Über das Wasser (Across the waters)
von oselle, übersetzt von Cúthalion


5. Kapitel
Die Flut

Wasser.

„Nimm ein bisschen Wasser, Herr Frodo... komm schon.“ sagte Sam.

Sie waren den Orktrupp entkommen und die Kompanie hatte sich weiterbewegt, ohne sie noch einmal zu bemerken. Frodo hatte sich niedergeworfen, sobald die Luft rein gewesen war und seitdem hatten sie sich nicht mehr gerührt. Beim Klang von Sam Stimme versuchte er, sich umzudrehen, damit er trinken konnte, und er merkte, dass er nicht einmal mehr diese kleine Anstrengung aufbrachte. Der Gewaltmarsch hatte ihn seine letzte Kraft gekostet, und er lag auf der Erde, wo er hingefallen war, zitternd vor Erschöpfung. Frodo spürte Sams Hände, die ihn unter die Arme fassten und ihn sanft in eine sitzende Stellung aufrichteten. Er umklammerte Sams Arm und stöhnte, als die Benommenheit ihn packte.

„Ich weiß, ich weiß.“ flüsterte Sam tröstend, aber Frodo konnte die Besorgnis in seiner Stimme hören, und er wusste, dass Sam Angst hatte, sein Herr würde sterben. Ja, Sam, ich sterbe. dachte Frodo. Er fürchtete seinen eigenen Tod nicht. In Wahrheit hätte er ihn auf der Stelle willkommen geheißen, wenn nicht sein Schwur gewesen wäre, die Aufgabe zu vollenden, und sein Entsetzen bei dem Gedanken, Sam allein zu lassen. Seine Treue Sam gegenüber hielt ihn am Leben, weit mehr als die Verpflichtung seiner Aufgabe gegenüber. Sam hatte ihn nicht zum Sterben in dem Turm zurückgelassen, und wenn er irgendwie die Kraft aufbrachte, würde er Sam nicht auf dieser wüsten Ebene zurücklassen.

Sam drückte Frodo an sich und legte einen Arm um seine Brust, während er die Flasche für ihn hielt und ihn trinken ließ. Nach ein paar Schlucken fühlte sich Frodo ein wenig belebt, und er legte seinen Kopf zurück und schloss die Augen. „Jetzt iss etwas, Herr Frodo.“

Frodo war zu sehr am Ende, um hungrig zu sein, aber er war sicher, dass, was immer er auch aß, verschwendet sein würde, weil nichts in seinem Magen blieb. „Nein, Sam, ich kann nicht.“

„Tut mir leid, Herr Frodo, aber das wirst du. Was anderes will ich nicht hören.“

Er hatte nicht die Willenskraft zu streiten. „Also gut, Sam, also gut.“ Er aß die Wegzehrung, die Sam ihm gab und wartete darauf, dass sein ausgehöhlter Magen protestierte, aber er merkte, dass er sie bei sich behalten konnte. Sein Zittern legte sich ein wenig, und er spürte ein unendliches Bedürfnis nach Schlaf.

„Sam, heute nacht wollen wir uns nicht um die Wache kümmern. Es gibt nichts, was wir tun können, außer darauf zu hoffen, dass wir nicht entdeckt werden. Lass uns einfach schlafen.“

„Mein ich auch, Herr Frodo. Ich bin viel zu müde, um Angst zu haben.“

Frodo glitt auf der Stelle in einen Traum hinein; er träumte von seinem Schlafzimmer in Beutelsend, mit seinem tröstlichen Wirrwarr aus Möbeln und Büchern und seinen weißen Vorhängen, die am Fenster flatterten. In seinem Traum war es ein Sommermorgen, und während er im Bett lag, konnte er das Geißblatt im Garten riechen und die Trichterwinde sehen, die sich um den Fensterrahmen rankte. Sein Bett war weich und die Laken berührten kühl und glatt seine Haut.

Was für einen schrecklichen Alptraum ich hatte! dachte er. Glücklicherweise bin ich aufgewacht, bevor er noch schlimmer werden konnte! Er setzte sich auf und schwang seine Beine leicht über die Bettkante. Als er aus dem Fenster schaute, sah er, dass es regnete, ein sanfter Sommerregen, der glitzernden Tau auf den Blumen hinterließ und kristallene Tröpfchen auf der Fensterscheibe. Der Ausblick war so angenehm, dass er beinahe Lust hatte, im Nachthemd hinaus in den Garten zu gehen und über das nasse Gras zu laufen. Statt dessen ging er in die Küche. Sein alter, robuster Teekessel stand auf dem Warmhalterost und er trug ihn zum Ausguss, um ihn zu füllen. Als das Wasser in einem großen, silbrigen Schwall aus der Pumpe schoss, fühlte Frodo plötzlich den Drang, es zu berühren. Er setzte den Teekessel ab und hielt beide Hände darunter. Es war prickelnd kalt. Ohne zu wissen, warum, füllte er seine Hände, spritzte sich Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit den nassen Händen durch das Haar. Er füllte seine Hände noch einmal und nahm einen tiefen Zug von dem kühlen Nass. Er schwang die Pumpe, dann beugte er sich vor, hielt seinen ganzen Kopf unter das strömende Wasser und schnappte nach Luft, als es ihm kalt über den Nacken lief. Ich bin wohl verrückt geworden! dachte er, aber es fühlte sich zu wundervoll an, um sich darum zu kümmern. Er warf den Kopf zurück und lachte, dann schüttelte er sich und Wassertröpfchen fielen ihm aus den Haaren und liefen seinen Rücken und seine Brust hinunter.

Er wachte auf, nach Luft ringend vor Durst. Trotz des Wassers, das Sam ihm gegeben hatte, fühlte er sich so ausgedörrt, dass er glaubte, jeden Moment zu Staub zu zerfallen. Er versuchte verzweifelt, sich an den Traum zu klammern, als ob das bloße Bild von Wasser seinen Durst vermindern könnte. Aber der Traum verblasste, schwand dahin und nahm beides mit sich – die Erinnerung an klares Wasser und den geliebten Anblick seines verlorenen Zuhauses.

Frodo setzte sich auf und legte seinen Kopf in die Hände. Sam schlief neben ihm und Frodo berührte seinen Arm, um sich seiner Gegenwart zu versichern. Er versuchte, seinen Traum zurückzurufen, aber er sah nur den verschwommenen Eindruck seines Zimmers und der Küche in Beutelsend. Wenn in seinem Körper noch genügend Feuchtigkeit gewesen wäre, dann hätte er geweint; so, wie die Dinge lagen, konnte er nur dasitzen, die Hände über den Augen.

Oh, ich möchte nach Hause. dachte er.

„Warum tust du es nicht?“

Was?

„Warum tust du es nicht? Warum gehst du nicht nach Hause, Frodo Beutlin?“

Die Stimme war sanft und angenehm, beruhigend und vernünftig.

Ich kann nicht nach Hause gehen.

„Warum nicht?“

Ich muss diese Aufgabe vollenden.

„Und wer hat dir das erzählt? Gandalf? Die Elben?“Ein leichtes, silbriges Gelächter erklang, wie ein klarer Bach, der über Steine dahinsprudelte. „Warum hörst du auf sie?"

Sie sind weise.

„ Ja, weise. Und doch schicken sie dich, eine kleine schwache Kreatur, in diese Ödnis, um zu tun, was sie nicht vermögen. Erscheint dir das weise?“

Frodo antwortete nicht. Er saß da, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen weit offen in der Finsternis. Verwirrung und Zweifel erfüllten seinen erschöpften Geist.

„Weißt du, warum du hier bist, Frodo?“

Ja. Um den Ring zu zerstören. Um die Welt von Seinem Übel zu befreien. Um Sauron ein Ende zu machen.

Wieder hörte er dieses leichte Gelächter, nur tiefer jetzt und vielleicht nicht ganz so fröhlich. „Aus diesen Gründen haben dich die Elben nicht hergeschickt. Das ist das, was sie dir gesagt haben. Nein, Frodo. Sie wünschen, dass der Ring zerstört wird, um die Herrschaft über Mittelerde zurückzuerlangen. Wie sie sich nach den Tagen ihres Ruhmes zurücksehnen, bevor irgend eine andere Rasse über die Erde wandelte! Sie hassen alle Zweitgeborenen. Sie nennen die Menschen ,Schwächlinge’ und ,Thronräuber’. Die Zwerge sind das ,Krüppelvolk’. Hobbits... sie beachten euch nicht einmal. Nur die Macht des Ringes hat ihre Gier im Zaum gehalten. Wäre der Ring dahin, könnten sie ihre ganze üble Hexenkunst gebrauchen, um alle anderen Rassen unter der Sonne auszulöschen.“

Warum sollten sie dann ausgerechnet mich schicken? Warum sollten sie ihn nicht selbst zerstören?

„Der Ring ist eine solche Bedrohung für sie, dass sie Ihn nicht einmal berühren können. Er ist ihr einziger Widersacher, alles, was zwischen ihnen und ihrem Begehren steht. Es muss sie mit Hass erfüllen, dass Er zu dir gekommen ist! Sie mussten all ihre Täuschungskunst einsetzen, um dich auf diese Fahrt zu schicken! Aber Sam...“

Was ist mit Sam?

„Oh, armer Sam. Er ist ganz und gar unter ihrem Bann. Er ist hier, um sicherzustellen, dass du diese Aufgabe für sie vollendest, selbst wenn sie dich umbringt. Höchstwahrscheinlich wird er dich diesen Berg hinaufschleppen und dich hineinwerfen, mitsamt Ring und allem.“

Nein...

„Ich fürchte doch, Frodo.“

Dann herrschte Schweigen, aber Frodo konnte die Worte immer noch in seinem Inneren hören.

„Frodo, vergiss diesen hoffnungslosen Botengang. Du bist dazu verführt worden, ihn auf dich zu nehmen. Du musst nicht leiden und dein Leben opfern. Du gehörst hier nicht hin.“

Das tue ich nicht! Das tue ich nicht!

„Also willst du nach Hause gehen?“

Oh ja. Ja, das will ich.

Und plötzlich kam sein Traum zu ihm zurück, jede süße Einzelheit, vom Duft des Geißblatts bis zur Glätte der Laken und dem Gefühl des Wassers an seinen Händen. Sein ermatteter Körper schmerzte vor Sehnsucht.

„Natürlich tust du das." Die Stimme war voller Wohlwollen und Gnade.. „Es gibt nur eins, was du tun musst.“

Sag es mir! Sag mir, wie ich nach Hause gehen kann! Bitte! Egal, was es ist!

„Sam wird dich nicht gehen lassen. Du wirst ihn töten müssen.“

Nein... nein! Ich kann mich wegschleichen, während er schläft! Ich muss ihn nicht verletzen!

„Doch, das musst du! Selbst, wenn du dich wegschleichen würdest, würde er dich finden. Meinst du, das würde lange dauern in deinem Zustand? Weit weit, glaubst du, kannst du fortkriechen, bevor er dich erwischt?“

In der Finsternis nickte Frodo langsam. Es war wahr. Er schaute auf Sams schlafende Gestalt und spürte, wie er plötzlich von Bitterkeit überschwemmt wurde. Auf Sam hatte niemand mit dem Messer eingestochen, er war nicht vergiftet worden oder von Orks geschlagen. Niemand hatte ihn gezwungen, das brennende Gewicht des Ringes diese vielen Monate zu tragen. Frodo überlegte, dass er es wahrscheinlich nur ein paar Meter vom Lager weg schaffen würde, bevor Sam – stark, gesund und unbelastet – ihn einholen würde.

„Du kannst immer noch gnädig mit ihm sein. Trag den Ring und er wird dich nicht einmal sehen. Dann schlitzt du ihm die Kehle auf. Es wird schnell gehen. Er wird nicht leiden. Der Ring wird dich beschützen, so lange du Ihn trägst, und du kannst diesen furchtbaren Ort verlassen und nach Hause gehen. Nach Hause, Frodo.“

Dieses Wort beschwor jedes einzelne vorstellbare Bild von Beutelsend und dem Auenland herauf. Wieder sah Frodo Sam an und runzelte die Stirn. Warum hatte Sam ihn bei Elronds Rat nicht aufgehalten? Warum hatte Sam so sehr darauf bestanden, ihn zu begleiten? Warum hatte Sam den Ring in der Höhle der Spinne an sich genommen und ihn für tot liegen gelassen? Warum? All das machte einen schrecklichen Sinn. Frodo spürte, wie jeder einzelne Schmerz in seinem Körper sich verstärkte, von seinen blasenbedeckten, blutigen Füßen bis zu seinen brennenden Augen. Nun wusste er, dass er die Macht besaß, all dies zu beenden und nach Hause zu gehen... alles, was er tun musste, war sich um Sam zu kümmern, der ihn verraten und in diese fürchterliche Wildnis geführt hatte. Er tastete nach dem Ring und umschloss ihn dankbar mit der Handfläche. Mein Freund. dachte er. Mein Schatz.

Langsam und vorsichtig zog er das Orkschwert aus seinem Gürtel. Es war eine plumpe Waffe mit einer kurzen, breiten Klinge, und ihr Gewicht lag angenehm in Frodos Hand. Er beugte sich vor, leicht zitternd in seinem geschwächten Zustand, und musste sich auf dem Boden abstützen. Seine Hand berührte die Wasserflasche, die Sam zuvor an seine Lippen gehalten hatte.

Plötzlich stand vor Frodos innerem Auge das Bild von Sam, wie er ihn nach seinem Zusammenbruch hochgehoben hatte, wie er ihm zu trinken half und sicherging, dass er aß. Er sah nun jeden Moment vor sich, in dem Sam ihn gehalten und überredet hatte, zu trinken und zu essen, wie er ihn in den Armen wiegte, während er schlief oder ihn stützte, wenn er strauchelte. Endlich rief sich Frodo den Moment ins Gedächtnis, als er im Turm die Augen öffnete, nachdem er geglaubt hatte, dass alle Hoffnung verloren sei. Und doch war Sam dagewesen, lieber Sam, der um seinetwillen zurückgekommen war, unter großer Gefahr für sich selbst und für die Aufgabe. Du bist meinetwegen gekommen, hatte Frodo gedacht, und er hatte in Sams Armen gelegen und seine Augen geschlossen, und selbst in diesem üblen Gelass hatte er sich sicher gefühlt und voller Frieden.

Frodo steckte das Schwert in seinen Gürtel zurück. Für einen Augenblick berührte er Sams Hand, dann legte er sich dicht neben ihm nieder.

„Was tust du da?“ fragte die Stimme, und nun erschien sie nicht angenehm oder gnädig.

Heb dich fort und quäl mich nicht länger. antwortete Frodo. Du bist ein Lügner. Du bist die Stimme einer jeden Lüge, die jemals auf Erden ausgesprochen wurde.

„Und du bist ein Narr.“ antwortete die Stimme.

Danach hörte Frodo die Stimme nicht wieder, und er träumte auch nicht mehr von Beutelsend, oder von Wasser, oder von irgend einem anderen angenehmen Bild. Nun erfüllte ein feuriges Rad seinen Schlaf, und es brannte alle Erinnerungen aus seinem Geist. Bald verzehrte es auch seine wachen Stunden, und alles andere verblasste.


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