Tüften und Thymian
von Cúthalion

Für Rabidsamfan, von ganzem Herzen

Juni 1429

Lily Stolzfuß, die Hebamme von Hobbingen, schloss die Tür hinter sich und schnitt damit die verstörenden Geräusche in dem Zimmer ab, das zu betreten Rosie ihrem Mann seit Stunden verbot. Er sah nicht einmal einen Hauch von dem Bett, wo seine Frau gerade ihr fünftes Kind zur Welt brachte (Pippin, wenn die Herrin sie mit einem Sohn segnete, Pimpernelle, wenn es ein Mädchen war). Sie sah, dass er im Korridor stand, bemerkte seinen elenden, ängstlichen Gesichtsausdruck und lächelte ihn an.

„Die Wehen haben nachgelassen, und Rosie ruht sich gerade ein bisschen aus, Sam,“ sagte sie. „Das Baby lässt sich Zeit, aber sein Herz schlägt so kräftig wie eine Trommel. Hab keine Angst. Alles läuft ganz wunderbar.“

„Aber... warum will sie mich denn dann nicht dabei haben?“ platzte er heraus. „Ich bin doch immer bei ihr gewesen; als Ellyelle geboren wurde, als Klein Frodo kam und Klein Rosie, und ich habe bei der Geburt von Merry geholfen; der ist mir in die Hände gerutscht wie ein kleiner Aal, während wir noch darauf gewartet haben, dass du kommst! Ich hab das schon früher gemacht!“

„Jedes Baby ist anders,“ sagte Lily, „genau wie jede Geburt. Aber innerhalb der nächsten zwei Stunden wirst du wieder Vater, Samweis Gamdschie. Vielleicht solltest du in die Küche gehen und etwas zu Essen für Rosie machen; sie wird hungrig sein, wenn dein Jüngstes erst mal da ist.“

Und mit diesen Worten öffnete sie wieder die Tür zum Schlafzimmer; er hörte einen gedämpften Aufschrei aus der Richtung des Bettes und machte instinktiv einen Schritt vorwärts. Aber sie lächelte nur beruhigend und schloss ihn aus, bevor er sich an ihr vorbei drängeln und hinein gelangen konnte.

Er brachte fünf weitere, unbehagliche Minuten damit zu, im Korridor zu stehen und ängstlich auf jedes Geräusch zu warten, das vielleicht das dicke Eichenholz vor ihm durchdrang, dann drehte er sich mit einem Seufzer um und machte sich gehorsam auf den Weg in die Küche.

Die Sonne erhellte die dunklen Deckenbalken und ließ die Kupfertöpfe an der Wand und auf dem Herdrost aufleuchten. Der Küchentisch stand voll mit den Zutaten für das Mittagessen, das Rosie gerade vorbereitet hatte, als ihr plötzlich klar wurde, dass ihr fünftes Kind kam; geschälte Zwiebeln warteten in einer Schüssel und gepellte Kartoffeln in einer anderen. Auf einer Holzplatte lag ein feines Stück Lammschulter neben einem frisch geschärften Messer; Rosie war gezwungen gewesen, die Arbeit liegen zu lassen, ehe sie das dunkelrote Fleisch in Würfel schneiden konnte.

Sam war ein höchst fähiger Koch, und eine Mahlzeit vorzubereiten hatte stets eine beruhigende Wirkung auf seine Nerven (wie Lily sehr wohl gewusst hatte). Also würfelte er das Fleisch, schnitt die Kartoffeln und Zwiebeln in Scheiben und stellte den alten, geschwärzten Eisenbräter auf das Feuer. Fünf Minuten später war ein Löffel Gänsefett geschmolzen und das Aroma von brutzelndem Lamm kitzelte ihm die Nase. Während er mehrere Schichten von Fleischwürfeln, Kartoffeln und Zwiebeln in den Bräter füllte, stellte er fest, dass er friedlich vor sich hin pfiff. Er erkannte die Melodie – sie gehörte zu einem Lied, das Bell Gamdschie ihm beigebracht hatte, während sie ihm die Hände durch die Aufgabe führte, sein erstes Abendessen zu kochen.

„Tüften und Thymian, Mahl auf dem Herd,
gib ein Glas Wein mit dran, ist Goldes wert...“

Er rührte in der Rinderbrühe, die er zum Aufwärmen in einen Topf neben dem Bräter gestellt hatte und wartete auf die ersten Dampfkringel, ehe er die würzige Flüssigkeit über Fleisch und Gemüse goss. Dann verschloss er den Bräter mit dem schweren Deckel und kehrte zum Tisch zurück. Irgend etwas fehlte – aber was?

Er schaute sich um, und dann fiel es ihm ein. Thymian... Rosie hatte den Thymian vergessen. Rosie vergaß den Thymian jedes Mal, und in acht Jahren Ehe war es üblich geworden, dass er die frischen Kräuter für diesen speziellen Eintopf beisteuerte. Er nahm ein Körbchen vom Hocker neben dem Kamin und ging durch die Hintertür nach draußen.

Rosies Küchengarten grüßte ihn; Salbei, Rosmarin und Petersilie träumten im warmen Nachmittagsdunst, und am hinteren Ende füllte Thymian die Luft mit seinem starken, balsamischen Duft. Innerhalb der nächsten paar Wochen würde er die typischen, weißen Blüten entwickeln und sie würden andere Kräuter benutzen müssen, um ihr Essen zu würzen, aber jetzt konnte er die graugrünen Blätter noch immer in seinen Korb streifen. Er kauerte neben dem Beet, umgeben vom üppigen Geruch sonnenwarmer Erde und dem Aroma, das von seinen Handflächen aufstieg... und plötzlich verspürte er ein inneres Gefühl des Trostes, so tief, erfüllend und bittersüß, dass er nach dem zerknitterten Tuch in seiner Hosentasche tasten musste. Er putzte sich die Nase, trocknete sich die Augen und stand auf.

„Sam, du bist eine dusselige Heulsuse,“ schalt er sich selbst, als er in die Küche zurückkehrte. Er schnitt den Thymian in feine Streifen, streute ihn in den Topf und atmete den herzerwärmenden Geruch von siedendem Fleisch, Kräutern und Gemüse ein. Er wischte den Tisch, spülte die Schüsseln, Messer und Töpfe ab, und als er fertig war, schickte die Sonne warmes, rotgoldenes Licht durch das runde Fenster.

Er schlich sich hinaus in den Korridor und stand wieder vor der Schlafzimmertür. Es war völlig still; er biss sich auf die Lippen, presste ein Ohr gegen das Holz und lauschte mit angehaltenem Atem. Drinnen plätscherte Wasser und dann kam ein langes, leises Stöhnen – und Lilys Stimme: „Sehr gut, Rosie... komm, noch einmal, du machst das großartig.“ Sams Herz tat einen Satz, aber er wagte es noch immer nicht, die Tür zu öffnen. Statt dessen ging er in die Küche zurück, für den Augenblick unsicher, was er mit seinen Händen anfangen sollte... aber dann fiel sein Blick au eine Schüssel mit den ersten Birnen, die auf dem Fensterbrett stand. Nachdem der Eintopf (der jetzt beinahe fertig war) so viel für seine innere Ausgeglichenheit getan hatte, entschied er, dass er genauso gut einen Kuchen backen konnte, um das Essen für die junge Mutter mit einem anständigen, süßen Nachtisch zu krönen. Er schälte und schnitt das Obst und knetete emsig den Teig; er hatte gerade die Kuchenform gefüllt und wollte die Streusel vorbereiten, als die Stille zu einem jähen Ende kam – durch das Geräusch einer kleinen Stimme, erst nicht mehr als ein leises Quäken, das lauter wurde und sich endlich zu einem herzhaften Geschrei entwickelte.

Sam ließ den Mehltopf fallen; eine feine Wolke erhob sich rings um seinen Kopf und brachte ihn zum Niesen. Er wischte sich hastig die Hände an der Hose, nahm die Schürze ab und warf sie beiseite. Einen Augenblick später platzte er atemlos und zitternd ins Schlafzimmer.

Ein wundervoller Anblick begrüßte ihn; seine Frau lag auf dem Bett, gegen einen Stapel Kissen gestützt. Sie hielt ein kleines Bündel fest. Lily stand neben ihr, ein Lächeln in den Augen.

„Sag dem kleinen Pippin guten Tag,“ sagte sie.

Sam trat vor; der nächste Tränenschwall ließ seine Sicht verschwimmen. Er sah, dass Rosie ihm die Hand entgegenstreckte und klammerte sich daran fest wie an einem Anker auf hoher See. Dann setzte er sich auf die Bettkante, wischte sich einmal mehr Augen und Nase und bestaunte ein kleines, rundes Gesicht, blütenblattzarte Lippen und einen dunklen, daunenweichen Haarschopf. Er küsste seine Frau auf die schweißfeuchte Stirn und zog sie und das Baby in seine Arme; dann schloss er in vollkommener Glückseligkeit die Augen.

Als er wieder imstande war, sinnvolle Worte von sich zu geben, sah er Lily an, die saubere Handtücher zusammenfaltete und benutzte in einen großen Wäschekorb stopfte.

„Danke,“ sagte er, „ich bin froh, dass du hier warst.“

„Dank nicht mir,“ erwiderte sie, das heimliche Lächeln noch immer gegenwärtig und sichtbar. „Deine Rosie hat die ganze Arbeit getan. – Aber was hast du gemacht? Du hast einen Duft aus der Küche mitgebracht, von dem mir das Wasser im Mund zusammenläuft.“

„Einen Eintopf.“ Sam küsste Rosie auf die Wange, dann berührte er die winzige Faust seines jüngsten Sohnes mit der Fingerspitze; die vollkommene kleine Hand öffnete sich und schloss sich mit erstaunlicher Kraft um seinen Daumen. „Oh---“ Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Und ich hab damit angefangen, einen Birnenkuchen zu backen! Bloß – ich hab die Streusel vergessen, und der Ofen muss angefeuert werden, und...“

Lily gluckste leise.

„Du kümmerst dich um deine Frau und dein Baby,“ sagte sie, „und ich kümmere mich um den Kuchen.“ Jetzt stand sie neben dem Bett. Mit einer Hand fühlte sie sachte und unauffällig Rosies Puls (sie war bereits dabei, einzuschlafen, an die Schulter ihres Mannes gelehnt). Mit der anderen nahm sie einen Schürzenzipfel und wischte Sam über die Stirn.

„Mehl,“ flüsterte sie ihm ins Ohr, und dann spürte er, wie ihre Lippen über seine Schläfe streiften. „Glückwunsch, mein lieber Sam... zu deiner Küche und zu deinem Sohn. Ich stelle den Kuchen in den Ofen, dann komme ich ein bisschen später wieder und bringe euch das Abendessen.“

Sie ging zur Tür und machte sie auf. Eine Wolke köstlicher Wohlgerüche kam hereingeweht, während sie hinausging, und Rosie regte sich in seinen Armen.

„Hmmm... was ist das?“ murmelte sie schläfrig. „Hast du was gekocht?“

„Ja, mein Mädchen,“ wisperte er. „Ich hab den Eintopf für dich fertig gemacht.“

„Wundervoll...“ Rosie gähnte. „Ich bin sicher, ich werde großen Hunger haben... später.“

„Nimm dir alle Zeit, die du brauchst,“ Sam drückte die Lippen in die zerrauften Locken unter seinem Kinn. „Du warst heute ziemlich... beschäftigt.“

Er hielt sie und das schlummernde Baby ein wenig fester und lehnte sich gegen das Kopfende. Seine Rosie ging es gut, das Baby war gesund und schön und ein wenig später würden sie diesen wahrhaft aufregenden Tag mit einem leckeren Eintopf und einem köstlichen Kuchen beenden.

Ich bin ein gesegneter Hobbit, dachte er glücklich, sein Geist benebelt von Erschöpfung und einer bodenlosen Erleichterung, ein gesegneter Hobbit, aber wirklich.

Schlaf begann ihn einzuhüllen wie eine dunkle, warme Decke, und endlich fielen ihm die Augen zu.


ENDE


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