Stern des Meeres (Star of the Sea)
von Diamond of Long Cleve, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 4
Frodos Traum

Er lag lustlos auf seinem Bett und starrte zur Decke.

Er konnte das nicht ertragen. Er konnte das nicht noch einmal erleben, wieder und wieder. Denn er wusste, das Leiden würde wiederkommen. Jeden Oktober, jeden März. Und das war nicht das Schlimmste daran.

Denn er konnte die Stärke aufbringen, auf der schrecklichen Welle der Erinnerung dahinzutreiben. Auf grimmige Weise wollte er sich an jedes einzelne Detail erinnern, so gut er konnte, damit er es genau im Roten Buch aufzeichnen konnte. Die Leute mussten es wissen. Sie mussten wissen, wovor ihr geliebtes Land bewahrt worden war.

Frodo starrte zur Decke hinauf, ohne zu blinzeln. Nein, sich zu erinnern war nicht das Schlimmste daran. Das Schlimmste war das, was nach jedem Alptraum folgte. Nachdem seine Seele gereinigt war von jeder furchtbaren Erinnerung, nachdem sein Körper jede Verwundung noch einmal erlebt hatte... selbst, als die scheußlichen Erinnerungen verblassten und die Furcht zu einem dumpfen Schmerz in seinem Herzen wurde, fühlte er die graue Leere vor sich gähnen wie einen Abgrund. Ein graues Nichts. Ein Nicht-Fühlen. Und dies war das Schlimmste von allem. Es war schlimmer, als der pochende, übelkeitserregende Schmerz von Kankras Biss. Es war schlimmer, als sich an diese heißen, ekelhaften Orkklauen zu erinnern, die über seinen Körper ausschwärmten, als die abstoßende Gewissheit, dass er nicht mehr war als ein Stück Beute.

Es war sogar noch schlimmer als der Schmerz vom 6. Oktober, als die entsetzliche Erinnerung an die Bösartigkeit des Hexenkönigs und das Grauen der Geisterwelt ihn verschlungen hatte. Es war schlimmer als die letzten, wenigen furchtbaren Augenblicke auf dem Schicksalsberg, an die er sich nur noch ungenau erinnern konnte; Sam hatte ihm mit einer leisen, behutsamen Stimme den genauen Ablauf der Ereignisse erzählt. Es war – wenn das denn möglich war - sogar schlimmer als das suchende Auge von Sauron, dessen er vollkommen gewahr geworden war, als er den Ring für sich selbst beansprucht und auf seinen Finger gesteckt hatte, ohne zu wissen, was er tat --- daran erinnerte er sich (wenn auch schwach), und er konnte sich den versengenden Hass, die Wut und Verzweiflung des Dunklen Herrschers ins Gedächtnis rufen, aber viel mehr wusste er nicht mehr, denn er war eins geworden mit dem Ring, und der Ring war ein Teil von ihm geworden, und beide waren sie ein Teil von Sauron gewesen.

All diese Dinge waren höllisch, aber das Nicht-Fühlen war das Schlimmste von allen.

„Messer, Stachel und Zahn haben mich verwundet, und die Bürde hat mich erschöpft. Wo soll ich Ruhe finden?“ hatte er Gandalf gegenüber ausgerufen.

Und Gandalf hatte nichts gesagt, aber er hatte sich zu ihm umgedreht und ihn unverwandt angesehen, mit Erbarmen und Verständnis in seinen tiefen Augen. Augen, die hinter die entferntesten Horizonte blickten... Augen, die sahen, was jenseits der See lag.

Gandalfs Gedanken hatten behutsam in seinen Geist hinein gesprochen.

„Du kennst die Antwort, Ringträger.“

Nein, hatte Frodo gedacht. Nein, ich bin nicht bereit, zu gehen. Ich bin nicht bereit, zum Meer zu gehen. Lass mich zuerst heimkehren. Gib mir Zeit!

Er warf sich ruhelos in seinem Bett hin und her. Es war zwei Uhr nachts, und er konnte nicht schlafen. Die trostlosen Stunden erstreckten sich gähnend leer vor ihm.

Seine Finger tasteten nach Arwens Juwel, das mitsamt seiner silbernen Kette auf seiner Brust lag. Ein mattes Licht glühte darin; es flutete zwischen seinen Fingern hindurch, als er sie über den kühlen weißen Edelstein gleiten ließ. Er schloss die Augen und atmete tief. Den Juwel zu berühren, hatte eine beruhigende Wirkung. Als er die Qual von Cirith Ungol noch einmal durchlebt hatte und den furchtbaren Schock, als er herausfand, dass der Ring fort war, da hatte er sich unbewusst an Arwens Edelstein geklammert... und sein hämmernder Herzschlag hatte sich langsam beruhigt, und sein keuchendes Stöhnen hatte nachgelassen, und schließlich lag er still und schlaff auf seinem Bett.

Aber es war noch nicht vorüber.

Denn der graue Abgrund gähnte vor ihm. Wo nichts mehr zählte. Dies war, was der Ring einem antat... er rief einen in die Geisterwelt und saugte einem das Leben aus. Auf dass alles, was man begehrte, Er war. Er hatte Gollum ausgedörrt und ihn als armseligen, jämmerlichen Schemen zurückgelassen. Und nun, da Er dahingegangen war, konnte Seine Wirkung nicht ungeschehen gemacht werden. Dass Frodo von etwas verfolgt wurde, das es gar nicht mehr gab, war Sein letzter Triumph. Etwas vom Ringträger war mit Ihm gestorben, denn ein Teil von ihm war mit Ihm verschmolzen, und in diesem peinigenden Wissen lag seine bitterste Schande. Denn seine Seele war von etwas verführt worden, das die Essenz von Sauron, dem Verderber gewesen war... Sauron, der sich nun von Schatten nährte und durch das Nichts kroch.

Durch das Nichts wandern... Er mochte genauso gut ebenfalls dort sein. Eine zermalmende Verzweiflung erfüllte ihn. Seit Monaten war das jetzt so gewesen: zuweilen schwand all die Freude und alles Vergnügen aus dem Leben, so dass er nichts mehr fühlen konnte. Selbstverständlich hatte es Atempausen gegeben. Gesegnete Augenblicke, heilende Augenblicke. Das Aufblühen des Mallornbaumes auf der Festwiese, Sams und Rosies Hochzeit, Merrys und Pippins prachtvolle Feste, die Freundlichkeit und Besorgnis seiner Freunde, Nachrichten von dem König und der Königin aus Minas Tirith und von Herrn Faramir in Ithilien, selbst ein hilfreiches Gespräch mit Paladin, Pippins Vater... aber langsam, langsam hatte er das Gefühl, als würde alles in ihm zu Asche. Der Schmerz war dieser grauenvollen Leere vorzuziehen. Der Schmerz half ihm wenigstens dabei, das Buch zu schreiben. Aber die Leere war unerträglich.

Tränen stiegen ihm in die Augen.

„Hilf mir, Herrin.“ flüsterte er in das Dunkel hinein, während seine Finger verzweifelt Arwens Juwel liebkosten.

Arwen. Eines Tages würde auch sie der Dunkelheit ins Auge sehen. Sie konnte nicht in den Westen gehen. Sie hatte ihr Erbteil am Segensreich aufgegeben, um des Königs willen, den sie liebte. Sie hatte gedacht, dass es den Preis wert war. Ihr Geschenk an ihn, begriff Frodo, war das Geschenk der Hoffnung. Er musste nicht in Mittelerde bleiben und auf diese Weise leiden. Sarumans zuletzt abgeschossener Pfeil – „Erwarte nicht, dass ich dir Gesundheit und ein langes Leben wünsche. Beides wird dir nicht vergönnt sein!“ – war bösartig, aber er musste nicht Wahrheit werden.

„Was soll ich tun?“ flüsterte Frodo in die Finsternis. „Arwen. Galadriel. Sagt es mir.“

Er schloss die Augen.

Bitte, Herrin. Sag mir, was ich tun soll.

Worte formten sich lautlos auf seinen Lippen, während er Arwens Juwel zwischen den Fingern hielt.

A Elbereth Gilthoniel … silivren penna míriel … o menel aglar elenath … von baumbeschatteten, sterblichen Landen schaue ich auf zu dir … Schneeweiß, o Herrin rein… ich rufe zu dir von jenseits des großen Meeres.

Ein Wind ging draußen in den Bäumen. Er klang wie die See. Er konnte die See beinahe hören, den Klang von Ebbe und Flut am Rande seines Bewusstseins.

Als er fortfuhr, die alten elbischen Worte zu flüstern, hatte er plötzlich das Gefühl, als würde eine sanfte Hand über sein Haar streichen.

Frodo riss die Augen auf.

Er setzte sich auf und spürte den heftigen Herzschlag in seiner Brust. Er starrte im Schlafzimmer umher, das dunkel war in der mondlosen Nacht. Es war niemand da.

„Sam?“ sagte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Die Erinnerung an Sams Arme war es, die ihn aus der Dunkelheit von Cirith Ungol gezogen hatte, und wenigstens das war ein Trost gewesen. Aber er wusste, dass es nicht Sam war, der kam, um ihn während eines Alptraumes zu trösten und ihm etwas zu trinken auf den Nachttisch zu stellen.

Es hatte sich eher angefühlt wie die Hand einer Frau. Aber nicht die einer Hobbit-Frau.

Frodo legte sich zurück. Alles war völlig still. Es war diese tote Zeit, die Stunden vor der Dämmerung, wenn die Welt in tiefem Schlaf liegt. Keine Hunde, die in der Ferne bellten. Keine Hähne, die krähten. Keine singenden Vögel. Es war eine achtsame, hellwache Stille, und er war das am meisten wache Geschöpf darin.

Er presste seine Lippen auf Arwens Juwel. Langsam und süß strömte eine Gegenwart in sein Zimmer, das ihm nur ein paar Augenblicke zuvor so kalt, dunkel und leer erschienen war. Eine warme Gegenwart, von der er nichts als Wohlwollen spürte.

Frodos Kopf fiel zurück in sein Kissen. Sein Körper bog sich und er atmete tief. Oh... es war, als ob all seine überlasteten Muskeln sich entspannten. Und wieder meinte er, dass diese schlanke, weibliche Hand seine Stirn liebkoste, wie eine Erinnerung an seine Mutter, vor langer Zeit.

Kannst du nicht schlafen, kleiner elbenäugiger Sohn? Immer so hellwach! Still jetzt. Ich werde dir eine Geschichte erzählen, ein Märchen aus sehr alten Zeiten, genau wie dein Onkel Bilbo es macht.

„Erzähl es mir“, sagte Frodo laut in der Dunkelheit. „Zeig es mir!“

Wenn deine alten Wunden dich quälen und die Erinnerung an deine Bürde schwer auf dir lastet, dann kannst du in den Westen fahren, wo du von all deinen Gebrechen und von deiner Müdigkeit geheilt wirst.

Denn etwa zu dieser Jahreszeit, wenn die Blätter sich golden färben, ehe sie fallen, kannst du Bilbo in den Wäldern des Auenlandes erwarten. Ich werde bei ihm sein.

„Ja“, sagte Frodo, „aber wann? Bitte... sag mir, wann.“

Wieder schloss er die Augen. Sein ganzer Körper war voller Erwartung, ohne zu wissen, auf was.

Und dann kam der Traum. Hinterher konnte er sich nicht erinnern, ob er tatsächlich geschlafen hatte. Nicht, dass es wirklich darauf ankam.

Er schaute hinaus auf eine dunkle, glitzernde See, die sich im Mondlicht hob und senkte. Ein Licht wuchs am Horizont, das kein Mondlicht war. Das Licht floss hinaus und schmolz zu einem fremdartigen Bild zusammen, als sei ein Stern zerborsten. Es flackerte und blitzte, bis es die Gestalt einer Frau annahm, groß wie ein Berg, von Sternen gekrönt, ihr Haar ein wolkiger Schleier, der über den Nachthimmel strömte. Sterne funkelten in ihrer Krone, Sternenlicht erfüllte ihre Augen und ihre gesamte Erscheinung leuchtete silberglänzend in den Tiefen der Nacht. Wolken trieben um ihren Kopf und die mitternächtliche See brach sich am Fuß eines riesigen, eisgekrönten Berges, der sich hinter ihr abzeichnete. Edelsteine blitzten auf in der Brandung.

Frodo konnte nur zu ihr aufschauen, vollkommen gebannt, seine Augen so erfüllt von Licht und Schönheit, dass es ihm unmöglich war, zu sprechen oder gar zu denken. Er wollte nichts, als zu dieser großen Herrin des Berges aufzublicken, dieser Herrin der Sterne und Wolken. Er wollte in ihr aufgehen, um auf ewig ihr stilles Lied zu hören und den ewigen Fluten von Arda zu lauschen, die in seinen Geist fielen. Sternenlicht strömte aus ihren Haaren und ergoss sich aus ihren erhobenen Händen. Dann wusste er, dass die Herrin gesprochen hatte, und dass auf ihr Wort hin die Gestirne Gestalt annahmen.

Ihr Gesicht war zu sehr voller Licht, als dass er direkt hineinsehen konnte, und doch wusste er, wer sie war. Sie war Galadriel, voller Macht und Schönheit, in deren Augen sich die Weisheit von Zeitaltern fand. Sie war Arwen, deren sanfter, mitternachtsblauer Blick ihn doch erforschte. Sie war seine Mutter, mit hellblauen Augen und hellbraunem Haar – das Licht blendete ihn, aber er erkannte die Süße ihres Gesichtes wieder. Und doch war die Herrin keine von ihnen, und mehr als jede einzelne von ihnen... aber er wusste jenseits aller Zweifel, dass sie die Quelle war von Licht und Liebe und Heilung. Und er wusste, dass er über das Meer segeln und sie finden wollte... um vielleicht sogar den Weg zu diesem weißen Berg einzuschlagen, um zu seinem Gipfel aufzuschauen, der in Wolken gehüllt war und gebadet wurde im Licht der Sterne von Varda.

Das sanfte Licht durchfloss und reinigte ihn, und es war, als würde er von einem Strom aus Sternenlicht überspült und ginge darin unter.

Und dann, endlich, fiel der Ringträger in Schlaf. Schlaf stahl sich süß durch seine Venen, lullte ihn ein und wiegte ihn, als triebe er in der Tiefe einer Sommernacht auf einem warmen Ozean.

Tiefer und tiefer versank er im Schlummer.

Und noch immer bewegten sich lautlos seine Lippen.

A Elbereth Gilthoniel.


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