das Bewusstsein und blieben sich bis zu einem gewissen Grad ihrer Umgebung bewusst, selbst wenn sie schwer verwundet waren. Sie fragte nicht. Sie sah nur dabei zu, wie Gimli einen handgroßen Hammer aus seinem Gürtel zog, den Mund missbilligend verzogen, als jeder zwergische Instinkt in seinem Körper dagegen rebellierte, ein so schönes und kostbares Ding zu zerstören.

Er schlug zu und zerschmetterte die Kugel in tausend Stücke.

*****

Es hätte nicht viel gefehlt und man hätte Obari fesseln müssen, als Indassa Éowyns Entscheidung aufrechterhielt, sämtliche größten Villen der Stadt für die Talbauern und Schafhirten zu öffnen, die während dieses segensreich langen Nachmittages weiter nach Rhunballa hineinströmten. Den ganzen langen Tag hindurch schickte Éowyn wiederholt Dankgebete zu den Valar hinauf, dass es die Mittsommer-Woche war, die längsten Tage des Jahres.

Die Wache quartierte den Hauptteil der Leute in den großen Speisesälen der Reichen ein; beschränkter Raum, wo sie zu eng zusammen gepfercht waren, um auch nur einen eigenen Schlafplatz zu finden. Dies sorgte für allgemeines Genörgel unter Gästen und Gastgebern gleichermaßen, aber diese Hallen waren am sichersten. Es waren große, innen gelegene Gemächer, die das Licht der Scherben aufnehmen konnten, ohne um Ecken leuchten zu müssen.

Indassa öffnete die Türen der königlichen Villa dem Volk; sie trat beherrscht und ruhig aus ihren Zimmern, jeder Zoll die starke Monarchin, die ihr Volk jetzt sehen musste. Éowyn öffnete die Gemeinschaftsräume der fünf städtischen Wachhäuser für die Flüchtlinge. Und noch immer ging der Ansturm in die Tausende. Shaeri öffnete die Türen der Weinkeller - sehr zum Ärger ihrer Mutter – und Hunderte drängten sich in den Lagerhäusern und Traubenpressen. Die Bäckereien , die Färber, die Wäschereien und das Haus der Schmiede taten dasselbe. Als es drei Stunden vor Sonnenuntergang aussah, als ob jedes große Gebäude der Stadt voll war, da traten die einfachen Bürger vor und boten den Nachzüglern ihre Gastfreundschaft an.

Éowyn schickte in jedes stehende Gebäude, das eine lebende Seele beherbergte, eine Soldatin der Wache mit einer Scherbe von Elwings Kugel. Eine Stunde vor der Abenddämmerung traf Éowyn in der königlichen Villa ein, um Indassa zum Haus der königlichen Wache zu eskortieren. Früher am Tag wären Obari und Sharadi deswegen vermutlich in Krämpfe verfallen, aber während die Schatten länger wurden, hatte sich das Wutgeschrei der Ratsfrauen in echte Furcht verwandelt. Die Wachhäuser boten ein ebenso gutes Ziel wie die königliche Villa, aber wenigstens das der königlichen Wache war befestigt.

Die Nacht sank mit der warmen, friedlichen Trägheit des Sommers auf Rhunballa herab. Jede lebende Seele in der Stadt hielt den Atem an; ein jeder betete zu seinen eigenen Göttern. In der Mitte der Gemeinschaftshalle der königlichen Wache stand Suni, aufrecht und wachsam, eine Scherbe von Elwings Kugel in jeder erhobenen Hand.

Und nichts geschah.

Gegen Mitternacht strich Éowyn durch das überfüllte Wachhaus und staunte über die menschliche Fähigkeit, sich an jede vorstellbare Situation anzupassen. In der ersten Stunde nach Sonnenuntergang waren die Gemeinschaftsräume so still gewesen wie ein Grab. Die Furcht war schwer und fühlbar. Mütter hielten ihre Kinder eng an sich gedrückt, die Wache stand mit gezogenen Schwertern und flammenden Fackeln. Nach einigem Überlegen hatte Éowyn das Dutzend überlebender Haradrim aus den Kerkern entlassen und ihnen klipp und klar mitgeteilt, das ihr Kaiser tot war. Sie hatte ihnen die Wahl gegeben: entweder Rhunballa von der Zuflucht des Wachhauses aus zu verteidigen oder außerhalb ihr Glück zu suchen. Es war nicht sehr überraschend, dass sie eifrig bereit waren, ihre Säbel im Dienste von Indassa zu schwingen.

„Es ist immerhin nur angemessen“, hatte Moussah, der junge Häuptlingssohn, ihr gesagt. „Die Herrin Indassa ist die Erste Frau unseres Kaisers. In Abwesenheit unseres Herrn schulden wir ihr unsere Treue.“ Moussah konnte es noch nicht über sich bringen zu glauben, dass Haradoun tot war.

Für eine Stunde standen sie alle Schulter an Schulter – Rhunballani, Haradrim und Soldaten von Gondor – und hielten Wache in der betäubenden Stille.

„Nicht einmal die Babys weinen“, hatte Moussah in gedämpftem Tonfall zu Hurin von Gondor gesagt. Hurin hatte nur genickt, das Gesicht mit den númenor-grauen Augen bleich vor Furcht.

Aber die gnädige Sache an nervenzerfetzender Spannung ist die, dass sie nicht für lange anhält. Nach fast zwei Stunden, in denen nichts passierte, fingen die kleinen Kinder an zu nörgeln und zu zappeln, damit man ihnen erlaubte zu spielen. Stille Gespräche setzten hier und dort ein. Brock der Müller – früher aus der Seestadt – begann ein Würfelspiel mit Somal und ein paar verwundeten Soldaten aus Gondor. Obwohl weit von Festesstimmung entfernt, klang das allgemeine Stimmengewirr jetzt eher nach Dorfleuten, die in der Halle ihres Herrn einen schweren Sturm abwarteten anstelle einer Belagerung.

„Das hier ist besser als das andere“, sagte Hurin ihr leise. Er hatte sich genau wie Éowyn weder entspannt noch in seiner Wachsamkeit nachgelassen. „Lasst sie die Gefahr so gut vergessen wie es geht. Solange wir Acht geben, sind sie so sicher wie sie nur sein können.“

Éowyn nickte abwesend. Am großen Kamin des Gemeinschaftsraumes erzählte Shaeri einmal mehr die Geschichte, wie der Jäger sie in die Luft hinaufgetragen hatte, nur um von Fallahs Rakete zu Asche verbrannt zu werden. Die Tochter des Weinhändlers hatte ihr geschientes Bein stützend in den Schoß eines verbundenen Gondorsoldaten gelegt. Ihre jüngere Schwester Insis saß neben ihr und machte einem jungen Krieger aus Harad schöne Augen. Shaeri war mit fünfzehn mit einem übellaunigen, herrschsüchtigen Mann verheiratet worden, der dreimal so alt war wie sie. Als sie sich zwei Jahre später als Witwe wiederfand, hatte sie wenig Tränen vergossen. In den letzten vier Jahren hatte sie gelernt, ihre neu gefundene Freiheit zu genießen. Und sie genoss gut aussehende, junge Männer.

„Saah!“ fluchte Suni, als sie die beiden Scherben an Ikako weiterreichte und ihre Wache auf die Waffenschmiedin übertrug. „Die da hat den Anteil Glück, der ihr für die nächsten zehn Jahre zustand, aufgebraucht.“

„Ihre Katze krepiert ganz bestimmt“, stimmte Ikako auf ihre trockene Art zu. „Sie hat ihr sämtliche Leben gestohlen.“

Auf einem der größeren Polster neben dem Feuer lag Fallah in tiefem Schlaf und schnarchte leise. Sie war mit einem Schreckensszenario zu Éowyn gekommen, in dem sie sich die gesamte Stadt von Rhunballa bis auf den Grund nieder gebrannt vorstellte, wenn sie so närrisch sein würden, Raketen oder irgendwelche von Fallahs Brandwaffen hinter verschlossenen Türen einzusetzen. Sie hatte die gesamte zweite Hälfte des Tages damit verbracht, neue Feuerraketen zu bauen und sie für den späteren Gebrauch zu lagern.

„Eine der wertvollsten Fähigkeiten des Kriegshandwerkes musst du erst noch lernen, Mädel“, sagte Gimli zu ihr, als sie auf ihn zukam. Er stand am hinteren Ende der Halle, im Torbogen zum Eingang, der in die Baracken führte. Der Zwerg schien völlig mit sich im Reinen zu sein. Er lehnte sich so entspannt auf seinen Axtgriff, als wäre es ein Spazierstock.

„Und das wäre?“ fragte ihn Éowyn. Ihre Augen glitten an den Balken der Hallendecke entlang; sie stellte sich Krallenhände vor, die sie wegrissen... dunkle Gestalten, die die wohlgeliebten Gesichter in diesem Raum mit sich fort trugen.

„Dich zu entspannen, bis die richtige Stunde da ist.“ sagte er.

Sie schaute in sein lächelndes, bärtiges Gesicht hinunter und fühlte einen Schwall warmer Freude über die simple Tatsache seiner Gegenwart. Plötzlich verspürte sie den Drang, ihn auf die Wange zu küssen.

„Éowyn!“ Indassa erschien im Torbogen der Tür zu den Baracken, flankiert von zwei Soldatinnen der Wache. Ihr tief olivenfarben getönte Haut war rosig überhaucht. Die Gemeinschaftsräume summten vor Menschen, aber die Baracken waren so übervölkert, dass man über schlafende Leiber steigen musste, um von hier nach da zu gelangen. Hatte Indassa die Verwundeten dort besucht?

„Nun, kleine Majestät?“ Gimli beäugte Indassas errötendes Gesicht. „War er alles, was du dir vorgestellt hast?“

„Ich habe mit dem Elbenprinzen gesprochen, Éowyn!“ sagte Indassa aufgeregt. „Meister Gimli hat gesagt, ich könnte ihn ein paar Momente besuchen. Meister Gimli hat mir alles über sein Volk in den Eisenhügeln erzählt, aber den Elb wollte ich auch sehen.“ Sie seufzte. „Oh er ist wunderbar schön! Morsul ist ein ruinierter Schatten, verglichen mit einem wahren Elben! Freundlich war er auch, und er hat mir gesagt, dass ich sehr stark und mutig gewesen bin, dass ich mein Volk in so zartem Alter geführt habe.“

Gimli ließ sich von Sunis beiden kleinen Söhnen und mehreren anderen kleinen Kindern fortzerren; sie verlangten allesamt nach noch mehr Geschichten über heldenhafte Halblinge. Éowyn lauschte dem fortgesetzten Geplapper der Königin, die die Tugenden von Legolas pries, während sie Indassa zu einer kleinen Schlafpritsche geleitete, die sie in der westlichen Ecke der Halle hatte aufstellen lassen. Während ihrer zwanzigminütigen Unterhaltung mit dem Elben hatte Indassa sich verguckt – sie hatte eine regelrechte, ausgewachsene, kichernde Mädchenschwärmerei entwickelt. Und trotz allen widrigen Umständen sang Éowyns Herz. Indassas Reaktion auf Legolas war nicht die einer Frau von neunzehn. Es war der flatternde Seufzer eines vierzehnjährigen Mädchens... der vierzehnjährigen Jungfrau, die Indassa vor Haradouns Ankunft in Rhunballa gewesen war. Diese plötzliche Betörung war der erste Hauch von Interesse, den Indassa innerhalb von vier Jahren an einem Mann gezeigt hatte, und sie sagte mehr über wahre Heilung als tausend beredsame Worte. Vielleicht konnte Indassa jetzt, da Haradoun tot war, wieder leben.

Éowyn breitete eine leichte Decke über Indassa und steckte sie um das Mädchen in dem improvisierten Bett fest, während die Königin schwach protestierte. „Ich sollte für mein Volk wach bleiben!“ sagte sie betrübt.

„Euer Volk fällt rings um Euch her in Schlaf, meine Königin“, sagte Éowyn. „Legt Euch hier ein wenig hin und ruht Eure Augen aus. Wir werden Wache halten.“

Indassa nickte und gähnte ausgiebig. „Papa hat mir erzählt, dass die Menschen von Gondor und aus dem Norden so weißhäutig wären, weil sie sich mit nicht-menschlichen Geschöpfen gekreuzt haben, so wie die Elben. Habt Ihr irgendwelches Elbenblut, Éowyn?“

„Vielleicht einen Tropfen oder zwei“, sagte Éowyn. „Meine Großmutter war eine Edelfrau aus Gondor.“

„Hmmm...“ murmelte Indassa nachdenklich, „Ich hab mich immer gewundert, wie eine Frau – sogar eine Westron – eine solche Kreatur in ihr Bett nehmen kann. Aber ich glaube – ich glaube, ich würde ihn gerne küssen.“

Éowyn lachte leise und versuchte sich den Ausdruck auf Legolas Gesicht vorzustellen, wenn Indassa mit solch einem Anliegen zu ihm kam.

„Er ist schön und freundlich“, seufzte die Königin schläfrig. „Und er macht mir keine Angst.“

Éowyn zog die Decke bis unter das Kinn des einschlummernden Mädchens. „Schlaf gut, kleine Schwester“ flüsterte sie. „Und träum von Elbenprinzen und ihren süßen Küssen.“

Éowyn ließ die Königin schlafend zurück, mit zwei Wachen, die sich um sie kümmerten. Ein Teil des Geräuschpegels in der Halle ebbte ab, während Mütter ihre Kinder für die Nacht hinlegten. Die Wache und die zusammen gewürfelte Mischung fremder Soldaten blieben geistesgegenwärtig und auf der Hut. Kein Angriff kam, während die Stunden verstrichen, während Mitternacht vorüberging und die Dämmerung sich näherte.

„Vielleicht sind sie nicht zornig auf uns“, mutmaßte die gedämpfte Stimme einer Frau vorsichtig.

Oder vielleicht, dachte Éowyn, können sie die Macht der Scherben von Elwings Kugel spüren und warten einfach ihre Zeit ab. Vielleicht werden sie Wochen oder sogar Monate auf ihre Rache warten. Bis die meisten Leute einen gemeinsamen Seufzer der Erleichterung von sich gegeben haben. Bis der königliche Rat anfängt, Unzufriedenheit in den Leuten aufzurühren, geboren aus dem Zwang, in den Häusern und Hallen von Fremden zu zehnt in einem Bett schlafen zu müssen. Bis niemand mehr glaubt, dass es überhaupt eine Gefahr gibt.---

„Wag ja nicht, sie das mitten ins Gesicht zu fragen!“ sagte Shaeri ihre jüngere Schwester und warf einen schuldbewussten Blick zu Éowyn hinüber.

„Mich was zu fragen?“ sagte Éowyn misstrauisch und blieb vor dem Kamin stehen, wo beide jungen Frauen eine kleine Schar von Bewunderern um sich versammelt hatten.

Shaeri warf ihren schwarzgelockten Kopf zurück und starrte ihre Schwester gereizt an. „Amrod hier“, Shaeri deutete auf den gondoreanischen Soldaten, den sie als Fußschemel benutzte, „er sagt, in deinen eigenen Landen wärst du eine Königin, und dass du den Fürsten der Nazgûl im Zweikampf erschlagen hast, bei der Schlacht auf den Pelennor-Feldern.“

Éowyn seufzte. „Ich bin keine Königin. Und ich habe den Hexenkönig tatsächlich erschlagen, aber ich war nicht allein. Ein anderer Krieger hat an meiner Seite gekämpft und ich wäre gefallen, wenn er dem Nazgûl nicht unmittelbar, ehe ich zuschlug, die Kniesehne durchtrennt hätte.“

„Ja“. sagte Amrod. „Das war einer der Halblingfürsten, von denen ich gesprochen habe.“

„Und Udin sagt“, Insis zog ihrer Schwester eine aufsässige Grimasse, die Hand auf dem Arm des bartlosen Haradrimjungen neben sich, „dass du die Geliebte von König Elessar gewesen bist und dass du aus seinen Landen geflohen wärst, als er seine Elbenkönigin geheiratet hat. Amrod meint, in Gondor sagen sie das auch.“

„Was?!“ kreischte Éowyn. Köpfe drehten sich beim Klang ihrer erhobenen Stimme, und Insis wie auch Udin fuhren sichtlich zusammen. Sie ging steifbeinig davon; sie hatte das Gefühl, dass jedes Auge in der Halle auf sie gerichtet war, und sie traute sich selbst nicht genug, um zu antworten. Ihr Gesicht war vermutlich flammend rot, sie wusste es. Sie kam an Gimli vorbei, der sie mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete. Sie trat einen feigen Rückzug aus dem Gemeinschaftsraum an, zurück durch die Baracken, und sie sagte sich selbst, dass sie nicht floh. Sie nickte Sokorra vom Wachhaus des Gespannten Bogens flüchtig zu, die mitten im Barackenraum stand, eine Scherbe hoch erhoben in der Hand. Es hatte sich als nötig erwiesen, wenigstens eine Scherbe in jedem großen Raum zu platzieren, wo Menschen versammelt waren. Gimli hatte eine einzelne Scherbe auf dem Schreibtisch von Éowyns Schlafkammer liegen lassen, um Legolas zu behüten, während er ruhte.

Sie schloss die Tür zu ihren Räumen so sanft ihre Laune es zuließ. Draußen, hinter den Latten ihres verrammelten Schlafkammerfensters, hatte das schwere Leichentuch völliger Finsternis sich aufgehellt. Es war vielleicht eine halbe Stunde, ehe die Dämmerung wirklich einsetzte. Éowyn schaute kurz zu Legolas’ schlafender Gestalt hinüber. Seine Augen waren noch immer geschlossen – ein Zeichen von tiefem, heilenden Schlaf, hatte Gimli gesagt. Sie saß in dem Armsessel neben ihrem Bett und schäumte vor sich hin, ihr Magen ein einziger Knoten. Dann suchte sie in den oberen Schubladen ihres kleinen Schreibtisches nach ihrem Tagebuch und ging auf die Jagd nach einer Feder, die noch nicht zerbrochen war. Einer ihrer frühesten Lehrer hatte ihr mit dem Rohrstock auf die Fingerknöchel geschlagen, um ihr die Angewohnheit auszutreiben, so fest aufzudrücken, dass sie fast in jeder Schreibstunde eine Feder abknickte. Sie lächelte. Éomer war zu jener Zeit dreizehn und so hochgewachsen wie ein Mann, und als er es herausfand, hatte er den Lehrer verprügelt. Sie kramte noch einen weiteren Moment oder zwei in der Schublade herum, ehe sie zu dem Schluss kam, dass sie viel zu aufgewühlt war, um einen klaren Gedanken niederzuschreiben.

Als sie zum Bett zurückschaute, waren Legolas’ Augen offen; er betrachtete sie mit milder Neugier.

„Was ist nicht in Ordnung?“ fragte er leise.

„Abgesehen vom Offensichtlichen?“ Sie gab ein zittriges Lachen von sich.

Er lächelte schwach. „Davon abgesehen.“

Sie stellte fest, dass sie beide Armlehnen ihres Sessels so fest umklammerte, dass ihre Knöchel weiß waren. Sie zog vor Anstrengung eine Grimasse, als sie versuchte sich zu entspannen. Bis die richtige Stunde da ist, hatte Gimli gesagt. „Es ist fast Dämmerung“, sagte sie. „Die Jäger sind nicht gekommen. Ich glaube – ich glaube, sie werden auch morgen nicht kommen, oder in der nächsten Nacht. Vielleicht noch wochenlang nicht.“

„Und doch kommen sie irgendwann.“ murmelte er. „Ich denke, Ihr habt Recht. Große Geduld ist bei den Unsterblichen eine feste Größe. Sie werden warten, bis die Leute in ihr eigenes Zuhause zurückgekehrt sind. Selbst wenn wir jeden Haushalt in diesem Tal mit einer Scherbe bewachen, werden die Leute in diesem Land irgendwann leichtsinnig werden.“

„Ich weiß, was jetzt getan werden muss“, sagte sie. „Fallah und ich haben dies seit Monaten in aller Stille vorbereitet. Sie schätzt, dass sie zehn Tage brauchen wird – mit der Hilfe von so vielen Leuten wie wir sie finden können, und mit den richtigen Fähigkeiten – um alles herzustellen, worum ich sie gebeten habe. Aber die Rhunballani schneiden sich im Schlaf ins eigene Fleisch, und sie leben Wange an Wange mit diesen Bestien, Legolas. In einer Woche wegen sie gegen den Befehl rebellieren, hier einquartiert zu sein. Ich weiß nicht, ob ich dieses Kriegsrecht lange genug aufrecht erhalten kann, um die Waffen zu bauen, die wir brauchen. Ich weiß nicht ob ich meine Freundinnen, - meine Schwestern - zu den Klippen führen kann, wenn ich weiß, dass viele von ihnen einen direkten Angriff auf die Nester der Jäger nicht überleben werden. Ich weiß nicht---“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich weiß nicht, ob ich diese Leute retten kann, die ich so sehr liebe wie meine eigene Familie!“

Einen Moment lang antwortete er nicht. „Ihr und Aragorn, Ihr könntet beinahe Bruder und Schwester sein.“ Sie hob den Kopf, ihr Gesicht ein Bild müder Verwirrung. Sie hatte keine geistige Kraft mehr übrig für elbische Rätsel. „Ihr müsst das Gewicht der Welt nicht allein auf Eurem Rücken tragen.“ sagte er . „Andere können Euch helfen, es zu schultern.“

„Ja“, sagte sie leise und zustimmend. Dann runzelte sie die Stirn. „Ich habe eine unanständige und undamenhafte Frage, die ich Euch stellen muss.“

„Fragt.“ sagte er.

„Flüstert man in ganz Gondor, dass ich während Aragorns Zeit in Rohan seine Geliebte war?“

Legolas verlagerte sich ein wenig auf dem Bauch und zuckte zusammen; offenbar bereute er diese kleine Bewegung. „Ich werde es bereits müde, immer auf dem Gesicht zu liegen. Ich wünschte, ich könnte sitzen. Frau Fallah sagt mir, dass ich das Sitzen noch für einige Zeit ziemlich unbequem finden werde.“ Er schwieg und schien zu seufzen. „Männer beschuldigen Frauen oft, Klatschbasen und Gerüchteköchinnen zu sein. Manchmal glaube ich, dass sie das tun, um die Aufmerksamkeit von ihrem eigenen Versagen auf diesem Gebiet abzulenken.“

„Also ist es wahr.“ sagte sie mühsam.

„Es mag als romantischer Eindruck der Krieger von Rohan angefangen haben, die die Freundschaft zwischen Euch und Aragorn beobachtet und angenommen haben, dass ihre geliebte Herrin das Herz von Isildurs Erben erobert hatte. Wie konnten sie vermuten, dass er weniger empfinden sollte, so, wie sie Euch lieben? Als Ihr Angmar erschlagen habt, meine Herrin, da wurde Eure Geschichte zu dem Stoff, aus dem Legenden gesponnen werden. Durch solchen Ruhm wurde jeder Teil Eurer Erzählung bei jeder neuen Wiederholung immer größer. Und als Ihr spurlos verschwunden seid und Estel eine andere geheiratet hat---“

„Es ist eine schmutzige Lüge!“ sagte sie grob. „Aragorn hätte seine Liebste niemals betrogen. Und ich hätte nicht...“ Sie schloss den Mund.

„Es ist eine Lüge“, stimmte er ohne Hitze zu. „Aber ist es nicht wie eine der Geschichten, die Ihr in den Annalen von Beleriand gelesen habt? Tapfere Taten, tragische Liebe, und der Held – oder die Heldin – die im Nebel verschwinden, nachdem sie den Tag gerettet haben?“

Éowyn funkelte ihn bloß an.

„Obwohl ich persönlich glaube“, fuhr er gedankenvoll fort, „dass die Märchenspinner den interessantesten Teil der Geschichte ausgelassen haben. Ich würde die Reisen der heldenhaften Jungfer nach dem Großen Krieg aufregender finden. ,Die Abenteuer der Schildmaid von Rohan in Mittelerde’ . Wenn Bilbo Beutlin noch immer bei uns wäre, dann würde er das für einen wundervollen Buchtitel halten!“

Éowyn schnaubte herzhaft. „Ich bin nordwärts gereist“, sagte sie ihm, „zu den sonnenlosen Ländern von Forodwaith, den ganzen Weg bis zum Eis, das niemals schmilzt.“

„Ah!“ sagte er, seine Augen leuchtend vor Interesse. „Elronds Söhne sind dort gewesen, obwohl ich von niemandem sonst weiß, der es war. Sie sagten mir, dass die Sonne diese Länder sechs Monate im Jahr nicht findet.“

Éowyn lächelte, während sie daran zurückdachte. „Die Männer dort sind hochgewachsen und gelb- und rothaarig wie die Rohirrim, obwohl ihre Züge anders sind... schwerer. Sie sind beinahe ein Volk von Wilden. Am Mittsommerabend geht die Sonne vor Mitternacht nicht unter, und sie feiern viele Feste. Aber im tiefsten Winter sind die Nächte achtzehn Stunden lang, und deshalb hat sich so manches Untier in ihren Ländern eingenistet. Die Frauen kämpfen an der Seite ihrer Männer und verlassen sich nur dann auf ihren Schutz, wenn sie ein Kind tragen.“

Sie verfiel in Schweigen und dachte an die Gesichter der Männer und Frauen, die sie im Dorf von Skovielsk gekannt hatte. Sie existierten jeden Winter am Rande der Vernichtung; sie fragte sich, ob sie überhaupt noch lebten.

„Ich habe ein Jahr unter ihnen gewohnt, ehe der Hohe Häuptling mir sein Bett anbot. Als ich ablehnte, sagte er mir, er würde seine Frau verstoßen und mich heiraten. Er war schockiert darüber, dass ich dies nicht als große Ehre ansah. Ich ging fort, ehe meine Ablehnung des Herrn meinen Freunden dort Ärger verursachen konnte. Ich umging Düsterwald auf der Oststraße und durchwanderte die Braunen Lande. Ich schor mir die Haare und wanderte als Junge, und für kurze Zeit ritt ich mit den Pferde-Clans der östlichen Steppe. Aber sie glauben, dass Pferde nach dem Bild ihrer Götter geschaffen sind. Es ist unter ihnen Gotteslästerung, wenn eine Frau oder ein Sklave ein Pferd berührt. Ich bin weiter nach Süden zum Meer von Rhun gereist und habe einen Vertrag mit einer neu gegründeten Karawane von Händlern der Seestadt als ihr angeheuerter Schwertkämpfer abgeschlossen, um sie vor Ostlingsbanditen zu beschützen, während sie nach Rhunballa reisten.

Das war vor zwei Jahren. Ich glaube, hier in Rhunballa sind Menschen aus allen Völkern dieser Erde versammelt. Nachdem ich sie kenne, wie ich es jetzt tue, finde ich es schrecklich und traurig, dass wir sie im Westen alle in einen Topf werfen. Wir nennen sie Ostlinge und Südlinge, als wären sie allesamt ein Volk. Und man bringt uns bei, dass sie alle getreue Diener Saurons waren. Die Wahrheit ist, dass Mordor Neunzehntel von Mittelerde versklavt hat, und wir wussten es nicht. Somala, das Land der Väter von Somal und Fallah, liegt tausend Meilen südlich von Gondor. Sie wurden vor fünf Generationen erobert und bewahrten ihre Bildung, ihre Mathematik und Wissenschaft, indem sie sie mündlich von den Eltern an die Kinder weitergaben. Ikakos Großvater kam aus einem Land, das Nihon heißt; es liegt so weit östlich, dass man es die ,Wiege der Sonne’ nennt. Er hat an ihren Vater – und damit an sie – die Fähigkeit weitergegeben, den Stahl eines Schwertes auf eine Weise zu falten, dass es so stark und leicht wird wie reines Mithril. Der Westen, Legolas, war das letzte Scheibchen an Land und Völkern, das Sauron nicht erobern konnte. Manche Menschen – die Haradrim und die Stämme von Khand - dienten ihm willig und beteten ihn als ihren Gott an. Aber die meisten taten das nicht. Jetzt schaue ich auf die Schlacht auf den Pelennorfeldern zurück und frage mich, wie viele von den Männern, die wir an diesem Tag erschlagen haben, wohl zwangsweise eingezogen wurden so wie die Männer von Rhunballa. Die Welt der Menschen – Mittelerde selbst – ist so viel weiter und wundervoll andersartiger als ich mir als Mädchen vorgestellt habe. Und die meisten Völker sind gute Menschen.“

„Ich wünschte, ich könnte all das sehen.“ sagte er. Sie blickte ihn an und fragte sich, wieso er so betrübt klang.

„Ihr habt doch Zeit, das zu tun“, sagte sie. Einer ihrer Mundwinkel hob sich. „Es ist ja nicht so, dass Ihr irgend älter werdet.“

„Die Zeit kann knapp werden für Bedürfnisse und Wünsche“, erwiderte er, sein Ton wie ein leises Klagelied. „Selbst für Unsterbliche.“ Obwohl er keinen Muskel bewegte, schien er sich zu schütteln. Er schaute sie suchend an. Sie hatte zu kämpfen, sich unter diesem durchbohrenden, allzu scharfen Blick nicht zu winden. Sie fragte sich, ob er die volle Macht seines Elbenblickes zu manchen Zeiten eindämmte und sie nur dann bei denen um sich herum einsetzte, wenn er so tief neugierig war wie er es jetzt zu sein schien. „Zeit ist so ein eigenartiges Ding, wenn man es mit Sterblichen zu tun hat. Vor achtzig Jahren traf ich bei einem Besuch in Bruchtal ein sterbliches Kind namens Estel. Als ich in das Tal hinunter ritt, beschoss er mich mit einer Spielzeugschlinge und sagte mir, er sei der Wächter dieser Ländereien. Dass ich mich und meinen Auftrag erklären müsse, oder er würde mich bewusstlos schlagen.“

„Was für ein grässlicher Bengel.“ sagte sie.

Er lachte laut. „Ja, das war er. Ich verbrachte den Sommer damit, ihm den Gebrauch eines Bogens beizubringen anstatt der Schlinge. Er war allerdings keine Naturbegabung für die Bogenschießkunst. Im Herbst jenes Jahres verließ ich Bruchtal, und nach einer Weile, die mir nicht länger vorkam als eine Jahrezeit oder vielleicht drei, begegnete ich Estel wieder. Ich erfuhr, dass sein wahrer Name Aragorn war, und er reiste mit seinen Anverwandten, den Dúnedain. Zwanzig Jahre waren wie in einem Wimpernschlag vergangen, und es schien mir, als sei der kleine Estel vom Kind zum Mann gereift, während ich einmal kurz wegschaute. Ihr wart eine Frau an Jahren, als ich Euch in Rohan kannte, aber auf vielerlei Weise seid Ihr gewachsen und habt Euch so stark verändert wie Aragorn in diesen zwei kurzen Jahrzehnten. Es hört nie auf mich zu verblüffen, wie rasch Eure Rasse sich ändert.“

Ihr fiel keine Antwort darauf ein, schlichtes, sterbliches Mädchen, das sie war. Also fragte sie statt dessen: „Geht es meinem Bruder gut?“

„Es geht ihm gut.“ sagte Legolas. „Letztes Jahr hat er die Tochter des Fürsten von Dol Amroth geheiratet. Ihr werdet bald eine Tante sein.“

Sie lächelte vorsichtig und stellte sich das Gesicht ihres Bruders vor.

„Er trauert um Euch wie um jemanden, der für immer verloren ist.“ sagte Legolas leise. „So wie Euer gesamtes Volk.“

Sie schloss ihre stechenden Augen und nickte.

„Eines Tages“, sagte er, „wenn Ihr dazu bereit seid, dann solltet Ihr heimwärts fahren und die Wunden heilen. Wenn Gimli und ich abreisen, werden wir Briefe an Éomer und andere mitnehmen, falls Ihr das wünscht.“ Er hielt inne, als würde er erwägen, ob er sprechen sollte oder nicht. „Auch dem Herrn Faramir geht es gut. Allerdings ist er, anders als Euer Bruder, unverheiratet geblieben.“ Und wieder spürte sie ihr Gesicht unter diesem allsehenden, elbischen Blick brennen. „Er und ich, wir haben vor nicht allzu langer Zeit von Euch gesprochen“, sagte Legolas. „Er sagte, dass er manchmal von Euch träumt. In seinen Visionen seid Ihr glücklich und frei.“

Sie lächelte traurig. „Und Aragorn?“

„Er ist ein junger Vater.“ Legolas grinste. „Der Junge kommt im Aussehen nach seinem Erzeuger, das arme kleine Ding.“

„Das ist gut“, seufzte sie. Sie wünschte Aragorn alles Glück und alle Freude der Welt, nach einem Augenblick des Nachdenkens betrachtete sie Legolas kritisch. „Wie bald werdet Ihr von Euren Verletzungen geheilt sein? Könnt Ihr das sagen? Selbst Gimli meint, dass er es nicht weiß. Er sagt, er hat Euch im Kampf kaum jemals mehr als oberflächlich verwundet gesehen.“

„Eine Woche“, sagte er. „Vielleicht mehr. Ich schlafe den tiefen Schlaf der Heilung. Er beschleunigt meine Erholung.“

„Könnt Ihr---“ Sie beugte sich fasziniert vor. „Könnt Ihr Euch selbst zu diesem heilenden Schlaf bringen?“ Sie begriff, dass sie fast nichts über die Elben wusste, abgesehen von den Geschichten, die sie über das Erste und Zweite Zeitalter gelesen hatte. Und diese Geschichten lasen sich in vielerlei Weise wie Mythen.

Er lächelte zur Antwort. „In meinem jetzigen Zustand bin ich nutzlos für euch.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nie im Leben.“

„Schlaft.“ sagte er. Seine eigenen Augen fielen bereits zu. „Ich werde dasselbe tun. Die Dämmerung ist da.“

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und zwang sich, die starre Spannung abzulegen, die jeden Zoll ihres Körpers nach mehr als sechsunddreißig Stunden des Wachseins schmerzen ließ. Sie rutschte rastlos hin und her und versuchte, eine bequeme Lage zu finden. Das Gesicht von Morsul flatterte kurz an ihrem inneren Auge vorbei; seine kalte Schönheit schmolz in Grímas fahles Gesicht hinüber. „Schlechte Träume“, flüsterte sie zitternd; sie kämpfte gegen den Schlaf an, der an ihrem müden Geist zerrte.

„Wenn sie kommen, werde ich sie fort singen“, sagte er. Er schob das Kissen unter seinem Kopf zurecht und murmelte schläfrig: „Dieses Kissen riecht nach Blumen und Sonnenschein. Die Blüte kenne ich nicht.“

„Sinisi“, seufzte sie. „Es wird unter alle Seifen gemischt.“

„Sinisi“, wiederholte er. „Das ist der Blumenduft.“ Sein Atem verlangsamte sich. Seine Augen waren geschlossen. „Aber ich glaube, der Sonnenschein, das seid Ihr.“

Etwas flatterte unerklärlich in ihrem Magen und schickte Wärme aufwärts in ihre Brust. Sie seufzte einmal mehr und folgte ihm in gute Träume hinein.

*****

Eine Woche verging. Die Zeit verlangsamte sich und schlich dahin. Am Nachmittag des siebten Tages kam Éowyn in ihr Quartier und stellte fest, dass Legolas aufgestanden war und gebadet hatte. Er stand ein wenig unsicher und halb angezogen vor ihrem Spiegel; er trug nur ein Paar weit geschnittener Sabadi-Hosen. Fallah entfernte sachte die letzten Verbandsstreifen von seinem Rücken. Gimli saß auf der schwarzen Eichentruhe am Fuß ihres Bettes, ängstlich wie eine Glucke und bereit, seinen Freund aufzufangen, wenn er fallen sollte.

„Götter des Lichts, Ihr seid ein erstaunliches Volk!“ sagte Fallah. Sie warf einen Blick nach hinten auf Éowyn. „ich glaube, er trägt nicht einmal eine Narbe davon!“

Legolas streckte beide Arme zur Seite und brachte sie dann langsam vor der Brust zusammen. Sein Atem blieb ihm in der Kehle stecken, als sich die noch immer empfindliche Haut auf seinem Rücken bei dieser Bewegung dehnte. Das Fleisch war an einigen Stellen noch ein wenig gerötet, aber die tiefen Blasen waren verschwunden... geheilt, als hätte es sie nie gegeben.

„Die Salbe, die ich für Euch habe, wird die letzten Unbequemlichkeiten beseitigen.“ sagte Fallah zu ihm.

Éowyn trat neben ihn, als er die weiche weiße Baumwolltunika anzog, die Fallah ihm reichte. Im Spiegel lächelte er sie an. „Ich werde heute Nacht in die äußeren Baracken umziehen und Euch eure Räume zurückgeben.“

„Sie wird die Laken abkochen müssen, um den Geruch nach geröstetem Elb herauszukriegen.“ grunzte Gimli.

Legolas berührte sein Haar; sein Lächeln verblasste ein wenig. Fallah hatte es für ihn auf eine Länge geschnitten, aber jetzt fiel es ihm nur bis knapp über das Kinn. „Ich nehme an, da kann man nichts machen.“ sagte er betrübt.

„In einem Jahr wird es nachwachsen“, sagte Fallah, als sie seinen traurigen Gesichtsausdruck sah.

„Nein, Frau Fallah.“ Legolas seufzte. „Ihr werdet eine Großmutter sein, ehe es seine frühere Länge erreicht hat.“

„Das ist interessant!“ Fallahs Mandelaugen glitzerten plötzlich vor Neugier. „Sagt mir, wie viele Jahre braucht es bei einem aus Eurem Volk, um vom Baby zum Mann heranzuwachsen?“ Sie fing an, in ihrer Arzttasche herumzuwühlen und fand ihr Notizbuch. „Ihr wolltet den gekochten Hasen nicht essen, den ich Euch gab, weil er ein Lebewesen war. Ist das unter Eurem Volk so Sitte, oder findet Ihr Fleisch körperlich abstoßend? Und während ich Euch behandelt habe, habe ich bemerkt, dass ihr weder auf den Armen noch auf den Beinen Haare habt, oder...“

„Fallah!“ rief Éowyn anklagend. „Er ist doch keine neue Schmetterlingsart!“

„Oh!“ Fallah klappte ihr Buch mit einem Knall zu. Sie schaute niedergeschmettert drein. „Auf meine Weise bin ich genauso schlimm wie Shaeri! Es tut mir leid!“ Aber Legolas lachte fröhlich.

„Shaeri?“ fragte Éowyn und runzelte misstrauisch die Stirn.

„Daiyo!“ sagte Fallah und kniff die Augen zusammen. „Ich kam vor einer Stunde aus unserem kleinen Feuerwerksladen, um nach den Verwundeten hier zu sehen. Ich fand Shaeri, ihre Schwester und zwei andere Schlampen von Tiefen Brunnen um das Bett versammelt. Sie fragten ihn, ob er Hilfe beim Baden möchte!“

„Was denn, tatsächlich?“ fragte Éowyn in gefährlichem Tonfall.

Legolas fuhr bloß fort zu glucksen... ein merkwürdiges Geräusch für einen Mann. „Die Damen von Gondor sind subtiler“, sagte er. „Normalerweise fangen sie ein Gespräch mit der Frage an, ob meine Fähigkeiten als Bogenschütze so großartig sind wie die Geschichten sagen.“

Gimli lachte laut.

„Sie haben es nicht böse gemeint“, sagte der Elb, der Éowyns unheilvollen Gesichtsausdruck bemerkte. „Sie waren freundlich, als ich ihnen eine Abwandlung der kleinen Rede hielt, die ich benutze, wenn ich in Minas Tirith bin. Ich sagte ihnen, dass Elben keine ,Bäder’ von Frauen akzeptieren, mit denen sie nicht in der Ehe verbunden sind.“

„Pah!“ sagte Fallah. „Ihr wart zu nett zu ihnen!“ Aber selbst sie kämpfte jetzt mit dem Lachen. „Das wird Euch nur eine Flut von Heiratsanträgen bescheren!“

Éowyn war sehr froh, dass die drei die Sache mit Humor nahmen, denn sie tat es nicht. Sie machte sich im Geist eine Notiz, Shaeri heute Nacht einzuteilen, die Villa ihrer eigenen Mutter zu bewachen. Dazu verurteilt zu sein, eine ganze Nacht in der nörgelnden, übermächtigen Gesellschaft ihrer Mutter zu verbringen, würde eine angemessene Strafe dafür sein, sich in Legolas Schlafkammer zu schleichen und --- und ihn zu begaffen, während er verletzt und ahnungslos dalag!

Zwei weitere Tage vergingen in einem endlosen Wirbel von Arbeit und Vorbereitungen. Éowyn hatte Fallah ihre Helfer in der kleinen Waffenschmiede, die sie am Nordende der Stadt in Obaris größter Weinpresse eingerichtet hatten, handverlesen lassen. Die meisten, die dort arbeiteten, waren entweder selbst Apotheker oder Heiler, mit einiger Erfahrung darin, gefährliche Substanzen zusammenzustellen und zu mischen. Selbst so hatte sich Éowyn entschlossen, die Weinpresse zu benutzen, weil sich darin viele Metallkessel befanden, die die Wucht etwaiger Missgeschicke auffangen würden, und noch wichtiger, es gab keinerlei bewohnte Nachbarschaft.

Am Morgen des zehnten Tages, nach einem förmlichen Gespräch mit Indassa, Hurin, Legolas und Gimli in der Nacht zuvor, gab Éowyn dem Rat öffentlich ihre Absicht bekannt, in zwei Tagen einen Angriff auf die Jäger anzuführen.

Das Treffen verlief nicht gut.

Sämtliche Voraussagen Éowyns über den langsamen Erdrutsch der politischen Beständigkeit stellten sich als wahr heraus. Die Sitzung verkam zu einem gegenseitigen Anbrüllen, sogar noch bevor Éowyn auf der Bildfläche erschien. Obari wollte, dass Indassa in die königliche Villa zurückzog, oder besser noch in ihre eigene Villa. Die ältere Frau hielt eine langatmige Ansprache, machte viel her von der Tatsache, dass die Königin noch von zartem Alter war und nicht dem besudelnden Einfluss gewöhnlicher Reisbauern und fremdländischer Soldaten ausgesetzt werden dürfe. Sharadi, die keine Freundin von Éowyn war, aber eine dickköpfige Pragmatikerin, hatte ihr mittendrin das Wort abgeschnitten. Sie hatte klipp und klar festgestellt, dass eine geringfügig besudelte Königin einer toten Königin unendlich weit vorzuziehen sei.

Éowyn machte ihre Ankündigung nach dieser spuckenden Stutenbeißerei in Totenstille hinein; sie skizzierte sorgfältig die Umrisse eines Angriffsplanes. Sie betrachtete die bleichen Gesichter dieser Frauen, in deren Gesellschaft sie nie freiwillig Zeit verbracht haben würde, und sie spürte einen schwachen Hauch der Sympathie angesichts der Furcht, die sie dort sah. Erstaunlicherweise war es Imshada die Wäscherin, die endlich die Frage aussprach, die Éowyn am meisten fürchtete.

„Es sind jetzt zehn volle Tage und sie haben noch immer nicht angegriffen“ sagte die massige Frau. „Ich fange an, mir Sorgen zu machen, dass wir mit dieser Attacke den Weg zu unserem eigenen Verderben abkürzen. Es ist in keiner Weise sicher, dass überhaupt ein Angriff von den Klippen kommt. Aber wenn wir es wagen, ganz offen Krieg gegen sie zu führen---“

Und wieder überraschte Sharadi Éowyn. „Was wollt Ihr tun, wenn wir alle zu unserem normalen Leben zurückkehren und sie in einem Monat über uns herfallen – oder in drei Monaten? Oder nächstes Jahr?“ Die Frau des Schatzkanzlers warf Éowyn einen kalten, anklagenden Blick zu. „Wir haben ihr Blut vergossen, und von allen Dingen ist es Blut, das sie nicht vergessen. Oder vergeben. Jetzt heißt es alles oder nichts. Entweder wir radieren sie vom Angesicht der Erde aus, oder sie werden und früher oder später verschlingen.“

„Und wenn sie fort sind“, fragte eine andere Frau verzweifelt, „was dann? Harad und die Stämme von Khand werden wie reißende Wölfe über uns herfallen!“

„Nicht, wenn Gondor seine Hand zum Bündnis ausstreckt.“ sagte Indassa mit klarer Stimme.

Schockiertes Schweigen begrüßte ihre Worte.

„Die Herren aus Gondor und ich, wir haben lange miteinander gesprochen.“ sagte die Königin langsam. „Wenn Elessar einem Freundschaftspakt mit Rhunballa zustimmt – und seine beiden Minister, Herr Gimli und Herr Legolas, scheinen sicher zu sein, dass er das tut – dann wird die stille Drohung Gondors jedem zukünftigen Angriff auf unsere Länder vereiteln.“ Sie lächelte ganz leicht. „Vor allem im Licht meiner neuen Witwenschaft. Harad wird sich jetzt im Chaos befinden; seine Häuptlinge kämpfen gegeneinander um den Thron. Khand kann seine kriegsführenden Stämme nicht vereinigen, um einen Großangriff zu wagen, und etwaige Räuberbanden werden in jedem Fall von der Wache in Empfang genommen.“

„Ihr würdet die Hand des Westron-Königs akzeptieren, der unsere Männer auf dem Pelennor erschlagen hat, meine Königin?“ fragte Obari; sie schien sich auf der Schwelle eines weiteren Schreianfalles zu befinden.

„Ich habe die Hand blutsaufender Bestien akzeptiert, um mich von Haradoun zu befreien.“ erwiderte Indassa kalt. „Soll ich vor einer Übereinkunft mit einem bloßen Sterblichen zurückschrecken, wenn er mein Königreich beschützt?“ Der Königin ließ einen eisigen Blick auf der ganzen Versammlung ruhen, und zum ersten Mal sah Éowyn, dass es keine Schauspielerei war. Indassa stellte die Königin nicht dar. Sie war ruhig und sicher und sie hatte ihren Hof mit der Autorität einer wahren Monarchin im Griff. Éowyn kämpfte darum, das stolze Lächeln zu unterdrücken, das in ihrem Herzen aufwallte. „Wir sind unter Kriegsrecht, solange ich es für nötig befinde.“ fuhr Indassa in einem Ton fort, der keinen Widerstand zuließ.

Die Frau des Weinhändlers fuhr zu Éowyn herum. „Das kommt alles von Euch, Éowyn von Rohan!“

„Was kommt von mir?“ Éowyn lächelte sie ausdruckslos an. „Indassa ist hier die Gebieterin. Ich bin es nicht, und auch Ihr nicht. Vielleicht ist es das, was Euch am meisten bekümmert.“

„Eine solche Anmaßung werde ich mir von der Barbarenhure von Gondors Brigantenkönig nicht gefallen lassen!“ spie Obari; ihre schwarzen Augen glitzerten vor Bosheit. Wie schnell Gerüchte reisen, staunte Éowyn. Die anderen Damen beobachteten sie allesamt mit jener spekulativen Gier, die Frauen an den Tag legen, wenn sie gerade ein ganz besonders saftiges Stückchen Klatsch über jemanden gehört haben, den sie heftig verabscheuen.

„Ich“, sagte Éowyn leise, „bin noch immer Jungfrau. Was mehr ist als man von jeder Eurer Töchter behaupten kann.“

Die Ratssitzung endete damit, dass die anderen Mitglieder des königlichen Rates die rotgesichtige Obari davon zurückhielten, sich auf Éowyn zu stürzen.

*****

Am folgenden Tag, eine Stunde nach dem Mittag, begann auf dem Brunnenplatz plötzlich ein allgemeiner Tanz. Es war keine geplante Sache. Es geschah einfach innerhalb von einer halben Stunde. Somalani-Trommler und Seestadt-Flötenspieler fingen auf dem Platz zu spielen an, in dem Versuch, die allgemeine Anspannung zu lockern. Eine Gruppe von Sabadi-Bogenschützen kamen dazu und jemand brachte eine gondoreanische Lyra mit. Die Leute strömten zusammen, und die Bäcker stellten kleine Stände mit in Öl gebackenem Brot, in Johannisbrot-Sirup getauchten Äpfeln und gezuckerten Datteln auf. Kurze Zeit später sah Éowyn dabei zu, wie Fallah in den Armen von Marsil von Gondor herumgewirbelt wurde, während der junge Mann versuchte, sie durch eine Art Westron-Springtanz zu führen. Fallah kicherte wie ein junges Mädchen.

Das Seltsame und Wunderbare daran war, dass es kein bestimmtes Thema zu geben schien. Jedermann tanzte die Tänze seines Heimatlandes oder des Landes seiner Vorväter. Viele der jungen Frauen von Haradrim-Abstammung tanzten den Sa-Samanis, in einer Art wilder Missachtung der alten Sitten. Sa-Samanis war ein Tanz der Verführung, mit wiegenden Hüften, die Arme auf eine Weise in offener Einladung ausgestreckt, die die Brüste hob und nach vorne drängte. Unter den Haradrim wurde er nur in der Intimität des Schlafzimmers getanzt, die machtvolle Waffe einer Frau, ihren Mann um den kleinen Finger zu wickeln.

Shaeri und ein Dutzend Frauen der Wache bewegten sich durch die verwickelten Schritte dieses Tanzes. Éowyn stellte säuerlich fest, dass ein an drei Stellen gebrochenes Bein die Befehlshaberin des Wachhauses vom tiefen Brunnen kein Deut gebremst hatte. Das kleine Grüppchen überlebender Haradrim gaffte schockiert, den Mund weit offen.

„Nein, junger Häuptling!“ sagte ein älterer Mann zu Moussah, als Éowyn in Hörweite vorüberging. „Diese Hexen werden eine Zweitfrau nicht dulden! Sie werden deine Männlichkeit verdorren lassen und dich zur Tür hinaus und den Dhak-Dir vorwerfen, wenn du dich nicht einzig und allein an ihr Bett hältst. Das ist keine Art zu leben!“

„Eine wunderschöne Frau und ein Dutzend feiner Pferde ist keine Art zu leben?“ gluckste Moussah. Sein Blick ruhte auf Shaeri, während sie sich an ihm vorbei bewegte; seine Augen glühten vor Interesse. „Dein Blut wird mit dem Alter kalt, Hatab!“

„Saah, Junge!“ Hatab spuckte einen Mundvoll Kautabak aus. „Das meinst du nicht im Ernst! Ein Dutzend Pferde? Ein gutes Pferd ist ein Dutzend Weiber wert!“

Moussah beäugte ihn kritisch. „Alter Onkel, ein Mann kann ein gutes Pferd nicht mit in sein Bett nehmen. Oder wenigstens sollte er es nicht versuchen!“ Er wurde mit dem schallenden Gelächter der anderen belohnt.

Eru, dieses Land besaß einen wundersamen Zauber, dass es die Überreste seiner Eroberer in weniger als zwei Wochen so gut wie vereinnahmt hatte!

Éowyn stellte fest, dass Indassa auf dem Steinring saß, der sich um den Brunnen zog. Ihr Kopf war vorgebeugt; sie war in ein Gespräch mit Fallah vertieft. Éowyn beschleunigte ihre Schritte und ging auf sie zu. Sie fragte sich, was wohl bei den Vorbereitungen für den morgendlichen Angriff fehlgeschlagen sein mochte. Fallahs volles Gelächter erklang, als Antwort auf etwas, was die Königin gesagt hatte.

„Éowyn!“ sagte Indassa strahlend. „Ich habe es getan!“

„Was getan?“

„Ich habe den Elben geküsst!“

Éowyn starrte sie an und hoffte, das ihr der Mund nicht offenstand wie der einer Forelle am Haken. „Er hat Euch geküsst?“

„Nein!“ Indassa schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn geküsst. Er war sehr überrascht!“

Hinter sich hörte Éowyn Gimlis tiefes, herzliches Glucksen. Der Zwerg war gerade rechtzeitig herangekommen, um Indassas letzte Worte zu hören. „Ich bin sicher, das war er, kleine Majestät!“

Dann seufzte Indassa, und der Seufzer schien dem kindlichen Gekicher ein Ende zu setzen. Zum ersten Mal kam es Éowyn so vor, als hätte die kleine Königin die körperliche Erscheinung einer Frau von beinahe neunzehn Jahren. Der Blick in Indassas Augen war weise und gleichzeitig ein wenig traurig. „Er sprach mit schönen Worten zu mir und meinte, ich sei eine liebliche junge Frau“, erzählte sie. „Er sagte, dass ich eines Tages einem netten, gut aussehenden Mann begegnen würde, der mich alle Tage meines Lebens lieben wird.“ Wieder seufzte sie, diesmal sehr leise. „Ich wusste, dass ich einen wie ihn nicht für mich haben kann. Aber ich bin froh, dass mein erster Kuss von ihm kam.“ Ihre Lippen kräuselten sich mutwillig. „Selbst wenn der Kuss gestohlen war!“

„Kommt, meine Königin!“ sagte Fallah freundlich und nahm Indassas Hand. „Ihr habt gesagt, dass Ihr meinen Laden mit seinen explodierenden Wundern sehen wollt. Ich werde Euch auf eine offizielle, königliche Waffeninspektion mitnehmen.“

„Das ist auch mein Ruf zu den Waffen“, sagte Gimli. „Ich werde als Eure königliche Leibwache mitkommen, wenn es der Herrin Éowyn nichts ausmacht. Obwohl ich Euch warne, Majestät: Frau Fallahs spezielles Rezept für das, was wir Zwerge Minenpulver nennen, hat keinen hübschen Duft.“

„Ich habe ein Taschentuch, das ich mir über die Nase halten kann.“ sagte Indassa fröhlich.

Éowyn sah sie fortgehen. Bei dem Gedanken, Indassa in Explosionsreichweite der Feuerwerks-Waffenkammer zu lassen, hatte sie sich reflexartig angespannt, aber die Kombination aus Gimlis und Fallahs Aufsicht würde sie vor Missgeschicken bewahren. Sie saß auf der Bank neben dem Brunnen und ging im Geiste die fast endlose Liste all dessen durch, was morgen scheitern konnte. Der ärgerlichste Teil des ganzen Schlachtplanes war die Tatsache, dass die Klippen sich einen harten Halbtagesritt östlich der Stadt befanden. Das Sonnenlicht eines halben Tages ging verloren, bevor der Kampf überhaupt begann. Sie sagte sich, das die elbischen Scherben ihnen hindurch helfen würden, selbst wenn die Dämmerung sie einholte, aber---

Es musste ein sauberer, rascher und gnadenloser Schlag sein. Zwanzig Fässer Lampenöl, gemeinsam mit Fallahs Feuerkraft, sollten sie ausbrennen und sicherstellen, dass das Wachhaus der königlichen Garde und die ungefähr sechzig handverlesenen Mitglieder der anderen Häuser, gemeinsam mit der vollständigen Truppe von Gondor und Harad, nicht einmal dazu aufgerufen werden musste, in irgendeiner Weise tatsächlich zu kämpfen.

Und wenn das flüssige Feuer, das sie in deren Schlangenlöcher gießen wollten, die Überlebenden aufstörte wie ein Hornissennest, dann würden die Jäger es mit Fallahs Himmelsleuchten und den Scherben von Elwings Kugel aufnehmen müssen.

Alles war bereit, sagte sie sich selbst. So bereit, wie Sterbliche sein mochten, die die Absicht hatten, Monster in ihrem eigenen Nest auszuräuchern. Sie schlenderte hinüber zum Stand von Satti dem Bäcker und kaufte sich ein Stück in Öl gebackenes, mit Honig überzogenes Brot; sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Für wenigstens eine halbe Stunde wollte sie nicht an morgen denken.

„Ich bitte dich um Verzeihung, meine Schwester.“

Shaeri stand vor ihr, die Hände vor sich gefaltet wie ein reuiges Kind

„Für was?“ fragte Éowyn ein wenig ungnädig.

„Dafür, dass ich versucht habe, dir deinen Elbenkrieger aus dem eigenen Bett zu stehlen“, sagte Shaeri. „Das war nicht wohl getan.“ Der Kopf der Tochter des Weinhändlers war von dem feinen Sprühwasser des Brunnens bedeckt und ihre Kleidung war vom Schweiß ihrer Anstrengungen durchweicht, aber das verstärkte die dunkle, sinnliche Ausstrahlung nur noch, die sie an sich trug wie eine zweite Haut. Shaeris freizügige Art, mit Männern umzugehen und ihre olivgetönte Schönheit sorgte immer dafür, dass Éowyn sich unbeholfen und farblos vorkam.

„Er ist nicht mein Elb.“ sagte Éowyn zu ihr. Sie hatte den heftigen Wunsch, dass jedermann damit aufhören sollte, sich Liebhaber für sie einzubilden; dann runzelte sie schuldbewusst die Stirn, als ihr die hässlichen Worte wieder einfielen, die sie am Tag zuvor im Rat gegenüber Shaeris Mutter gebraucht hatte. Sie hatte Obaris Töchter mehr oder weniger öffentlich zu Schlampen erklärt. „Ich habe im Zorn Worte zu deiner Mutter gesagt, die deine Ehre berühren“, meinte sie demütig. „Das tut mir Leid.“

Shaeris Gesicht erblühte in einem entzückten Grinsen. „Alles, was meiner Mutter einen Wutanfall beschert, ist wohl gesprochen, mein Hauptmann!“

Sie wirbelte davon und benutzte den unregelmäßigen Gang, den die Schiene an ihrem Bein ihr bescherte, um ihren Hüftschwung zu betonen. Se bedeutete Moussah, sich ihr anzuschließen, während sie tanzte. Er gehorchte, wenn auch langsam, und er schritt mit einer arroganten Grazie auf sie zu, die Éowyn sich fragen ließ, ob Shaeri hier eine Eroberung machen oder selbst erobert werden würde. Éowyn entdeckte Obari, matronenhaft in Seide gehüllt, die all dies mit einem leicht erfreuten Ausdruck auf ihrem normalerweise grollenden Gesicht beobachtete. Die ältere Frau würde in Freude baden, wenn ihre Tochter sich mit einem Mann von reinem Haradrimblut verband, niemand Geringeres als der Sohn eines Häuptlings.

Éowyn sah zu, wie die Paare sich drehten, die Bewegung ihrer Körper ganz im dröhnenden Rhythmus der Trommeln und miteinander. Es war eigenartig, wie die Aura dessen, was man zartfühlend als „romantisches Bedürfnis“ bezeichnen mochte, sich in den letzten Tagen rings um sie her stetig verstärkt hatte. Eines Tages würde sie Fallah fragen, ob es irgendeine direkte, körperliche Verbindung zwischen nervenzerreißender Anspannung und Begierde gab. Moussah und Shaeri bewegten sich gemeinsam, ihre Leiber in vollkommener Einheit, nur Zentimeter von einem Kuss entfernt, einander mit ihrer Nähe aufreizend und am Rande von Beinahe schwankend.

Éowyn spürte, wie das amüsierte, halbe Lächeln auf ihren Lippen verblasste. Vielleicht wusste sie, warum Shaeri sie zeitweise irritierte. Éowyn hatte nie geschwärmt, sich nie einen Gefährten genommen. Sie hatte noch nie diesen brennenden Rhythmus in den Adern gefühlt, den Ruf, den ältesten Tanz zwischen Mann und Frau zu tanzen. Indassas mädchenhafte Schwärmerei für Legolas hatte ihr Hoffnung gegeben, für die Königin ebenso wie für sich... dass sie eines Tages beide heil und ganz sein mochten. Vielleicht hatte Haradoun mit seiner kruden Brutalität weniger bleibenden Schaden angerichtet als Gríma. Haradoun hatte Indassa nicht gezwungen, das, was er ihr antat, zu genießen.

„Habt Ihr Gimli gesehen?“

Éowyn wurde aus ihren Gedanken gerissen. Legolas belastete noch immer das rechte Bein stärker, aber ansonsten schien er vollständig erholt zu sein.

„Er ist mit Fallah und Indassa in der Weinpresse.“ sagte sie. Angesichts der Sorge, die sie in seinem Gesicht sah, spürte sie, wie ihr Körper sich anspannte. „Was ist geschehen?“

„Nichts“, sagte er, die Stirn noch immer besorgt gerunzelt. „Wenigstens hoffe ich, es ist nichts. Ich war mit Hurin in den Umzäunungen unterhalb der Stadt und habe ihm geholfen zu entscheiden, welche von den Pferden wohl am wenigsten in Panik verfallen. Gimli hat gesagt, er würde sich mir anschließen. Ich – ich verspürte einen plötzlichen, kalten Schauder, als mir klar wurde, dass er sich verspätet.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er das Gefühl los werden. „Wahrscheinlich ist es nichts.“

„Lasst uns zur Weinpresse gehen.“ schlug sie vor. „Es ist nicht weit und ich muss Fallah sowieso ein paar Fragen stellen, über die neuen ,Feuerflaschen’, an denen sie gerade arbeitet.“

Sie machten sich ohne Eile auf den Weg. Éowyn verlangsamte bewusst ihren Schritt, damit der verwundete Elb sein Bein nicht übermäßig beanspruchte. „Geht es Euch gut genug, um morgen mit uns zu reiten?“ fragte sie behutsam.

„Es geht mir gut genug für diesen Kampf.“ sagte er knapp.

Sie nahm ihn beim Wort. Persönlich hasste sie es, nach einer Verletzung oder Krankheit verhätschelt zu werden, und sie hatte den Verdacht, dass es bei ihm genauso war.

„Danke.“ sagte sie, als sie um die Ecke in die Helle Straße einbogen. „Für Eure Freundlichkeit Indassa gegenüber.“

„Sie ist ein süßes Kind.“ sagte er mit einem kurzen, traurigen Lächeln. „Obwohl ich zugeben muss, dass sie mich überrumpelt hat. Sie war betrübt, als ich nicht zulassen wollte, dass sie mich ein zweites Mal küsst, und sie fragte, ob ich sie nicht hübsch fände.“

„Oh.“ sagte sie leise.

„Ich wünschte---“ Er hielt an und drehte sich um, um sie anzuschauen, sein schönes Gesicht wehmütig und kummervoll. „Ich wünschte, ich könnte bewirken, dass Sterbliche sich mit Elbenaugen sehen... Elbenaugen, die das Fleisch als die unvollkommene Schale betrachten, die die wahre Schönheit einschließt. Ich wünschte, ich könnte Eure Rasse sehen lassen, wie lieblich sie wirklich ist, wie ihr Geist brennt gleich einer Kerze, die von beiden Enden her angezündet wird. Ihr seid wie fallende Sterne – strahlend und schön und manchmal so überaus, überaus flüchtig, dass ich fast weine, wenn ich Euch ansehe.“

Éowyn blickte ihm in die Augen und spürte einen Schauder des Staunens und der Unruhe. Ungezählte Jahre wurden dort widergespiegelt und ein inneres Licht der Voraussicht und Erkenntnis, die weit über die ihre hinausging. Unendlich weit. Es war so leicht, von Zeit zu Zeit zu vergessen, was er war, wie unheimlich verschieden seine Natur war von der ihren, selbst von der Gimlis. Die Vertrautheit der Freundschaft machte, dass sie es allzu oft vergaß.

„Fallah hat mir Indassas Geschichte erzählt“, sagte er leise. „Ich würde ihr alles geben, was sie von mir verlangt, wenn ich könnte. Sie verdient so viele süße Küsse, wie ihr junges Herz erträgt. Aber ich kann es nicht. Bei den Erstgeborenen folgt das Verlangen nur der Liebe. Oder anders gesagt, beides erblüht gleichzeitig in uns. Die Begierde entzündet sich nicht in unseren Leibern, wenn wir nicht zuerst unser Herz verschenkt haben. Eure Indassa ist ein reizendes Kind, dem ich alles Glück der Welt wünsche, aber ich liebe sie nicht.“

„Wenn die Natur der Menschheit so beschaffen wäre, dann wäre es eine glücklichere Welt.“ sagte sie.

Eine blendende, heiße Druckwelle raste den schmalen Korridor der Straße hinunter und riss sie von den Füßen.

Éowyn kam auf die Beine und starrte einfältig den Hagel brennender Holzsplitter an, der um sie hernieder fiel wie ein weißglühender Regen. „Misch die grünen Kanister nicht mit den blauen, Sommi“, hallte Fallahs Stimme in ihrem Kopf wieder, „es sei denn, du willst in die Luft fliegen.“

Sie fing an zu rennen, ihren Herzschlag im Mund; sie betete laut mit einer rauen, hysterischen Stimme, dass irgendwie, auf irgendeine Weise die drei Besucher der Weinpresse nicht darin gewesen waren, als sie explodierte. Sie nahm Legolas wahr, der ihr voraus sprintete, sonst aber nichts... nicht Legolas’ Stimme, vor Furcht so gebrochen wie die ihre, die Gimlis Namen ausrief, nicht die Wäschermädchen, die aus der Wäscherei nebenan gerannt kamen, als sie Feuer fing, und die nach Wasser schrieen, um die Flammen zu löschen.

Sie stolperte in den brennenden Trümmerhaufen, wo nur Momente zuvor die Weinpresse gestanden hatte. Sie fing an, alles umzudrehen, das größer war als ein Schrank, und sie ignorierte die glosende Hitze und die giftigen Dämpfe. Die einzige Gnade schien zu sein, dass die Explosion so gewaltig gewesen war, dass sie ihr eigenes Feuer zum größten Teil selbst ausgeblasen hatte. Nach mehreren qualvollen Minuten der Suche rannte sie geradewegs in Legolas hinein.

Sie packte ihn an den Armen. „Wo sind sie? Wo sind sie?!“

„Sie können sich nicht – sie können sich nicht in Nichts aufgelöst haben!“ sagte er. Seine grauen Augen weiteten sich; sie bildeten einen starken Gegensatz zu seinem bleichen Gesicht. „Gimli sagte, da sei ein Keller! Wenn sie dort unten waren---!“

Éowyn gab ein leises Geräusch erneuerter Hoffnung von sich. Sie gruben sich durch die rauchenden Überreste und fanden die Falltür. Éowyn brachte sie auf; von dem heißen Metallgriff, der ihr die Hand versengte, nahm sie keine Notiz. Sie schlitterte die Leiter hinunter, wedelte den Rauch beiseite und beschirmte ihre tränenden Augen. Dann bewegte sie sich vorwärts und stolperte über etwas; sie bekam kaum mit, dass Legolas leichtfüßig neben ihr auf den Boden gesprungen war. Sie kniete sich hin und sah, worüber sie gestrauchelt war.

Es war Fallah.

Sie legte ihrer Freundin eine bebende Hand auf den Mund und atmete vor Erleichterung scharf aus, als sie dort Atem spürte. Sie legte die Hand seitlich an den Kopf der Ärztin und zog sie wieder zurück, feucht und klebrig von Blut.

„Sie muss von einem herab fallenden Balken getroffen worden sein“, sagte Éowyn. „Sie ist bewusstlos, aber sie lebt! Wir müssen...“

„Éowyn.“

Sie wandte den Kopf; all ihre Hoffung starb angesichts der stillen, schrecklichen Traurigkeit, die sie in seiner Stimme hörte. Sie fing bereits an, den Kopf abwehrend zu schütteln, während sie noch über den Lehmboden des Kellers kroch. Nein! Nein! Nein!

Sie krabbelte unter dem rauchdurchwölkten Schaft aus Sonnenlicht hindurch, der durch die offene Tür über ihnen drang und folgte seine Stimme zum entfernten Ende des Kellers. Es war kalt und feucht hier unten wie in einer Höhle, und beinahe ebenso dunkel. Sie hielt an und starrte auf das hinunter, was er gefunden hatte, eingefroren in der Zeit. Ihr Geist versuchte verzweifelt zurückzuweisen, was ihre Augen sahen.

Indassa lag auf dem Rücken, die toten Augen in unschuldiger Überraschung aufgerissen. Ihr Kopf war in einem eigenartigen Winkel zur Seite geneigt. Dies war kein fallender Deckenbalken gewesen. Etwas--- etwas hatte ihr den kleinen Hals gebrochen und sie beiseite geworfen wie en Stück Abfall.

Éowyn spürte Legolas’ Hand nicht, die sich um die ihre schloss. Seine Stimme war nur ein entferntes Summen in ihren Ohren. Er sagte etwas darüber, dass Fallah Hilfe brauchte, darüber, Gimli zu finden. Sie wusste, dass das, was er sagte, wichtig war. Indassas Körper war seines Lebens beraubt, ein leeres Haus, das keine Hilfe, wie groß auch immer, wieder füllen konnte. Sie wusste, sie sollte aufstehen und rasch handeln. Sie wusste, dass die Bemühungen eines Heilers jetzt für Fallah den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnten, aber---

Sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte nicht handeln. Sie konnte nichts anderes sehen als das Versprechen einer Zukunft, die sich vor Indassa erstreckt hatte – Liebe und langes Leben und Freiheit für sich und ihr Volk. Und all diese süßen Versprechungen würden nie erfüllt werden. Indassas gesamte, mögliche Zukunft hatte sich in diesem feuchten Loch im Boden entschieden. Wie lange hatte sie das Mädchen aus den Augen gelassen? Eine Stunde? Es war doch sicher nicht eine ganze Stunde her, seit Indassa und Fallah den Platz verlassen hatten und davongegangen waren, die Königin und die Apothekerstochter, Hand in Hand wie Schwestern. Wieder schüttelte sie den Kopf; sie wusste, dass keine noch so große Abwehr es je wieder gut machen konnte.

„Es tut mir Leid“, flüsterte sie und berührte das schöne Gesicht des Mädchens. Die Haut wurde unter ihren Fingern bereits kühl.

Éowyns Augen weiteten sich, Ihre Lunge füllten sich mit rauchiger Luft, als sie einatmete. Sie saß einen Augenblick bewegungslos da und schwankte am Rand eines Schreis, als die unabänderliche Tatsache sie mit voller Wucht traf wie ein Schwert, das sich in ihr Herz bohrte.

Sie schrie.

Sie krümmte sich zusammen, heulend wie eine unbehauste Seele, und grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Und ihre Augen waren trocken. Sie blieb tränenlos, selbst jetzt. Sie brachte es nicht fertig zu weinen, also blieb ihr nur die schlichte Klage.

Legolas nahm sie sanft bei den Schultern und zog sie hoch; er richtete ihren gebeugten Körper auf und legte die Arme um sie. Nach einiger Zeit verklangen ihre Schreie zu einem gedämpften, leisen Stöhnen. Er berührte mit einer Hand ihren Hinterkopf. „Weint, Mellon-nin! Ihr müsst weinen!“

„Ich kann nicht!“ stöhnte sie. „Oh Eru, ich wünschte, ich könnte!“ Sie wand sich aus seiner sanfte Umarmung. Sie wollte keinen Trost. Sie verdiente ihn nicht. Sie stieß Legolas zurück und schüttelte wieder den Kopf. Sie drängte Gefühl und Schmerz hinunter in einen Brunnen tief in ihrem Herzen, gefüllt mit stillem, kalten Wasser. Sie musste sich bewegen und nachdenken. Sie konnte jetzt nicht fühlen. Fallah brauchte sie! Fallah brauchte sie und war noch nicht jenseits aller Hilfe!

„Fallah.“ sagte sie laut. Sie begegnete seinem Blick und verschloss ihr Herz gegen die unvergossenen Tränen, die ihm in den Augen standen, gegen die Zuneigung, die sie dort sah und den Kummer, der dem ihren Antwort gab. „Und – und Gimli?“

Er begann verwirrt, den Kopf zu schütteln. Dann fror er ein; jeder einzelne Muskel spannte sich in plötzlicher Furcht. „Rennt.“ zischte er.

„Was...?“

Er wartete nicht auf eine Antwort. Er packte sie um die Mitte und schleuderte sie mit aller Kraft auf den hellen Lichtstrahl unter der offenen Kellerluke zu.

„Rennt!“ schrie er. Sie hörte das Klirren seiner langen Messer, als sie aus der Scheide kamen. „Nicht---!“ Ein dumpfer, fleischiger Aufprall schnitt ihm das Wort ab.

Sie zog ihr Schwert und stand mit wilden Augen in den wirbelnden Staubflocken des Sonnenscheins von oben; sie hörte das Geräusch rennender Füße, von Ikakos Stimme, die Befehle brüllte. Wieder füllte ein kalter Luftzug voll Höhlengeruch ihr die Nase. Sie fragte sich, ob die Jäger sich während der Nacht durch den Kellerboden gegraben und wartend auf der Lauer gelegen hatten. Oder waren sie einfach im Schutze der Dunkelheit hereingeschlüpft? Und natürlich würde im hellen Tageslicht niemand eine Scherbe bei sich tragen. Aber wie waren sie an den beiden Scherben vorbeigelangt, die sie aus schierem Verfolgungswahn hier in der Weinpresse hinterlegt hatte, als der Tag des Angriffs näher rückte? Für den Augenblick spielte es keine Rolle. Sie würde nicht fortlaufen und ihre überlebenden Freunde deren Gnade ausliefern. Sie würde zu ewiger Qual verdammt sein, wenn sie zugab, dass einer von Indassas Mördern diesen Keller lebend verließ.

Wenn sie sich aus dem Lichtstrahl hinausbewegte, war sie eine tote Frau. Sie konnte sehen, dass Fallah nur ein paar Fuß weit entfernt vom unteren Ende der Leiter lag. Legolas und Gimli – sie konnten nicht tot sein!

„Zeigt Euch!“ befahl sie der bewegten Finsternis rings um sich her.

Er trat in einem Windstoß kalter, ranziger Luft aus den Schatten, lässig und mit gemächlicher Verachtung.

„Morsul...“ hauchte sie.

„Gib mir einen Kuss“, sagte er mit einem spöttischen Lächeln, „und vielleicht werde ich meinen Brüdern nicht die Gelegenheit bieten, dem Elb die Kehle herauszureißen.“

Sie gab seinen Blick ausdruckslos zurück. Sie konnte spüren, wie sie tiefer zu diesem kalten, stillen Ort furchtlosen, schrecklichen Zornes hinab sank, an dem sie den Tod wie die zärtliche Umarmung eines Geliebten willkommen hieß, wenn sie nur im Sterben diesen vor sich vernichten konnte. Aus dieser freudlosen Zelle eisiger, gnadenloser Entschlossenheit heraus hatte sie Angmar erschlagen.

„Ihr werdet ihn töten, egal was ich tue“, sagte sie gleichgültig. Die völlige Abwesenheit jeglichen Gefühls in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. „Als ihr Indassa getötet habt“, fragte sie, „warst du es, der ihn den Hals umgedreht hat, Morsul?“

Er nickte langsam. Dann gewann er seine arrogante Fassung zurück. Er lächelte und entblößte rasiermesserscharfe Fangzähne. Die Spitzen waren blutbefleckt. War es Gimlis Blut, fragte sie sich. Oder das von Legolas? Sie konnte spüren wie die anderen sie wie dunkle Windstöße umzingelten und untereinander leise lachten.

„Meine Königin hat ihren Tod befohlen“, sagte er. „Für die Herausforderung durch die Wache am Südpass. Für den Plan, uns aus unserem glücklichen Heim heraus zu brennen. Die Tochter des Apothekers lebt, aber ich habe ihren Schädel zum Kochen gebracht. Ihr Hirn schwillt an von ihrem eigenen Blut. Sie wird bald sterben, oder noch besser, in geistlosem Schwachsinn weiter vegetieren. Eine passende Strafe für solch einen schlauen, kleinen Feuerteufel.“

Éowyn zog ihr langes Messer und hielt es niedrig und bereit, während sie ihr Schwert in der Rechten hielt. „Und Legolas und Gimli?“

„Sie werden eine Privataudienz mit meiner Königin haben“, sagte Morsul. „Sie hat viele Geschichten und Netze gesponnen, um die beiden in ihre Reichweite zu bringen.“

„Also dann.“ Éowyn lächelte kalten Tod in das Gesicht der Bestie. „Sie leben noch. Das ist alles, was ich wissen wollte.“ Sie riss Schwert und Messer nach oben und hielt sie in einem solchen Winkel in das Sonnenlicht über sich, dass sie es mit der Schwertklinge in sein Gesicht werfen konnte. Ihr Messer schoss einen geborgten Sonnenstrahl auf die Obsidiangestalt, die zu ihrer Linken aufragte. Morsul zuckte mit einem wütenden, schmerzerfüllten Heulen zurück und verschwamm, aber die anderen waren nicht so schnell. Sie wirbelte herum und versprühte mit den Zwillingsspiegeln ihrer Klingen Sonnenlicht; sie spürte eine eisige, giftige Befriedigung angesichts ihrer hohen, hexenhaften Schmerzensschreie. Der Übelkeit erregende Geruch nach brennendem Fleisch erfüllte den Raum.

„Schlaues Weibsstück“, gluckste Morsul finster.

Etwas kam aus der Schwärze gepoltert und traf sie wie ein fallender Felsbrocken. Sie flog rückwärts und fiel hinaus aus dem Licht. Die hartgebackene Erde des Kellerbodens zwang ihr die Luft aus den Lungen. Sie hatte einen flüchtigen Augenblick, um zu begreifen, dass der „Felsbrocken“, den Morsul auf sie geschleudert hatte, Gimlis besinnungsloser Körper war.

„Selbst ein Naugrim ist noch zu etwas nutze“, sagte Morsuls Stimme ihr ins Ohr.

Dann packte er sie an den Haaren und zerrte sie in die Dunkelheit. Morsul zog sie auf die Füße wie eine Flickenpuppe und wirbelte sie herum, so dass sie ihn ansehen musste. Seine Hand zuckte vor wie eine zustoßende Schlange und legte sich im Würgegriff um ihre Kehle. Diese Hand um ihren Hals war nicht länger die eines Elben. Sie war zu einem Ding mit spitzen Klauen geworden. Er war verbrannt; die eine Seite seines Gesichtes war verkohlt und rauchte immer noch. Voller Entsetzen sah sie zu, wie das schöne Gesicht des dunklen Elben sich verzerrte. Die Knochen kräuselten sich auf widerwärtige Weise unter seiner Haut, als ob er drohte, sich in eine unvorstellbare Monstrosität zu verwandeln. Er gab ein gedämpftes, knurrendes Grollen von sich, während er um Kontrolle rang. Langsam schien er sich zu beherrschen und sein Temperament mit einer gewaltigen Willensanstrengung zu bezwingen. Sein Gesicht gewann seine elfenbeinfarbenen Flächen zurück, einmal mehr unverbrannt und vollkommen. Er betrachtete sie gedankenvoll.

Dies war das Ende. Auf die eine oder andere Weise war sie verloren. Sie dachte nicht nach oder hielt inne, um zu überlegen. Sie drehte das Messer in ihrer verkrampften Hand, richtete es auf sich selbst und stieß es nach oben auf ihr eigenes Herz zu. Er fing ihre Hand gelassen ein, als hätte er gewusst, was sie tun würde und hielt die Klinge auf, einen Wimpernschlag ehe sie ihr die Brust durchbohrte.

„Nichts da“, sagte er leise. „So leicht wirst du uns nicht entkommen.“

Gelähmt wie eine Maus, die in das offene Maul einer Königskobra hinabstarrt, beobachtete wie, wie er seine Fänge entblößte und sich damit ganz bewusst die eigene Zunge durchbohrte. Er lächelte wie ein Mann, der ein lang erwartetes Festmahl genoss, während sich sein Mund mit Blut füllte.

Die Hand um ihre Kehle spannte sich und würgte sie. Und als sie verzweifelt nach Luft rang, da zog er sie an sich und presste seinen üblen Mund auf den ihren. Er stieß seine Zunge nach vorne und zwang ihr das Blut in der obszönen Perversion eines Kusses die Kehle hinunter.

Sie war nicht imstande, sich frei zu winden oder sich auch nur zu übergeben. Sie konnte das Gift seines Blutes in sich spüren, tief in ihrem Bauch und den ganzen Weg bis in ihre Fingerspitzen. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, aber sie war sich sicher, wenn es länger gedauert hätte, als es das tatsächlich tat, dann hätte sich ihr Geist schlicht und einfach von dem Anker losgerissen, der sie noch bei klarem Verstand hielt. Er zog sich zurück und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn; er lächelte vor Entzücken.

Die Dunkelheit verblutete zu verschwommenem Purpur. Sie sackte nach vorne und fiel gegen ihn; ihre Knie gaben nach. „Nein...“ wimmerte sie. Sie fühlte sich schrecklich klein, schrecklich verloren. Furcht, tödliches Grauen, wie sie es nie zuvor gekannt hatte, durchflutete sie gemeinsam mit dem brennenden, prickelnden Makel seines Blutes.

Nicht das! kreischte ihr Geist. Lasst ihn mir das Brustbein auseinander reißen und über mein Herz herfallen! Lasst ihn jeden Tropfen Blut aus meinem Körper saugen und an meinen Knochen nagen! Aber nicht das! Nicht das!

„Schsch, meine Sonnenblume“, sagte er sanft und streichelte ihr das Haar. „Fürchte dich nicht. Ich habe dich nicht verändert... nicht vollständig. Ich habe dich einfach ein wenig geschmeidiger gemacht und ein bisschen weniger zerbrechlich. Es würde mir bei meiner Herrin übel ergehen, wenn ich zulasse, dass du dir das Leben nimmst. Sie hat große Pläne für dich und deine heldenhaften Gefährten aus Saurons misslungenem Großen Krieg.“ Er hob sie hoch auf seine Arme und ihr Kopf rollte in betäubtem Grauen nach hinten.

„Kommt!“ rief er.

Sie konnte jetzt sehen, als hätten sich ihre Augen plötzlich verändert, um sich der Dunkelheit anzupassen. Ein halbes Dutzend Nachtgeschöpfe waren in der entfernten Ecke des Kellers zusammengekauert und versorgten die sengenden Brandwunden, die sie ihnen zugefügt hatte.

Legolas war bei Bewusstsein, sein Gesicht blutüberströmt. Zwei von ihnen hielten ihn zwischen sich fest. Einer presste eine schmutzige, knochenweiße Hand auf seinen Mund, während er sich in ihrem unbeweglichen Griff wand wie ein Wahnsinniger. Morsul kniete sich vor ihn, ihren schlaffen Körper noch immer in den Armen. Er packte grob das Haar des anderen Elben und riss Legolas Kopf hoch, damit er in das Gesicht seines Gefangenen schauen konnte.

Legolas spie eine Kette fließender Verwünschungen in seiner eigenen Sprache aus, und der dunkle Elb schüttelte nur voller Abscheu den Kopf. „Silvan-Züge und Sindarin-Farbe... du bist eine rechte Promenadenmischung, nicht wahr, Junge? Und ausgerechnet mit einem dieser stinkenden Naugrim in Bruderschaft verschworen. Ich kannte deinen Großvater in Doriath, Sohn Thranduils. Wie tief ist Orophers Haus gesunken!“

Der Klang rennender Füße, die über ihr durch die Trümmer krachten, vertraute Stimmen, die ihren Namen riefen. Éowyn versuchte zu antworten, versuchte zu schreien, aber kein Geräusch wollte aus ihrer Kehle dringen.

„Kommt!“ sagte Morsul wieder. „Bringt sie mit!“

Der Keller schwankte und kreiste um sie her, als Morsul auf die Füße sprang; er hielt sie noch immer fest an sich gedrückt wie ein Vater sein leidendes Kind. Er führte sie zu einem gezackten Loch im Erdboden. Es gab den kühlen, feuchten Atem der riesigen Höhlen frei, die darunter lagen. Die Welt kippte, als Morsul mit dem Kopf voraus in das offene Maul des Schlundes hinabtauchte, den er und seine Gefährten unter dem Keller aufgerissen hatten. Dann fielen sie abwärts und hinein in ein bodenloses Meer der Nacht.


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