Ein Schatten und ein Gedanke
von Cúthalion

Ich habe geträumt, dass eine große, dunkle Woge über die grünen Lande stieg und über die Berge weiterzog. Ich stand an irgendeinem Rand, und es war entsetzlich dunkel in dem Abgrund vor meinen Füßen… Hinter mir schien Licht, doch ich konnte mich nicht umdrehen… ich konnte nur dort stehen bleiben und warten…

Ich zucke zusammen und erwache aus meinem Traum. Die Halle wölbt sich über meinem Kopf wie eine schwarze Höhle; es gibt nichts zwischen mir und der Leere als meinen blassblauen Mantel. Es ist eine sanfte, beinahe nicht spürbare Berührung gewesen, die mich gerade noch rechtzeitig zurückgeholt hat... jemand zieht den pelzgesäumten Samt über meine bloßen Füße und meine Schulter. Als ich die Augen öffne und verwirrt in das dämmerige Licht schaue, sehe ich dich.

„Wie spät ist es?“

Du erhebst dich bereits, um dich zurückzuziehen, und ohne nachzudenken strecke ich die Hand aus und fasse nach deiner. Langsam und zögernd wendest du dich wieder zu mir zurück. Ich klammere mich an die raue Wärme deiner Finger; sie haben in Helms Klamm dein Schwert geführt und mit tödlicher Sicherheit getötet, aber jetzt sind sie sanft und beruhigend, ein Anker inmitten meiner schlaftrunkenen Furcht.

„Es dämmert noch nicht.“

Deine Stimme ist leise und tief, ein wenig heiser. Ich erinnere mich an den Augenblick, als du mich zum allerersten Mal berührt hast... Gandalf stand an der selben Stelle, wo wir jetzt sind. Er bedrohte die Macht, die meinen Onkel eine so qualvoll lange Zeit unter ihrem Joch gehalten hatte und schenkte ihm endlich die Freiheit. Ich sah, wie sich der König zusammenkrümmte, zerrissen in dem Kampf zwischen Licht und Dunkelheit in seiner eigenen Seele und ich wollte ihm zu Hilfe eilen... und du hieltest mich mit starken Händen zurück und mit der selben leisen Stimme, denn du wusstest es besser.

Ich kann das Schnarchen der Männer hören, die in ihre Mäntel gehüllt auf dem Boden liegen. Aber dennoch scheint es, als wären wir ganz allein, du und ich, und plötzlich höre ich, wie die Worte über meine Lippen drängen und von dem Traum erzählen, den ich hatte, von der großen Woge, dem tiefen schwarzen Abgrund und meiner Unfähigkeit, mich zu rühren. Dein Gesicht verändert sich, während zu zuhörst, dein Blick wird sanft und aufmerksam und du kniest nieder neben meinem Lager und hältst meine Hand geborgen zwischen den deinen. Ich spüre eine einzelne Träne, die mir über die Wange rinnt und mit jeder Faser meins Körpers sehne ich mich nach der Berührung deiner Finger auf meinem Gesicht, um sie abzuwischen. Kannst du nicht sehen, dass ich dich liebe? Dass ich dich brauche? Dass du nicht nur die Rettung meines Onkels gewesen bist, sondern auch meine?

„Die Nacht verändert viele Gedanken. Schlaft, Éowyn…“

Der Moment ist vorüber. Ich schließe die Augen und du befreist deine Finger sachte aus dem Griff meiner Hand. Ich sinke in einen anderen Traum zurück und die Nacht breitet ihre dunklen Schwingen über mir aus.

„Schlaft, solange Ihr könnt…”

Ich schlafe, und wieder bin ich allein. Du bist gegangen.

******

Noch bevor ich dich sehe, kann ich das vertraute Knarren des Zaumzeugs hören. Du stehst dort mitten in der Nacht und bereitest mit grimmiger Entschlossenheit deine Abreise vor, und die Erkenntnis, dass du fort gehst, trifft mich wie ein Hieb in den Magen.

„Warum tut Ihr das? Im Osten wird Krieg geführt. Ihr dürft nicht am Vorabend der Schlacht fortgehen. Ihr dürft die Männer nicht im Stich lassen.”

Meine Stimme hat einen schrillen, verzweifelten Klang, aber ich bin jetzt jenseits aller Scham.

„Éowyn…”

„Wir brauchen Euch hier.” Ich brauche dich hier. Geh nicht fort von uns. Geh nicht fort von mir.

„Warum seid Ihr gekommen?”

„Wisst Ihr das nicht?”

Du wendest dich mir zu, und er Blick in deinen Augen ernüchtert mich auf der Stelle und verbrennt all meine Hoffnung zu Asche. Ich habe dich an diesen Kampf verloren, den du mir an deiner Seite zu kämpfen nicht erlaubst. Ich habe dich an ein Geschick verloren, dass du nicht bereit bist, mit mir zu teilen. Und mehr als das... für einen Moment kann ich klar und deutlich in dein Herz schauen, und dort finde ich sie... die Frau, die ich nie gesehen habe, es sei denn, in der Veränderung in deinem Gesicht, als ich dich einmal nach der Kette und dem Anhänger um deinen Hals gefragt habe.

„Es ist nur ein Schatten und ein Gedanke, den Ihr liebt. Ich kann Euch nicht geben, was Ihr sucht…”

Ich stehe da, die Arme schlaff an meinen Seiten, mein Gesicht erfroren. Dann, zu meiner Überraschung, kommst du für einen Moment zurück und nimmst eine letztes Mal meine Hände in die deinen. Da ist Traurigkeit in deinem Blick, und tiefes Mitgefühl. Bitte nicht. Ich könnte Gleichgültigkeit von deiner Seite ertragen, Zorn oder selbst Abscheu... aber kein Mitgefühl. Tu mir das nicht an.

„Ich habe Euch Glück gewünscht, seit ich Euch das erste Mal sah.”

Seltsam genug glaube ich dir. Aber es hilft mir nicht. Mein Herz zerspringt dennoch in Stücke.

******

Das nächste Mal, als wir uns wieder begegnen, ist es wieder die Berührung deiner Hände, die ich fühle. Frisches, duftendes Wasser kühlt meine Haut und bannt Fieber und Qual. Ich kann die Augen nicht öffnen, zu lang und mühsam war der Weg zurück in das Leben. Aber selbst so erkenne ich deine Finger, deine Sanftheit und deine stillschweigende Kraft. Als sich meine Augenlider endlich heben, erhasche ich ganz kurz einen Blick auf dein Gesicht, und dann bist du fort... wieder einmal.

Aber Éomer ist da, und ich sehe ihn zum ersten Mal weinen, seit er sechs Jahre alt war, von seinem ersten Pferd fiel und vergaß, dass von uns beiden er der Mann zu sein hatte. Aber dies hier sind Freudentränen, und wir teilen einen kostbaren Augenblick des Glücks. Ich mag verloren sein, aber wenigstens mein geliebter Bruder ist es nicht.

******

Ich erhebe mich mitten in der Nacht und gehe über den Steinfußboden zu dem Bogenfenster hinüber. Sie haben sich um meinen Arm gekümmert, mir die Haut und das Haar gewaschen und mir ein sauberes, weiches Bett gegeben. Aber Frieden geben konnten sie mir nicht. Ich will das Heer sehen, das schon vor Tagen abmarschiert ist, aber die Krieger sind lange fort, und du mit ihnen. Ich werde dich wahrscheinlich nie wiedersehen, und mein Herz ist aus purem Eis. Wenn ich nur fortkönnte von hier... um zu kämpfen, zu töten, meinem Schicksal zu begegnen und endlich zu sterben! Warum hast du mich zurückgerufen?

Ich weiß nicht, warum ich mich herumdrehe, aber in den Schatten außerhalb meines Zimmers sehe ich die Gestalt eines Mannes, der mich schweigend beobachtet. Unsere Augen begegnen sich, und für ein paar Momente sehe ich Erbarmen, sanfte Zuneigung und Zartgefühl. Es fühlt sich an wie ein warmes Herdfeuer inmitten der marmornen Vollkommenheit dieser altehrwürdigen Stadt, und ein Schauder läuft mir das Rückgrat hinunter.

Wieder schaue ich zum Fenster hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Bald muss es Frühling sein... eine plötzliche Sehnsucht regt sich in meiner Seele, nach endlosen, grasigen Ebenen und grün wogenden Hügeln. Wird es jemals wieder einen Ort geben, den ich Heimat nennen kann?

******

Der Mann, den ich in jener Nacht sah, ist Faramir, der Sohn des toten Truchsessen, und nach ein paar Tagen begreife ich, dass er ständig meine Gegenwart sucht. Ich hätte mich abgewendet und ihm bedeutet, mich in Frieden zu lassen, aber da ist ein Schatten meiner eigenen Qual in seinen geduldigen, grauen Augen... er ist von Schicksal ebenso betrogen und beraubt worden wie ich.

Er erinnert mich merkwürdig an dich... beide seid Ihr Abkömmlinge dieser alten Númenorer, von denen selbst in den Adern meiner Mutter noch ein paar Tropfen Blut flossen... und doch ist er völlig anders. Du bist ein Krieger und er ein Gelehrter, obwohl auch seine Hände in vielen Schlachten ein Schwert geführt haben. Während du geschwiegen hast, spricht er und erzählt mir viel... über die Geschichte von Gondor und Minas Tirith, über seine Mutter und über seinen Bruder Boromir, der sein Leben verlor, als er Merry und seinen Vetter beschützte. Selten spricht er von seinem Vater... aber Merry hat mir berichtet, was er von Peregrin gehört hat, und jetzt verstehe ich die Dunkelheit auf seinem Gesicht, die lange Stille zwischen seinen Worten und den schmerzvollen Ausdruck in seinen Augen.

*****

Und jetzt stehen wir gemeinsam vor dem Fenster, und ich spüre die alte Furcht in meinem Herzen, ein beängstigendes Echo des Traumes, von dem ich dir erzählt habe, und dieses Mal bin ich nicht allein gelassen. Die Stimme, die zu mir spricht, offenbart mir den selben Traum; sie bringt wahren Trost und ich erkenne das Gefühl, das mir entgegen gebracht wird, als das, was es ist... tiefe, überwältigende Liebe. Mein Herz möchte ihm die Antwort geben, die er verdient. Ich spüre, wie das Eis in mir schmilzt. und ich lege meinen Kopf an seine Schulter. Warme Finger schließen sich um meine suchende Hand.

Der Traum ist Wahrheit geworden, und dieser Mann ist kein Schatten.

Er ist Wirklichkeit. Und mehr als das - ich glaube, er könnte meine Heimat sein.


ENDE


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