Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 5
Wanderer zwischen den Welten

Mein Gesicht brannte, und ich musste all meinen Mut zusammennehmen, um Faramir anzusehen, während ich mir mechanisch Grashalme vom Umhang bürstete.

„Es tut mir leid Herr, wirklich.“ sagte ich leise. „Aber ich weiß nicht einmal, wer ich selber bin, und noch viel weniger konnte ich wissen, wer Ihr seid. Und als Ihr mich für einen Jungen gehalten habt...“

„...da hast du mir einfach nicht widersprochen. Ich verstehe.“ Faramir versuchte zu lächeln, aber es gelang nur teilweise. Ich betrachtete ihn, und was ich sah, gefiel mir gar nicht. Er war nicht nur blass; er sah aus wie jemand, der die Grenzen des Erträglichen schon vor langer Zeit erreicht hatte, und der jeden Moment drohte, sie hinter sich zu lassen. Ich dachte an seinen Vater und mir sank das Herz.

„Wir müssen die Männer in die Stadt bringen, Faramir.“ sagte Gandalf. Er sah mich immer noch durchdringend an, und für einen schwindelerregenden Augenblick hatte ich das Gefühl, als schauten diese dunklen, erbarmungslosen Augen geradewegs hinein in meinen Geist. Instinktiv hob ich eine Hand und schüttelte leicht den Kopf; der Blick wurde weniger intensiv und zog sich dann zurück.

Gandalf ließ den Stab sinken und nahm die Zügel.

„Normalerweise führt ein Schlag auf den Kopf dazu, dass man sich an nichts mehr erinnert.“ sagte er nüchtern, und dann, zu Damrod gewandt: „Weißt du, wo in Minas Tirith die Häuser der Heilung sind?“

„Ja, Herr.“ Damrod verbeugte sich leicht.

„Bring das Mädchen dort hin und sag den Heilern, dass sie sie untersuchen sollen. Ich komme in ein paar Stunden nach, wenn ich mit dem Truchsessen gesprochen habe.“

Er wendete Schattenfell und ritt langsam auf das Stadttor in der Ferne zu, Faramir an seiner Seite. Die Männer folgten zu Fuß; das gedämpfte Licht von Gandalfs Stab war wie ein Wegzeichen. Damrod und ich blieben noch einen Moment stehen.

„Ich hoffe, ich habe Euch vorhin nicht wehgetan, Fräulein.“ sagte Damrod nach einigem Zögern verlegen. „Ich habe Euch recht grob angefasst. Ihr müsst entschuldigen, ich wusste ja nicht...“

„Ach, du meine Güte, Damrod!“ platzte ich heraus. „Habt Ihr schon vergessen, dass ich Euch zuerst mit der Nase auf den Boden gedrückt habe, damit dieses ...Ding Euch nicht den Rücken aufschlitzt? Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, ich wäre immer noch ein Junge?“

„Ich fürchte, nein.“ Ein belustigtes Lächeln schlich sich in seine dunkle Stimme und im Halbdunkel sah ich, wie seine Zähne aufblitzten.

„Dann eben nicht.“ Ich grinste ihn an, und mir wurde endlich etwas leichter zumute. „Aber eines sage ich Euch: Fräulein oder nicht, mir tut jeder Knochen im Leibe weh. Mag sein, dass Ihr Euren Fuchs vermisst... ich jedenfalls weine dem Biest keine Träne nach.“

Ein unterdrücktes Glucksen kam aus der Finsternis, dann folgten wir dem Zauberer in die Hauptstadt von Gondor hinein.

*****

Es war ein langer Weg die gewundene Straße hinauf durch Minas Tirith, bis wir die Häuser der Heilung endlich erreicht hatten; sie lagen im sechsten Kreis der Stadt an der Südmauer, dicht unterhalb der eigentlichen Veste, in der die Truchsessen residierten.

Damrod führte mich durch nachtstille Gärten voller Kräuterbeete. Ich roch Minze, Rosmarin und Lavendel; vermutlich bauten die Heiler hier einen Gutteil ihrer eigenen Medizin an. Dann öffnete er eine schwere Holztür mit Eisenbeschlägen und wir standen in einem dämmerigen Vorraum. In Kerzenhaltern an den schlichten, grauen Wänden brannten etwa ein halbes Dutzend Kerzen, und als Damrod die Tür hinter uns zumachte, kam uns ein älterer Mann in einem langen, dunklen Gewand entgegen.

„Was kann ich für Euch tun?“

Damrod überbrachte Gandalfs Auftrag, und bevor ich in ein anderes Zimmer gebracht wurde, um untersucht zu werden, streckte er mir nach kurzem Zögern die Hand hin.

„Lebt wohl, Fräulein.“ sagte er.

„Oh bitte, nicht schon wieder.“ Ich verdrehte die Augen und wurde mit einem belustigten Grinsen belohnt.

Hier, im Licht der Kerzen, konnte ich ihn zum ersten Mal richtig sehen, und mir gefiel, was ich sah. In gewisser Weise ähnelte er Faramir... ein gutes, klares Gesicht mit ausdrucksvollen grauen Augen, und tiefdunkles, leicht gewelltes Haar, das bis auf die Schultern herabfiel. Er war hochgewachsen, aber nicht übermäßig groß, und muskulös wie ein Athlet.

„Wohin geht Ihr jetzt?“ fragte ich. Ich kannte ihn erst ein paar Stunden, aber plötzlich bedauerte ich, ihn möglichweise nicht mehr wiederzusehen.

„Ich werde mich bei den Wachleuten der Veste melden“ sagte er. „Ich glaube nicht, dass wir mit Herrn Faramir wieder nach Ithilien zurückkehren können. Der Herr der Stadt wird entscheiden, wo er uns einsetzt.“

Dann sei Ilúvatar euch allen gnädig. Ich sagte es nicht laut, aber ich dachte mit Schrecken an die sinnlose Verteidigung von Osgiliath, die Faramir auf Befehl von Denethor bevorstand, und ich fröstelte. Damrod musste den Schatten gesehen haben, der über mein Gesicht huschte, und er runzelte die Stirn.

„Was ist denn?“

„Gebt auf Euch acht.“ sagte ich möglichst leichthin und drückte ihm die Hand. „Ich würde Euch gern einmal wiedertreffen.“

Er lächelte und verbeugte sich.

„Ich werde Euch besuchen, wenn ich kann.“ versprach er, drehte sich um und ging. Ich blieb in dem kerzenerleuchteten Raum stehen, starrte auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte und fühlte mich fast so allein gelassen wie damals nach dem Tod meiner Mutter, als mich meine energische Tante in den Zug nach Norden gesetzt hatte.

„Kommt, Fräulein.“

Ich fuhr herum; der Heiler stand immer noch auf der selben Stelle und wartete geduldig.

„Kommt.“ wiederholte er. „Wir wollen sehen, ob wir herausfinden können, was mit Euch passiert ist.“

Das wüsste ich auch gern. dachte ich bedrückt, dann folgte ich ihm.

*****

Ich wurde sehr gründlich untersucht, und obwohl es in den Häusern der Heilung keines der moderneren Instrumente gab, die ich aus zwei Jahren Medizinstudium und aus Arztpraxen kannte, war ich ziemlich beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, als könnte sich ein Kranker, der hier behandelt wurde, glücklich schätzen.

Sie fragten nach Übelkeit und Kopfschmerzen und wollten wissen, ob ich vielleicht doppelt sah; auch überprüften sie jeden Zentimeter meines Kopfes auf Verletzungen und Beulen. Natürlich fanden sie nichts. Geduldig gab ich ihnen immer die selbe Antwort: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern. Der ältere Mann, der mich in Empfang genommen und die Untersuchung auch geleitet hatte, war sichtlich bekümmert.

„Ich wünschte, wir könnten Euch besser helfen, Fräulein.“ sagte er endlich. Immerhin gab er mir eine Arnikasalbe für die blauen Flecken, die ich mir beim Sturz von Damrods Pferd geholt hatte und bot mir ein Zimmer in den Häusern an, da ich buchstäblich nicht wusste, wohin ich sonst hätte gehen sollen. Ich war ihm mehr als dankbar.

Das Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet, aber es hatte ein bequemes Bett. Ich schlüpfte erleichtert aus meinen zerknitterten, verschwitzten Kleidern, betupfte meine Blessuren vorsichtig mit der süßlich duftenden Salbe und zog das weiße Leinennachthemd über den Kopf, das man mir gegeben hatte. Ich kroch unter die sauberen Wolldecken und schlief fast auf der Stelle ein.

Krallen gruben sich in meinen Rücken und rissen mich aus dem feuchten Gras hoch in die Dunkelheit. Ein ohrenbetäubendes Kreischen zerriss mir das Trommelfell, dann löste sich der brutale Griff plötzlich und ich fiel in ein schwarzes Nichts... und fiel... und fiel... und fiel...

Ich schoss im Bett hoch und rang nach Atem; meine Stirn war schweißnass. Auf einem kleinen Tischchen stand ein Öllämpchen als Nachtlicht; die kleine Flamme brannte ruhig und stetig und gab dem Zimmer wenigstens etwas Helligkeit. Alls ich mich zurücksinken ließ und spürte, wie das Zittern allmählich nachließ, klopfte es an der Tür.

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war; meine Uhr war in einer anderen Welt zurückgeblieben, und hier gab es keine. Ich strich mir das feuchte Haar aus dem Gesicht und setzte mich wieder auf.

„Wer ist da?“

„Gandalf. Ich muss mit Euch reden.“

Ich zuckte zusammen. Einen besseren Moment hätte er sich kaum aussuchen können – ich war todmüde, hatte einen erschreckenden Alptraum hinter mir und von meinem Einfallsreichtum war kaum noch etwas übrig. Kein guter Zeitpunkt für phantasievolle Lügengeschichten.

„Ist das wirklich nötig? Kann es nicht bis morgen warten?“

„Kann es nicht. Meine Zeit ist knapp.“

Ich seufzte und rieb mir die Augen.

„Also gut. Kommt herein.“

*****

Er betrat das Zimmer mit einem Kerzenleuchter in der Hand. Die Flammen zuckten, vergoldeten sein eindrucksvolles Gesicht und teilten es in wechselnde Flächen aus Licht und Schatten. Wortlos stellte er den Leuchter auf den Tisch, drehte den Stuhl und setzte sich so hin, dass er mich genau ansehen konnte.

Nervös erwiderte ich seinen Blick, und die dunklen Augen griffen ebenso erbarmungslos zu, wie sie es vor ein paar Stunden vor den Toren von Minas Tirith getan hatten. Ich spürte, wie er meinen Geist erforschte, und diesmal machte ich nicht einmal den Versuch, ihn abzuwehren. Was hätte es auch genützt?

Endlich – nach schier endlosen Augenblicken – gab er mich frei. Ich holte tief und erleichtert Atem und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah er mich immer noch an, mit gerunzelter Stirn und schmal zusammengepressten Lippen, als stünde er vor einem Rätsel, das er nicht erwartet hatte.

„Wer seid Ihr?“ fragte er. Seine Stimme klang müde und heiser. „Und wo kommt Ihr her?“

Ich antwortete nicht. Was sollte ich ihm sagen? Wie sollte ich den verrückten Anachronismus erklären, den meine Gegenwart in Mittelerde bedeutete – nicht nur für ihn, sondern auch für mich? Ganz besonders für mich.

Er beugte sich vor und der einfache Holzstuhl knarrte protestierend.

„Ich weiß, Ihr habt Euer Gedächtnis nicht verloren. Wer oder was Ihr auch immer seid, ich bin sicher, Ihr wisst es genau. Als Ihr nach dem Angriff der Nazgûl mit Faramir gesprochen habt, wart Ihr besorgt – aber nicht wie jemand, der den kaum kennt, um den er sich Sorgen macht. Ich habe in Eurem Geist den Namen seines Vaters gesehen, und ihr habt mit Abscheu und Zorn an ihn gedacht. Ihr kennt Faramir – und Ihr kennt den Truchsess von Gondor. Woher?“

Ich hob hilflos die Hände und ließ sie wieder fallen. „Ich weiß nicht, wie...“ begann ich stockend. „ich weiß nicht, wie ich... wie ich Euch das erklären soll.“

„Versucht es.“

Ich schluckte. Mein Beruf hatte mich den Umgang mit Worten gelehrt, aber jetzt saß ich ihm stumm und ratlos gegenüber.

„Es fing an mit einem Spaziergang.“ sagte ich endlich. „Ich verließ... ich verließ mein Haus, weil ich nicht schlafen konnte und ging durch die Dunkelheit. Als ich müde wurde, wollte ich umkehren... aber dann ist etwas Merkwürdiges mit mir passiert.“

Wieder beugte er sich vor. Seine dunklen Augen waren hellwach und scharf.

„Was?“

„Ich fiel...“ sagte ich zögernd. „Ich fiel, und mir wurde übel und schwindelig. Unter meinen Füßen war nicht mehr der Kiesweg, über den ich gelaufen war, sondern kurzes Gras. Meine eigene Kleidung war verschwunden, und ich trug – das hier.“ Ich deutete auf die Kleidungsstücke, die in einer Ecke auf einem Haken an der Wand hingen und auf das zerknitterte weiße Hemd, das auf dem Boden lag. „Kurz danach begegnete ich Herrn Faramir und seinen Männern. Ich kannte sie nicht und fürchtete mich. Sie hielten mich für einen Jungen und ich ließ sie in dem Glauben. Und...“

Ich stockte wieder. Ein Hauch der entsetzlichen Panik kehrte zu mir zurück, die ich empfunden hatte, als mir plötzlich klar wurde, dass mir meine eigenen Worte fremd in den Ohren klangen. Erneut rieselte mir Eiseskälte über den Rücken.

„Und?“

„Und ich sprach eine Sprache, die ich nicht kannte.“ sagte ich mühsam.

Sekundenlang erhellte sich sein Gesicht, als sei ihm plötzlich etwas klar geworden. Er hob eine Hand und rieb sich nachdenklich das Kinn. Wieder flackerten die Kerzen; das Licht tanzte über den reich bestickten Ärmel seines Gewandes und ließ seinen Bart schimmern.

Dann stellte er mir eine Frage.

„Wisst Ihr, was ein Hobbit ist? Habt Ihr schon jemals etwas von Bilbo Beutlin gehört? Oder vom Auenland?“

Ich traute meinen Ohren nicht. Sekundenlang starrte ich ihn fassungslos an, dann begriff ich, dass er immer noch auf meine Antwort wartete.

„Ja, das habe ich tatsächlich.“ brachte ich endlich mühsam heraus. „Bilbo Beutlin lebte in Hobbingen, in einem Wohnsitz namens Beutelsend. Vor... vor über sechzig Jahren habt Ihr ihn mit einem Trick in eine wahnwitziges Abenteuer gelockt. Er zog mit dreizehn Zwergen zum Einsamen Berg und forderte Smaug, den Drachen heraus. Er fand den Arkenjuwel und fast wäre ein Krieg darum entbrannt. Nach vielen Abenteuern ging er wieder heim, aber er galt seitdem unter seinem Volk als ziemlich seltsam.“

Gandalf schüttelte staunend den Kopf.

„Was wisst Ihr noch?“

Ich suchte seinen Blick und hielt ihn fest.

„Ich weiß, dass er noch etwas anderes gefunden hat als den Arkenjuwel.“ sagte ich leise. „In einer Höhle unter den Nebelbergen, kurz vor einem Rätselspiel mit einem seltsamen, halbblinden Geschöpf... Und ich weiß, dass das Ding, das er fand, ihn beileibe nicht nur unsichtbar gemacht hat. Er hat es sechzig Jahre lang getragen, und es hat ihn künstlich jung erhalten. Es hat ihn viel Kraft gekostet, es endlich freiwillig abzugeben.“

Ich sah, wie sich die Wangenmuskeln des alten Zauberer anspannten. Aber wenn ich eine scharfe Frage erwartet hatte, wurde ich enttäuscht. Als er sprach, redete er nicht mit mit mir, sondern mit sich selbst.

„Also hat er es tatsächlich aufgeschrieben...“ murmelte er. „Aber woher hat er gewusst, dass es der Eine war? Das stellte sich doch erst heraus, nachdem...“

„Wer? Wer hat es aufgeschrieben?“ fragte ich. Mir kam ein ungeheuerlicher Verdacht und ich begriff, dass hier wahrscheinlich das einzige Wesen von Mittelerde saß, das mir helfen konnte, klarzusehen.

Gandalf sah mich an und zögerte. Dann gab er sich einen Ruck.

„Ein Mann.“ sagte er langsam. „Ich bin ihm kurz nach Bilbo’s Abenteuern begegnet. Ich traf ihn an der Brandyweinbrücke und ich war sehr verwundert, denn Menschen kommen selten dort hin, wenn überhaupt – genau wie heute auch. Er bewegte sich durch das Auenland, als wäre er zu Hause, und gleichzeitig, als wanderte er durch einen Traum.“

Er warf mir einen zweifelnden Blick zu, dann fuhr er fort.

„Obwohl er gekleidet war wie ein Händler aus Bree und genauso sprach, wusste ich, dass er hier fremd war - und nicht nur fremd in diesem Teil von Mittelerde, wenn Ihr versteht, was ich meine.“

Zum ersten Mal sah ich ihn an, ohne auf der Hut zu sein, beinahe erleichtert. Es war eine Wohltat, nicht mehr lügen oder auch nur schweigen zu müssen.

„Ich weiß, was Ihr meint.“ sagte ich sanft und spürte, wie sich mein Gesicht in einem Lächeln entspannte. „Er war fremd in Mittelerde... genau wie ich.“

Gandalf lächelte zurück, und für einen Moment sah ich den Mithrandir vor mir, der mit den Hobbits ihre Feste feierte und aufwändige Zauberraketen in den Himmel schoss.

„Wie lange blieb er?“ fragte ich, begierig, mehr zu erfahren.

„Bei ersten Mal fast ein halbes Jahr.“ sagte Gandalf. „Später kam er immer wieder für ein paar Tage oder Wochen. Er war nicht auffällig, aber wir trafen uns immer wieder... so als wüsste er, wo ich zu finden war. Er wanderte lange Strecken und oft ließ ich es zu, dass er mich begleitete. Nach einigem Nachdenken brachte ich ihn vor den Rat. Er wurde befragt und gab ehrlich Auskunft, und er sprach von der Welt, aus der er kam. Er schien über vieles in ihr sehr unglücklich zu sein... er erzählte, sie sei verschmutzt und verdorben. Er sprach auch von einem Krieg, während dem alle seine Freunde in der Schlacht fielen.“

Ich nickte, als ein weiteres Puzzleteilchen seinen Platz fand. „Hat er jemals gesagt, wie es für ihn war, die... die Welten zu wechseln?“ fragte ich zögernd.

Gandalf sah mich neugierig an.

„Ich glaube nicht, dass es ihm Schmerzen bereitet hat oder gar Angst.“ sagte er nach einer kurzen Pause nachdenklich. „Ich hatte eher den Eindruck, dass der Wechsel für ihn so selbstverständlich war wie das Atmen, und dass es ihm sehr leicht fiel, zu kommen oder zu gehen.“

Er hielt inne und nahm mich wieder einmal scharf ins Visier.

„Ihr wisst, von wem ich rede, nicht wahr?“

„Ja, das weiß ich.“ sagte ich. „Er kam allerdings nicht aus meinem Heimatland.“

„Woher kennt Ihr ihn dann?“

Ich seufzte tief. Vor dieser Frage hatte ich mich schon die ganze Zeit gefürchtet... aber er hatte ein Recht auf die Antwort.

„Er schrieb seine Erlebnisse auf.“ erwiderte ich. „Es gibt viele Bücher darüber und jeder, der will, kann sie lesen.“

Verblüfft starrte er mich an.

„Bilbos Erlebnisse sind in Eurer Welt bekannt?“

„Ja, wirklich, und nicht nur die.“ sagte ich. „Aber natürlich halten die Leute sie nur für eine Geschichte. Bilbos Abenteuer hat er niedergeschrieben als Erzählung für Kinder. Und viele Kinder kennen sie und lieben sie sehr.“

„Eine Erzählung für Kinder?“ Gandalf fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. „Mit den Spinnen im Düsterwald... und der Schlacht der fünf Heere? Und mit Smaug?“ Plötzlich lachte er. „Was sind das für Kinder in Eurer Welt? Sie müssen anders sein als die, die ich kenne!“

Ich stimmte in das Gelächter ein. „Wieso das? Erzählen die Mütter den Kindern von Mittelerde keine Gutenachtgeschichten, bei denen die Kleinen sich ängstlich unter der Bettdecke verkriechen?“

„Doch, wahrscheinlich schon.“ gab der Zauberer zu. Er stand auf und hob den Kerzenleuchter hoch. „Ich werde Euch jetzt schlafen lassen. Morgen früh sehen wir uns wieder – bis dahin werde ich mir eine Geschichte ausdenken, die ich dem Herrn der Stadt über Euch erzähle...“

„Um Himmels willen, nur das nicht!“ sagte ich erschrocken.

Er betrachtete mich nachdenklich.

„Wahrscheinlich habt Ihr recht.“ sagte er langsam. „Denethor ist ein sehr misstrauischer Mann.“

Und halb wahnsinnig.

Der Gedanke formte sich, bevor ich ihn unterdrücken konnte; reflexartig legte ich eine Hand vor den Mund. Sein Gesicht war ausdruckslos, und ich konnte seinen Blick nicht deuten.

„Gute Nacht.“ sagte er endlich , wandte sich ab und war schon halb aus der Tür, als ich ihn noch einmal zurückrief.

„Könnt Ihr mir eine Frage beantworten?“

„Was wollt Ihr wissen?“

„Wie hieß er hier? Der Mann aus meiner Welt, meine ich?“

„Er nannte sich selbst den Pengolodh*.“ sagte Gandalf. „ Und er hatte recht damit – er besaß eine erstaunliche Auffassungsgabe und eignete sich Sindarin und Quenya innerhalb kürzester Zeit so gründlich an, dass er beides fließend sprechen konnte. Und er war ein großer Geschichtenerzähler! Ich habe mehr als einmal erlebt, dass er in Wirtshäusern bei einem Krug Bier und einer Pfeife aus dem Stegreif ein Märchen spann, während die Gäste an seinen Lippen hingen. Als er das letzte Mal hier war – vor etwa zehn Jahren – hat ihm Galadriel noch einen anderen Namen gegeben.“

„Welchen?“

Sie hat ihn Sternenstirn genannt.“

Die Tür schloss sich leise, und ich war wieder allein, mit dem schwachen Nachtlicht und mit meinen Gedanken. Ich legte mich hin, konnte aber nicht einschlafen, denn mir wirbelte der Kopf. Ich erinnerte mich staunend an Tolkiens bezaubernde Geschichte über den Bäckerlehrling, der einen silbernen Stern auf der Stirn trug und von einer wundersamen Elbenkönigin den selben Namen bekam**. Ein gelehrter Oxford-Professor, der Semesterarbeiten korrigierte und dann seiner Welt mühelos den Rücken kehrte, um Mittelerde zu durchwandern, pfeiferauchend und Geschichten erzählend, Seite an Seite mit Gandalf... Der Galadriel im Goldenen Wald besuchte und zweifellos von ihr viel über die frühen Zeitalter von Mittelerde erfuhr... Der an seinen Schreibtisch zurückkehrte und schier unglaubliche Wahrheiten in Märchen und Legenden kleidete, um sie überhaupt jemandem mitteilen zu können.

Die Vorstellung raubte mir buchstäblich den Atem. Nichts davon war erfunden. Es war alles wahr.

Aber als ich gegen Morgen endlich in einen unruhigen, leichten Schlaf hinüberdämmerte, war meine wichtigste Frage immer noch nicht beantwortet.

Wieso war ich hier?

*Pengolodh – Sindarin fürSprachkundiger"

** gemeint ist Der Schmied von Großholzingen (siehe Bücherliste)


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