Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Sechs
Ungesehene Warnungen  

Der nächste Morgen dämmerte klar und wolkenlos. Ruta war früh auf und sammelte in ihrem Garten frische Rosenblätter für eine neue Ladung ihrer berühmten Anti-Mehltau-Lösung. Nach einem kurzen Wedeln ihres Zauberstabes kochte ihr Kessel genügend Wasser für ihren Morgenkaffee, und die Kaffeemühle mahlte die dunklen Bohnen geradewegs in den Filter auf der Kanne, während Ruta sorgsam den reinen Alkohol abmaß, den sie brauchte, um die Blütenblätter einzuweichen. Zuweilen fragte sie sich, wie Muggel eigentlich die Zeit fanden, zu tun, was getan werden musste; bis sie die Tonflaschen verkorkt und sie hinunter in den Keller getragen hatte, wo sie für die nächsten zwei Tage ziehen sollten, hatten die Kaffeekanne, ihr Teller und ihre Tasse gemeinsam mit Toast, Butter und Bauernkäse ein säuberliches, kleines Ballett vollführt, und alles, was sie jetzt tun musste, war, sich zum Frühstück hinzusetzen.

Danach benutzte sie einen von Andromedas Lieblingszaubersprüchen und überließ es Tellern und Besteck, sich selbst abzuwaschen, während sie ihre Gartenschürze abnahm, sich an ihrem Schreibtisch niederließ und eine ordentliche Liste aller Aufträge machte, die sie während ihrer Ferien ausgeführt hatte. Eine Lieferung von Astern stand noch aus (zu ihrer heimlichen Erleichterung nicht an Mrs. Carpenter), und so verbrachte sie den Rest des Vormittags in ihren hinteren Garten, ehe sie endlich die Zeit fand, zu überlegen, was sie tragen sollte, während sie Ginny Potter besuchte.

Ruta Lupin war keine Frau, die viel Zeit vor einem Spiegel zubrachte; sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie zuletzt Makeup benutzt hatte, und die Krähenfüße, die sich allmählich um ihre Augen abzeichneten, gehörten nicht zu den Dingen, über die sie sich Sorgen machte. Die Tatsache, dass sie dauernd mit Pflanzen und Erde hantierte, hatte ihre Hände hart werden lassen, und in letzter Zeit hatte sie die ersten silbrigen Strähnen entdeckt, die ihr dichtes, haselnussbraunes Haar durchzogen (einen der wenigen Aspekte ihrer äußerlichen Erscheinung, der ihr wirklich gefiel). Nach einem ersten, anfänglichen Schrecken hatte sie beschlossen, diese eindeutigen Zeichen des nahenden Alters mit Haltung und Humor hinzunehmen.

Jetzt ließ sie ihrem Gesicht die übliche, rasche Behandlung mit einer einfachen Muggel-Babycreme angedeihen, nahm sich etwas länger Zeit, um ihr Haar zu einem schweren Knoten im Nacken aufzustecken, und nach einigem Nachdenken (und der Erinnerung an die Abende, die sie gerade gemeinsam mit Stephen Seeker verbracht hatte, im Hinterkopf) entschied sie sich statt der üblichen Muggelbluse und dem Rock für ein Hexengewand. Immerhin war sie eine Hexe, und heute war sie in Berwick unterwegs. Der Stoff war von einem sanften Taubenblau, und sie stellte fest, dass ihr der Kontrast der Farbe zu ihrer sonnengebräunten Haut gefiel. Als sie ihr Aussehen ein letztes Mal überprüfte, runzelte Ruta beim ungewohnten Anblick ihrer leeren Ohrläppchen die Stirn – und beim Gedanken daran, wo die kleinen, goldenen Ohrringe sich jetzt befanden, musste sie lächeln.

Sie zog das kleine Schmuckkästchen, das sie in ihrem Nachttisch aufbewahrte, aus der Schublade und entdeckte die Staubschicht auf dem Deckel: wann hatte sie sich zuletzt die Mühe gemacht, etwas unter den ziemlich wenigen Gegenständen darin auszuwählen? Dann erinnerte sie sich; das letzte Mal, dass sie eine der festlicheren Halsketten oder Ohrringe getragen hatte, was auf Remus’ Hochzeit gewesen. Acht Jahre eines fast schmucklosen Lebens, dachte sie und fragte sich, was heute wohl in sie gefahren war, während das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. Dann straffte sie den Rücken, öffnete den Deckel und holte zwei kleine, blumenförmige Ohrstecker heraus; die Blütenblätter waren mit Mondstein und Blautopas besetzt. Sie befestigte sie an ihren Ohrläppchen, dann stellte sie das Kästchen in die Schublade zurück und verließ das Schlafzimmer. Ein kurzer, prüfender Blick in die Küche zeigte ihr einen sauber geschrubbten Tisch, eine gereinigte Spüle und alle Teller an ihren Platz.

Das versprach ein schöner Nachmittag zu werden.

Das Fahrrad zu nehmen, während sie das Hexengewand trug, war keine sehr praktische Idee, deshalb entschloss sich Ruta, zur Abwechslung zu apparieren. Mit einem kleinen Knall verschwand sie mitten aus ihrem Wohnzimmer.

Allerdings hielt die Entscheidung, zu apparieren, sie von der Straße fern, und sowohl ihre Liste als auch die Astern hatten sie ziemlich aufgehalten. Sonst wäre sie vielleicht Constabler Bernie Smithers begegnet, dem Auge des Gesetzes von St. Mary Green, der früher an diesem Morgen aus der Richtung von Ezra Donohues Cottage gestolpert kam. Er zitterte von Kopf bis Fuß, seine Uniform war mit Blut bespritzt und mit den nur halb verdauten Überresten seines letzten Sandwiches bekleckert. Sein Gesicht war weiß vor Entsetzen.

*****

Als sie auf der Türschwelle vom Haus der Potters ankam, das sich ganz am Rand von Berwick befand, wurde Ruta von zornigem Babygeschrei begrüßt. Die Tür war nicht verschlossen, also ging sie hinein und folgte dem Lärm, bis sie die frühere Treiberin der Holyhead Harpies gefunden hatte, die Baby James in den Armen hielt. Sein kleines Gesicht war fast so rot wie sein Haar.

Ginny blickte von ihrem übellaunigen Sohn auf und sah sie.

„Hallo, Ruta!“ sagte sie; die Erleichterung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. “Harry hat mir gesagt, dass du heute kommst, aber ich konnte bis jetzt noch nichts vorbereiten… ich kann dir sagen, dieser kleine Schreihals hier hat mich ziemlich auf Trab gehalten.“

„Macht doch nichts,“ erwiderte Ruta heiter. „Ich hab schon gefrühstückt… aber du siehst aus, als wärst du bis jetzt leer ausgegangen.“

„Frühstück…?“ Ginny stöhnte. „Meinst du eine anständige Tasse Tee und Brötchen? Marmelade und Rühreier?“

Klein James suchte sich genau diesen Augenblick aus, um einen weiteren Großangriff auf ihre Ohren zu starten.

„Nein,“ sagte sie und hob die Stimme. „Der einzige hier, der regelmäßig seine Mahlzeiten bekommt, ist unser lauter Nachwuchs. Harry hat dem alten Kreacher erlaubt, ein paar Wochen in dem Haus am Grimmauld Place zu verbringen; du hast nie gesehen, was für ein gruseliger Alptraum dieser Kasten vor zehn Jahren war, aber Kreacher tut gerade sein Bestes, um ihn endlich von einer pompösen Gruft in einen Ort zu verwandeln, wo man tatsächlich leben kann. Er akzeptiert unser Haus hier… aber er hat nie wirklich die Überzeugung überwunden, dass der Mann, der Voldemort besiegt hat, einen Wohnsitz braucht, der ein bisschen… präsentabler ist. Ich vermute mal, er hat das Gefühl, Berwick wäre weit unter seiner Würde… und unter unserer sowieso.“

Sie gab einen erschöpften Seufzer von sich.

„Es ist Tage her, seit ich eine Chance hatte, auch nur die Zeitung zu Gesicht zu kriegen. Harry verschwindet gleich nach dem Frühstück mit dem Tagespropheten, und ich hab mir noch nicht die Mühe gemacht, die Muggelzeitung vom Rasen aufzusammeln. Wieso Harry die eigentlich haben will, wenn er sie sowieso nicht liest, weiß ich auch nicht. Aber jetzt bin ich beinahe verzweifelt genug, es damit zu versuchen. Alles, was ich im Moment zu lesen kriege, sind die Aufkleber von diesen Babykost-Gläschen, die Daddy mir letzte Woche geschickt hat – ein Riesenkarton mit Karottenbrei. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was Mum von seiner Idee gehalten hat, Muggel-Babynahrung an ihrem ersten Enkelkind zu testen – ich bin sicher, er schleicht immer noch auf Zehenspitzen durch den Fuchsbau und versucht, aus der Schusslinie zu bleiben.“

Ihr Lächeln war mehr als nur ein bisschen nostalgisch.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich wünschte, ich hätte ihre Nerven.“

„Und sieben Kinder?“ fragte Ruta und lachte. „ Obwohl selbst deine Mutter immer nur mit einem auf einmal fertig werden musste.“ Sie bemerkte den Schatten, der plötzlich Ginnys Augen verdunkelte und biss ich auf die Lippen, zornig auf sich selbst, weil sie es vergessen hatte. „Abgesehen von den Zwillingen,“ fügte sie verspätet hinzu. „Es tut mir Leid.“

„Schon gut,“ sagte Ginny und schenkte ihr ein bleiches Lächeln. „Manchmal vergesse sogar ich Fred… obwohl ich es immer noch schrecklich schwierig finde zu glauben, dass er fort ist.“

Sie streckte die Hand aus, und ihre Finger streiften in einer flüchtigen Geste von Liebe und Schutz über Jamies Stirn.

„Und wir werden uns alle besser fühlen, sobald diese üblen Milchzähne endlich durch sind. Harry hat Glück, dass man ihn zu einem Treffen der Auroren in London einberufen hat… und Neville ist wahrscheinlich bei Flourish & Blotts abgetaucht, bis über beide Ohren in Büchern über magische Kräuter in der Normandie vergraben. Er ist ganz schön begeistert von seinem neuen Projekt.“

Ruta entschied, dass dies nicht der Tag war, an dem man eine aufmerksame Gastgeberin erwarten sollte; sie machte sich auf den Weg in die Küche, zog den Zauberstab aus Weide aus ihrem Ärmel und öffnete die Tür zur Speisekammer. Fünfzehn Minuten später saß Ginny am Tisch in dem kleinen Esszimmer, die Beine auf einem Hocker, und schlürfte die erste Tasse von einem ausgezeichneten Darjeeling. Eine kleine Schüssel mit Rühreiern und ein Korb mit Toast warteten auf sie, während Ruta in einem Schaukelstuhl am Fenster saß, die Wange des Babys liebkoste und ein Stück Süßholz aus der Tasche zog.

„Hier, Kleiner,“ sagte sie und lächelte, als sich eine kleine Faust um das interessante, neue Ding schloss. „Versuch mal, auf dem hier herum zu kauen… nein, nicht in deine Nase!“ Jetzt fand das Stück Süßholz den Weg zum richtigen Eingang und verschwand teilweise darin, während Ruta noch immer das andere Ende festhielt. Langsam breitete sich ein glückliches Grinsen über Klein Jamies Gesicht aus. „Siehst du? Ich wusste, du würdest es mögen!“

Ginny nahm einen Mund voll Rührei und gab ein Geräusch vollkommener Befriedigung von sich. Sie schluckte und sah ihren Sohn an, der endlich damit aufgehört hatte, sein Unbehagen kundzutun und stattdessen das Süßholz eifrig mit einem zahnlosen Kiefer bearbeitete. „Du hättest schon früher kommen sollen,“ stellte sie fest und langte nach einer knusprigen Toastscheibe. „Das ist meine erste Pause seit Stunden.“

„Wann sind Harry und Neville wieder da?“ fragte Ruta. „Ich könnte Mittagessen machen, wenn du möchtest.“

„Heute Abend,“ sagte Ginny, strich Butter auf den Toast und bediente sich mit einer großzügigen Portion Orangenmarmelade. „Aber ich hätte nichts dagegen, wenn du etwas kochst, ein bisschen später. Ich hab Hühnchenbrust vom Markt, und frischen Spinat.“

„Großartige Idee – autsch!“ Ruta löste vorsichtig den Griff einer molligen Hand von der glitzernden Blüte an ihrem Ohrläppchen. „Mein lieber Junge, ich glaube, du brauchst ein Nickerchen… und wenn nicht du, dann ganz bestimmt deine Mama.“

*****

Zur selben Zeit, als Ginny Potter ein wohlverdientes Nickerchen machte, während Ruta die Spinatblätter dämpfte und Baby James glücklich auf einer Decke in der Küche herumkrabbelte, stand Thomas Grey, Chefredakteur der Eskdale Gazette, hinter seinem Schreibtisch und blickte auf eine Reihe schwarzweißer Ausdrucke von Digitalphotos hinunter. Im Stillen segnete er die Tatsache, dass sie nicht die Originalfarbe zeigten; so kalt und elend hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt.

„Was sagt der Pathologe über die Ursache dieser… dieser Wunden?“ fragte er leise.

„Zähne, und scharfe Krallen. Wer – oder was auch immer – das war, er hat den armen Kerl buchstäblich in Stücke gerissen. Vielleicht auch mit irgendeinem scharfen Werkzeug – eine Gartenharke, möglicherweise. Der Pathologe denkt, dass, was immer es war, Stachel oder Zähne hatte, die wenigstens zehn Zentimeter lang waren.“

Ernie Pembroke, Lokalreporter von St. Mary Green, verspürte einen Schwall schierer Erleichterung, dass er zu spät bei Ezra Donohues Cottage eingetroffen war, um das ganze Ausmaß der Schweinerei zu Gesicht zu bekommen. Die Fotos auf dem Schreibtisch seines Vorgesetzten waren das Ergebnis seiner guten Verbindungen zur Polizei in Keswick, und er wünschte sich immer noch, er hätte sie nicht gesehen. Er war Kriegsberichterstatter in Afghanistan und Israel gewesen, bevor er sich in den schläfrigen Frieden des Dorfes zurückzog, wo er geboren und aufgewachsen war, und selbst die alptraumhaften Erinnerungen an diese grimmigen Zeiten hatten ihn auf so etwas nicht vorbereitet.

„Wir drucken eine Abendausgabe“, entschied Thomas Grey. „Die Leute sollten Bescheid wissen, so schnell wie möglich. Radio Cumbria wird eine halbstündige Warnung ausstrahlen, und die Polizei fährt Streife.“

„Bernie Smithers sagt, dass er in St. Mary Green von Tür zu Tür gehen will, sobald er wieder zurück ist; er will sicher gehen, dass jeder gewarnt ist,“ warf Ernie Pembroke ein. „Gott sei Dank ist das Fernsehteam von BBC Cumbria schon weg, wegen dieser riesigen Massenkarambolage auf der M6. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist irgend so ein übereifriger Reporter-Arsch, der den Leuten ein Mikrofon ins Gesicht hält.“

Die Warnung wurde ausgestrahlt, zur halben und vollen Stunde. Muggelfamilien lauschten der ernsten Stimme, die zwischen Waschmittelwerbung und kitschigen Popsongs schockierende Nachrichten brachte, und sie riefen hastig ihre Kinder herein und schlossen die Türen fest hinter sich.

Andromeda Tonks verließ das Haus und apparierte nach Berwick, wo die alte Mrs. Walburga Warne gerade ein lang erwartetes Paket mit zwei Tee-Services von Millingtons Magischen Porzellan- und Töpferwaren aus London erhalten hatte; sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick auf ihr neuestes Besitztum zu werfen und sagte Teddy, sie wäre innerhalb einer halben Stunde wieder zurück. Sie schärfte ihrem Enkel ein, dass er das Haus nicht verlassen und niemandem die Tür aufmachen durfte. Natürlich brauchte sie ein bisschen mehr als nur eine halbe Stunde, um nach Hause zu kommen. Mrs. Warne ließ ihre eigene, brandneue Teekanne einen feinen Oolong brauen, während die beiden Frauen einer Aufnahme von Celestina Warbecks liebsten Märchenballaden lauschten.

Teddy Lupin lag auf seinem Bett, las ein Kinderbuch über Quidditch und kämpfte gegen die wachsende Verzweiflung über den anhaltenden Ärger seiner Tante an. Als Constabler Bernie Smithers die Kette der Türglocke zog, blickte er noch nicht einmal aus dem Fenster; er war finster entschlossen, Oma Dromedas letzte Anweisung buchstabengetreu zu befolgen, fühlte sich überaus wohlerzogen und entsetzlich missverstanden.

Keiner von ihnen hörte das Muggelprogramm im Radio.

*****

Spät an diesem Nachmittag verabschiedete sich Ruta herzlich von Ginny und apparierte nach St. Mary Green zurück. Der Rest des Abends erstreckte sich frei von allen Pflichten vor ihr; sie stand mitten in ihrem stillen, makellos sauberen Wohnzimmer und fand die Aussicht auf einen allein verbrachten Abend ein wenig deprimierend.

Sie spürte, dass sie lächelte. Eine Woche Schachstunden, jede von ihnen so hart wie dein U.T.Z in Verwandlung… und jetzt fehlen sie dir tatsächlich.

Ruta war sich der Tatsache wohl bewusst, dass diese Stunden – so anstrengend sie auch sein mochten – Seekers Art waren, sie wissen zu lassen, dass ihr verziehen war. Noch immer fand sie es erstaunlich, dass nach Teddys Diebstahl und ihrem eigenen Betrug er derjenige gewesen war, der den ersten Schritt machte – anstatt sich zornig aus der zögerlichen Vertrautheit zurückzuziehen, die sie in diesen wenigen, kurzen Wochen aufgebaut hatten. Sein Hunger nach Freundschaft musste sehr tief gehen, wenn er bereit war, ihr so leicht zu vergeben.

Aber wie stand es mit ihrem eigenen Hunger? Sie war nie beliebt gewesen, nie von einem Rudel bewundernder Schulkameraden umgeben, geschweige denn von irgendwelchen männlichen Schülern. Sie hatte es nie einfach gefunden, feste Freundschaften zu schließen – ihre besten Freunde waren Bücher, ihr bester Verbündeter ihr dauerhaftes Verlangen nach Wissen. Das Geheimnis ihres Cousins und ihre eigene Entschlossenheit, es vor jedem zu verbergen, hatte eine gewisse Isolation nur noch verstärkt… bis sie zuweilen gegen das Gefühl ankämpfen musste, dass sie hinter einer unsichtbaren Wand aus Glas lebte und anderen Jungen und Mädchen in ihrem Alter dabei zusah, wie sie ihre turbulenten Geschicke aufführten wie eine Schauspieltruppe auf einer farbenfrohen Bühne.

Sie lernte, ihre Frustration zu bemeistern, und ihre Schärfe verging mit den Jahren, während es ihr gelang, die alten Gespenster unbequemer Erinnerungen fortzusperren und sich im angenehm organisierte Leben einer selbstgenügsamen, alten Jungfer einzurichten. Der liebenswürdige Kontakt mit ihren Kolleginnen bei Fionnula war zufriedenstellend genug, und Andromeda und Teddy boten den besten Ersatz für eine nahe Familie, den sie sich vorstellen konnte.

Ihr Vater zählte nicht. Sie hatte für ihn gesorgt, nachdem ihre Mutter gestorben war, und ehrlich versucht, die Tochter zu sein, die er haben wollte. Aber nachdem sie einmal beschlossen hatte, ihren eigenen Weg zu gehen, die Stelle in Dover fand und ihn in ihrem kleinen Elternhaus zurück ließ, war die Beziehung zwischen ihnen immer fadenscheiniger geworden. Sie besuchte ihn noch immer an seinem Geburtstag und jedes zweite Weihnachten, und er vergaß nie, ihr ein Geburtstagsgeschenk zu schicken, aber sie war unfähig, eine tiefere Liebe für ihn zu empfinden. Vielleicht war er unglücklich darüber… vielleicht war er enttäuscht. Nun ja… es gab Tage, an denen auch sie enttäuscht war.

Nein. Es war nicht gut, allein daheim zu bleiben. Sie konnte einen Spaziergang machen… apparieren war ja gut und schön, aber sie hatte den größten Teil des Tages im Haus verbracht, in Gesellschaft einer jungen Mutter und eines schlecht gelaunten Babys, und plötzlich hatte sie große Lust auf frische Luft. Ja, ein Spaziergang war eine gute Idee… selbst wenn er nur kurz war und sie geradewegs zu Stephen Seekers Cottage führte.

Sie verließ das Haus, verschloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg die Straße hinunter; sie war nicht sicher, ob sie sich über sich selbst ärgerte oder amüsierte.

*****

Stephen Seeker öffnete ihr fast augenblicklich die Tür.

„Miss Lupin!“ Die bewegliche Augenbraue stieg aufwärts in Richtung Haaransatz. „Ich hatte Sie heute Abend gar nicht erwartet; hatten Sie nicht vorgehabt, Mrs. Potter zu besuchen?“

„Oh, ich habe sie besucht,“ erwiderte sie gelassen, „und es war ein angenehmer Nachmittag. Aber als ich nach Hause kam, ging mir plötzlich auf, dass während der letzten Tage, wann immer wir nicht über Schach geredet haben, es immer Sie gewesen sind, der die Fragen gestellt hat… und ich habe geantwortet.“

„Und Ihre Antworten waren höchst wertvoll,“ sagte er ernsthaft. „Dann nehme ich an, dass Sie nicht wegen einer weiteren Schachstunde gekommen sind?“ Zu ihrer Verblüffung entdeckte sie ein Zwinkern in den schwarzen Augen.

„Sie machen sich über mich lustig,“ stellte sie fest.

„Das würde ich nie wagen.“ Er machte einer seiner kleinen, eleganten Verbeugungen. „Aber ich vermute, dass selbst Ihre Leidensfähigkeit ihre Grenzen hat.“

„Ganz gewiss.“ Ruta grinste. „Aber ich dachte, dass zur Abwechslung vielleicht Sie bereit wären, meine Wissenslücken zu schließen.“

„Indem ich Ihnen was genau erzähle?“

Ihr Blick war klar und geradeheraus. „Indem Sie mir erzählen, wie Sie diesen letzten Angriff überlebt haben… und wie es Ihnen möglich war, aus Ihrem Grab zu entkommen und fast acht Jahre lang unsichtbar zu bleiben.“ Sie zögerte. „Sie müssen es natürlich nicht… aber das ist etwas, was mich schon eine ganze Weile sehr neugierig macht.“

Eine kurze Pause; ängstlich studierte sie sein Gesicht. Wieder einmal dämmerte ihr, wie begrenzt ihr Verständnis war, was das Herz und die Erinnerungen dieses Mannes anging… und es war leicht möglich, dass er sich weigerte, mehr über sich preis zu geben, als sie bereits wusste.

Aber er überraschte sie. Sein Gesicht entspannte sich zu einem langsamen Lächeln.

„Wissen Sie, ich hatte mich schon gefragt, wie lange es wohl dauert, bis Sie den Mut aufbringen würden, danach zu fragen.“ Er trat zurück. „Kommen Sie herein.“

*****

„Was wollen Sie wissen?“

Ruta saß in Seekers Wohnzimmer, diesmal in einem sehr bequemem Ohrensessel gegenüber vom Fenster. Ihr Gastgeber hatte die Vorhänge zugezogen, damit sie nicht von den Strahlen der sinkenden Sonne geblendet wurde. Winky hatte sie mit Begeisterung begrüßt, und mit einem Kaffee, der stark und wunderbar aromatisch war. Das Koffein fühlte sich an wie ein sanfter Schlag gegen ihren Solarplexus.

„Ich weiß nicht, wonach ich zuerst fragen soll“, sagte sie langsam. „Vielleicht ganz einfach nach Ihrem... Ihrem Tod?“ Das Ganze fühlte sich immer unwirklicher an.

„Also…“ Stephen Seeker setzte sich an den Tisch und langte nach der Flasche Wein, die Winky zusammen mit dem Kaffee serviert hatte (und mit einem heimlich missbilligenden Blick in Richtung ihres Herrn, der Ruta zum Lächeln brachte). Er entkorkte sie und goss eine kleine Menge der purpurdunklen Flüssigkeit in sein Glas. Er ließ den Wein im Kelch herumwirbeln, atmete den Duft ein und nahm dann endlich den ersten Schluck. Noch immer folgten ein paar Augenblicke absoluter Stille, bevor er sprach. Sie wartete geduldig, den Blick unverwandt auf das bleiche Gesicht mit den tief verschatteten Augen gerichtet.

„Ich war immer ziemlich sicher gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem der Dunkle Lord es für passend erachtete, sich meiner unbezahlbaren Unterstützung zu entledigen… und so wurde Winky für mich zu einer Art schützendem Schatten; sie trug ständig eine kleine Phiole mit Phönixtränen und ein Fläschchen mit dem Trank der Lebenden Toten bei sich. Und als Voldemort seine Schlange auf mich losließ, kam sie gerade noch rechtzeitig, um den Schaden zu heilen… aber es war knapp. Dass plötzlich Harry Potter auftauchte und mir die Möglichkeit verschaffte, meine Erinnerungen an ihn weiterzugeben, hatte ich nicht erwartet… und es hätte mich fast meiner letzten Chance beraubt, zurückzukommen.“

„Wieso?“

„Weil Naginis Gift sehr stark war… und es hatte mehr Zeit, zu wirken, als ich es geplant hatte. Andererseits wusste der Junge endlich, was zu tun war, er wusste genug über mich, um die richtigen Schlüsse zu ziehen… ganz sicher mehr, als er jemals herausfinden wollte.“

Er warf ihr ein schräges Lächeln zu.

„Ich war schwer verletzt, aber ich hatte genügend Zeit, um mich zu erholen… und der Trank der Lebenden Toten verschaffte mir mehr Schlaf, als ich ihn seit Jahren gehabt hatte. Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass ich in einem großartigen Grab lag – und dass ich obendrein der tragische Held von einem halben Dutzend unglaublich kitschiger Geschichten war. Das fand ich später heraus, als Winky kam, um mich aus meinem kalten Refugium zu befreien.“

Ruta runzelte die Stirn und studierte sein Gesicht.

„Aber… Sie müssen einen Platz gebraucht haben, wo Sie unentdeckt bleiben konnten, nachdem Sie ihrem… kalten Refugium entkommen waren. Ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, wie Winky Sie in irgendeinem geheimen Küchenschrank in Hogwarts versteckt.“ Sie trank den Rest ihres Kaffees; die Gedanken überstürzten sich in ihrem Kopf. „Genauso wenig kann ich mir vorstellen, wie sie geradewegs nach Gringotts hinein marschiert, in ihr Küchentuch gehüllt, und den Wunsch äußert, Severus Snapes Geld abzuheben und sein Konto aufzulösen.“

Er schnaubte hörbar. „Ihre Schlussfolgerungen sind extrem faszinierend, Miss Lupin.“

„Meine Kenntnisse über Zaubertränke – abgesehen von denen, die im Umgang mit Pflanzen hilfreich sind – mögen ein bisschen eingerostet sein, aber so weit ich mich erinnere, hält die Wirkung vom Trank des Lebenden Todes nicht mehr als nur ein paar Tage an. Was bedeutet, dass Sie nicht einfach in der Zaubererwelt herumlaufen und hoffen konnten, nicht erkannt zu werden,“ fuhr Ruta fort; sie erwärmte sich rasch für den intellektuellen Versuch, das komplizierte Muster seiner Pläne zu entwirren. „Natürlich hätten Sie Ihr Konto selbst vorsorglich auflösen und eine ordentliche Menge Vielsafttrank auf Vorrat herstellen können, für alle Fälle… oder Sie wären einfach an irgendeinen weit entfernten Zufluchtsort disappariert.“

„Ziemlich glaubhaft,“ bemerkte er und nippte an seinem Wein; jetzt war er es, der ihr Gesicht musterte. „Tatsächlich habe ich einige Zeit Vielsafttrank benutzt, direkt nach meiner… hm… heimlichen Auferstehung. Aber ich war nicht vorausschauend genug, mein Konto rechtzeitig aufzulösen.“

Er beugte sich vor, und in seinen schwarzen Augen entdeckte sie mehr als eine kleine Herausforderung ihrer Fähigkeiten. „Was glauben Sie, habe ich getan?“

„Sie müssen noch von jemand anderem außer Winky Hilfe gehabt haben, so viel ist klar,“ sagte sie langsam. „Aber wer…? Sie waren nicht gerade berühmt für Ihre Umgänglichkeit, müssen Sie wissen.“ Sie errötete heftig. „Es tut mir Leid, ich wollte nicht…“

Er lachte leise. „Meinen tief empfundenen Dank für Ihre taktvolle Umschreibung der Tatsache, dass es keine vertrauenswürdigen Freunde gab, auf die ich mich hätte verlassen können, Miss Lupin. Aber ja… ich fand tatsächlich Hilfe, und von jemandem, deren Gewissen es sehr erleichterte, dass sie die Gelegenheit hatte, mich für ihr Misstrauen zu entschädigen… und für die niederschmetternde Tatsache, dass sie das letzte Mal, als wir uns über den Weg liefen, versucht hatte, mich umzubringen.“

Er lehnte sich wieder zurück; es war offensichtlich, dass er dieses merkwürdige, kleine Spiel genoss.

„Ihre sehr… Gryffindor-gleiche Vorstellung von Ehre und Wiedergutmachung machte sie zu einer perfekten Komplizin. Und ihre Position als Schulleiterin verschaffte ihr die Möglichkeit, in meiner Angelegenheit großen Einfluss zu nehmen.“

Ruta blinzelte und schnappte scharf nach Luft, als die Stücke des Puzzles plötzlich an ihren Platz fielen. „McGonagall? Minerva McGonagall?“

„Ganz genau.“ Er leerte sein Glas. „Natürlich hatte ich ein paar Schwierigkeiten, sie davon zu überzeugen, dass ich tatsächlich der war, der ich behauptete zu sein. Aber nach den ersten paar Hindernissen - und nachdem sie sich von ihrem ersten, sehr verständlichen Schock erholt hatte – war sie eine große Hilfe.“

Er erhob sich von seinem Stuhl und fing an, langsam im Raum hin und her zu gehen.

„Ich entschied, dass es weise wäre, das Land zu verlassen und eine Weile im Ausland zu bleiben… ganz, wie Sie vermutet hatten.“ Er nickte ihr kurz zu. „Aber ich wollte mir unbedingt die Möglichkeit offen halten, zurückzukommen… und ich wollte meine Tage nicht in der Haut eines anderen zubringen, dauerhaft abhängig von einem Trank, den ich keineswegs stündlich und für den Rest meines Lebens einnehmen wollte. Es war Minerva McGonagall, die ihre eindrucksvollen Verbindungen dazu nutzte, um mich mit dem Geld zu versorgen, das ich noch besaß – und damals war es nicht sehr viel – die mein altes Haus für einen anständigen Preis verkaufte, und die am Ende eine ganz neue Identität für mich erschuf.“

„Wie hat sie das gemacht?“ fragte Ruta fasziniert.

„Minerva McGonagall ist eine sehr mächtige Hexe, Miss Lupin,“ gab er zurück. „Persönlich glaube ich, dass es eine ausgesprochen kluge Mischung aus Magie und Manipulation war. Wenn Sie heutzutage die Jahrbücher von Hogwarts durchsuchen würden, würden Sie die vollständige Schulkarriere eines gewissen Stephen Seeker finden, 1960 in Canterbury geboren und 1978 von der Schule abgegangen. Er erwarb sich Verdienste in mehreren Fächern – ohne allzu sehr aufzufallen – und er verbrachte die nächsten achtzehn Jahre in fremden Ländern, wo er seine Fähigkeiten vervollkommnete und Patente für ein halbes Dutzend seltener Tränke entwickelte, für ungewöhnliche Verwandlungen und gegen ein paar ausgesprochen scheußliche, magische Krankheiten.“

Er bemerkte ihren überraschten Blick.

„Oh – die Patente sind durchaus echt, nur, dass sie nach 1998 angemeldet wurden und nicht davor… etwas, das niemand jemals herausfinden wird, nachdem Minerva die fraglichen Aufzeichnungen sehr glaubwürdig verändert hat. Die Tatsache, dass ich die Reisen, die meiner zweiten Identität zugeschrieben werden, wirklich gemacht habe, hatte die angenehme Nebenwirkung, dass ich die Chance bekam, ein paar überaus erhellende Recherchen in Ländern wie Ägypten, Afrika und dem Fernen Osten zu betreiben… und Stephen Seekers Bankkonto bei Gringotts ist wesentlich befriedigender, als es das von Severus Snape jemals war, glauben Sie mir.“

„Meine Güte!“ Ruta schüttelte in belustigtem Unglauben den Kopf. „Sie haben einfach an alles gedacht, nicht wahr?“

„Danke sehr, Miss Lupin.“ Er machte eine formvollendete, leicht spöttische Verbeugung. „Ich bin sicher, Minerva wird entzückt sein, zu erfahren, dass Sie Ihre Fähigkeiten bewundern.“

*****

Zur selben Zeit fuhr ein Polizeiauto langsam um die Straßenecke. Constabler Bernie Smithers saß vorne auf dem Fahrersitz, ein Jagdgewehr neben sich. Er hatte seine ruinierte Uniform schon vor einer Weile gewechselt, und er hatte die Anweisung, den Leuten mitzuteilen, dass sie unter allen Umständen zu Hause bleiben sollten. Er war allerdings noch nicht so weit gekommen, wie er gehofft hatte… es hatte nicht weniger als sechs Mal falschen Alarm gegeben, von Bauern, die todsicher waren, dass ein geheimnisvolles Monster hinter ihrem Stall lauerte, drauf und dran, ihre Kinder zu fressen. Ein paar Leute waren nicht daheim gewesen, als er vor ihrer Tür stand; er würde es noch einmal versuchen müssen, und die wiederholten Unterbrechungen seiner Streife begannen, an seinen Nerven zu zerren. Er hatte sich eine kurze Pause für eine Tasse Tee gegönnt, aber den Gedanken an irgendeine Art von Essen hatte er seit dem Augenblick nicht mehr ertragen, als er die Tür von Ezra Donohues sah, die schräg in den Angeln hing, und dann diese obszöne Menge von Blut und das, was von den alten Mann und seinem Hund übrig geblieben war.

Er schluckte trocken.

Da war das Cottage, das Mrs. Ogilvie vor drei Monaten endlich an jemanden vermietet hatte; es war das letzte in einer Reihe von Häusern entlang dieser Straße, bevor sie sich zu dem Pfad verjüngte, der in die Hügel hinein führte. Soweit Bernie Smithers wusste, wurde es jetzt von einem eindrucksvollen Kerl bewohnt, der die Aura eines Universitätsprofessors um sich verbreitete; er lebte offensichtlich allein und ziemlich zurückgezogen. Smithers hatte ihn ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen, während er mit einem Buch in seinem gepflegten Garten saß – kein billiges Paperback, sondern die Art Bücher, die er in einer alten Bibliothek erwartet hätte, jede Menge Leder und geprägte, goldene Buchstaben. Eindeutig ein Gelehrter.

Mrs. Ogilvie lebte in dem Haus neben dem Cottage; die alte Dame war so eine Art lokaler Berühmtheit. Ihr gehörten vier von sechs Gebäuden an dieser Straße, zusätzlich zu der Eskdale-Galerie und dem viel besuchten Virgin Inn. Während der letzten dreißig Jahre war sie für St. Mary Green das gewesen, was Beatrix Potter, die legendäre Märchenautorin und Schafzüchterin, für Near Sawrey gewesen war – und was Eleanor Carpenter mit all ihrer grimmigen Geschäftigkeit so verzweifelt gern sein wollte. Callista Ogilvie sah nicht halb so eindrucksvoll und einschüchternd aus wie die berühmte Miss Potter. Sie war mehr der zarte, silberhaarige Typ Frau, mit einer Schwäche für pastellfarbene Perlen, Angora-Strickjacken und altmodischen Rüschenblusen; aber die reizende Fassade verbarg einen eisernen Willen und einen scharfen Verstand. Jeder, der den Versuch machte, diese trügerisch harmlose, alte Frau hinters Licht zu führen, hatte eine hässliche Überraschung vor sich, und Bernie Smithers, der in St. Mary Green geboren und aufgewachsen war, versäumte es nie, ihr den Respekt zu erweisen, den sie verdiente. Jetzt war sie die Letzte in dieser Straße, die noch gewarnt werden musste… sie und dieser gelehrte Kerl eine Tür weiter.

Er stieg aus dem Polizeiauto, warf einen raschen Blick die Straße hinauf und hinunter und ging durch den makellosen Garten. Ehe er klingeln konnte, öffnete sich die Tür, und ein kleiner, weißer Pudel sauste über die Türschwelle und sprang an seinen Beinen hoch, wobei er wie verrückt bellte.

„Braves Hundchen,“ murmelte Bernie Smithers und versteckte hastig das Jagdgewehr hinter seinem Rücken. Er hasste Pudel, und den hier ganz besonders.

„Oh bitte, Fancy… lass den guten Constabler in Ruhe, ja?“ Callista Ogilvie stand auf der Schwelle und spähte zu ihm auf, ihre Augen rund und lebhaft wie die einer Amsel. „Zeit, dass mein Liebling sein Abend-Gassi macht. Gibt es irgendetwas, das ich für Sie tun kann?“

Der gute Constabler tat sein Bestes, den Hund zu ignorieren, der an seinen Schuhen schnüffelte, und straffte den Rücken.

„Ich nehme an, dass Sie die Nachrichten von Radio Cumbria heute verfolgt haben, Mrs. Ogilvie?“

„Das habe ich tatsächlich, junger Mann,“ entgegnete die alte Dame. „Ich vermute, dass Sie die scheußlichen Geschichten über diesen Wahnsinnigen meinen, nach dem die Polizei den ganzen Bezirk durchkämmt. Armer, alter Ezra… ein so elendes Ende hat niemand verdient.“ Sie atmete hörbar durch die Nase. „Keine Sorge, ich hole Fancy gleich wieder herein – aus meinem Garten läuft sie sowieso nicht davon – und ich bleibe, wo ich bin.“

„Ich bin froh, das zu hören,“ sagte Bernie Smithers… und in diesem Moment erwachte das Funkgerät in seinem Polizeiauto mit einem lauten Krächzen zum Leben. „Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?“

Er hastete durch das Gartentor zum Auto. „Ja, Margery? Smithers hier.“

„Tom Kerrey kam gerade ins Büro gestürmt; er macht sich Sorgen um seine Schafe,“ quäkte die Stimme von Margery Harris von der Polizeiwache aus dem kleinen Lautsprecher. „Dieses geheimnisvolle Untier ist ja wohl schon vor ein paar Tagen auf sie losgegangen – jedenfalls war es das, was Eleanor Carpenter der Zeitung erzählt hat – und jetzt sind sie scheinbar wieder angegriffen worden. Er führt hier einen ziemlichen Tanz auf.“

Bernie Smithers seufzte.

„Tom führt doch immer einen Tanz auf, Marge,“ erwiderte er. „Er kann einfach nicht anders – und wenn du ihm jemals erzählst, dass ich das gesagt habe, dann sperre ich dich in unsere Ausnüchterungszelle. Es ist wieder die nördliche Weide, oder?“

„Ja, genau. Und Tom weigert sich, allein dort hinauszufahren.“

An jedem anderen Tag hätte ihr das eine weitere, bissige Bemerkung über Tom Kerreys zweifelhafte Qualitäten in Allgemeinen und seinen Mut im Besonderen eingetragen, aber Bernie Smithers erinnerte sich viel zu gut an das, was er in Ezra Donohues Cottage gesehen hatte, um Toms Furcht nicht zu begreifen. „Bitte ihn, dass er warten soll, Marge… ich bin gleich da.“

Er steckte das Funkgerät weg und wandte sich zu Callista Ogilvie zurück, die immer noch geduldig auf ihrer Türschwelle stand.

„Mrs. Ogilvie?“

„Ja?“

„Wären Sie so freundlich, Ihren Nachbarn anzurufen und ihm zu sagen, dass er im Haus bleiben soll? Ich muss jetzt weg… ich muss eine dringende Angelegenheit klären.“

Mrs. Ogilvie lächelte. „Natürlich!“

Bernie Smithers startete den Motor, und das Polizeiauto verschwand um die Biegung in den Mill Walk; Callista Ogilvie schloss die Tür hinter sich und ging in ihr Wohnzimmer zurück.

Irgendwann demnächst würde sie diesen netten, jungen Doktor in Berwick bitten müssen, ihre Hörhilfe neu einzustellen. Sie hatte kein Problem damit, die Leute zu verstehen, wenn sie ziemlich dicht vor ihr standen… aber wenn sie aus einer gewissen Entfernung mit ihr sprachen, dann bekam sie einfach nur die Hälfte von dem mit, was gesagt wurde, egal, wie weit sie die Lautstärke von dem kleinen Apparat in ihrem Ohr aufdrehte. In diesen Fällen war sie gezwungen, von den Lippen zu lesen… was hatte der junge Polizist ihr gesagt? Ach ja… er musste sich um irgendeine dringende Angelegenheit kümmern, und ihren Nachbarn hatte er bereits gewarnt. Alles, was sie jetzt tun musste, war, sich vor ihrem Fernseher niederzulassen, die Nachrichten zu ignorieren und ein Video ihrer Lieblingsserie Das Haus am Eaton Place anzuschauen.

Sie würde es nie öffentlich zugeben, aber sie hatte immer schon heftig für Gordon Jackson geschwärmt. Sein „Mr. Hudson“ mochte ein Dienstbote sein, der genau wusste, wo sein Platz war, aber auch so war er ein wahrer Gentleman.

*****

Das Wohnzimmer von Stephen Seekers Cottage war sehr still, während Ruta versuchte, die überwältigende Vielfalt neuer Tatsachen zu verdauen, von der sich ihr der Kopf drehte.

„Also haben Sie die letzten acht Jahre weit weg von England verbracht?“ fragte sie endlich und nahm den Gesprächsfaden wieder auf.

„Das habe ich,“ sagte er, setzte sich wieder an den Tisch und füllte langsam sein Glas nach. „Mehr oder weniger. Und wie ich schon sagte, die Zeit war nicht verschwendet. Ägypten ist ein faszinierendes Land, ebenso wie der Rest von Afrika. Aber der Ort, von dem ich am meisten profitiert habe, war zweifellos Tibet. Ich fand Zutaten und Rezepte, von denen ich nie geglaubt hatte, dass sie wirklich existierten, und Zauberer mit einem Wissen, das so abgrundtief war wie das Meer und so hoch wie die Gipfel der Berge.“

Er lächelte abwesend, und Ruta starrte ihn an; für einen Moment schienen sich die wundersamen Dinge, die er in einer weit entfernten Welt gesehen hatte, in seinem Gesicht wiederzuspiegeln, und die Linien eines bitteren und gefährlichen Lebens waren spurlos verschwunden.

„Die Spitzen dieser Berge streifen den Himmel,“ fuhr er leise fort, „und die Zauberer an ihren Abhängen verbringen Jahre über Jahre mit der Suche nach den vollkommenen Zutaten und den zusammenpassenden Worten für einen Zauberspruch… dort drüben ist die Zeit wie ein langer, gewundener Fluss, und sie wird nicht in Jahren, sondern in Weisheit gemessen.“

Ruta blickte auf ihre Hände hinunter.

„Sie bringen mich dazu, mir zu wünschen, dass ich all das eines Tages sehen kann,“ sagte sie endlich. „Nach so viel Heimlichkeit und fortgesetzter Täuschung muss es eine ziemlich… heilsame Erfahrung gewesen sein.“

„Das war es wirklich,“ erwiderte er. „Tatsächlich war es sehr erholsam, sich auf das zu konzentrieren, was unter den magischen Künsten immer mein Lieblingsfach gewesen ist. Erholsam und erfrischend.“

Sie hob ihren Blick zu ihm.

„Warum sind Sie dann zurückgekommen?“ fragte sie. „Eine tiefe Sehnsucht nach der immerwährenden Schönheit von Albion kann es ja wohl nicht gewesen sein.“

„Nein.“ Er starrte in sein Glas und drehte den feinen Stiel langsam zwischen langen, schlanken Fingern. „Ich dachte, ich sollte etwas mehr über das Wohlergehen von Harry Potter herausfinden, ehe ich mich entschließe, was ich mit dem Rest meines Lebens anzufangen gedenke.“

Ihre Augen begegneten sich.

„Sind Sie überrascht?“

„Natürlich nicht,“ erwiderte sie. „Sie haben Jahre damit zugebracht, den Jungen zu beschützen – warum sollten Sie nicht herausfinden wollen, ob Ihre Bemühungen langfristig gesehen von Erfolg gekrönt waren, und was für eine Art Mann er jetzt ist?“

Er sah sie an, und für einen Sekundenbruchteil hatte sie den ausgeprägten Eindruck, dass er versuchte, in ihrem Geist zu lesen. Plötzlich erinnerte Ruta sich daran, was ihr Harry einmal von seinen miserablen Anstrengungen erzählt hatte, bei diesem ganz bestimmten Lehrer Okklumentik zu trainieren, und sie verstand, dass Stephen Seeker – Severus Snape – wahrscheinlich durchaus dazu fähig war, sein Ziel zu erreichen. Sie verspürte ein kurzes, kaltes Aufflackern von Furcht, aber sie bemeisterte es und erwiderte seinen Blick so gelassen sie es vermochte.

Er seufzte und unterbrach den Blickkontakt.

„Ihr unbeirrte Glaube an mein Verantwortungsgefühl ist ziemlich rührend, Miss Lupin,“ bemerkte er und stellte das Glas wieder auf den Tisch. Sie holte tief Atem und registrierte zum ersten Mal, dass sie ihre leere Kaffeetasse mit einem so harten Griff umklammert hielt, dass ihre Knöchel weiß wurden. „Keine Angst – ich würde Ihr Zutrauen nicht aus dem einfachen Grund riskieren, meine Neugier zu befriedigen.“

Sie sprach, ohne nachzudenken. „Es würde mehr als das erforderlich sein, um mein Zutrauen zu verlieren. Ich habe keine Angst vor Ihnen.“

„Das allein ist schon bemerkenswert.“

Ruta blickte sich in dem stillen Zimmer um; plötzlich merkte sie, dass der Großteil des tiefgoldenen Lichts verschwunden war. Schatten füllten die Ecken und Winkel aus. Wie lange war sie schon hier? Es fühlte sich an wie Stunden.

Sie erhob sich aus ihrem Sessel.

„Ich sollte gehen,“ sagte sie. „Ich habe Ihre Zeit schon lange genug beansprucht.“

Seine Augen waren unverwandt auf den tiefroten Wein in seinem Glas gerichtet.

„Ich dachte gerade daran, Winky zu bitten, dass sie ein kleines Abendessen herrichtet,“ sagte er langsam. „Nur Sandwiches, oder ein Salat… wenn das nicht unter ihrer Würde als Köchin ist. Hätten Sie…“ Er zögerte. „Hätten Sie Lust, mitzuhalten?“

Oh. – War das eine Einladung?“

Er räusperte sich, immer noch, ohne sie anzusehen. „Miss Lupin, ich mag ein wenig aus der Übung sein, aber… ja, selbstverständlich.“

Sie spürte eine plötzliche Freude in sich hoch sprudeln, ging zum Tisch und setzte sich wieder hin, diesmal ihm gegenüber.

„Sie müssen mir vergeben,“ sagte sie und fühlte, wie sich ein albernes Lächeln über ihrem Gesicht ausbreitete. „Mir wäre nie eingefallen, dass mein Verhör mit einem Abendessen in Ihrer Gesellschaft belohnt werden könnte.“

„Sie haben ziemlich merkwürdige Ideen über die Natur von Belohnungen,“ sagte er trocken, aber sie konnte sehen, dass sich ihre Lächeln in seinen Augen spiegelte, und ihre Freude verstärkte sich noch. „Sandwiches oder Salat?“

„Beides,“ sagte Ruta. „Und jetzt hätte ich gern ein Glas Wein.“

*****

Eine halbe Stunde später rutschte die Sonderausgabe der Eskdale Gazette durch den Briefschlitz von Harry Potters Haus in Berwick. Ginny Potter bekam es nicht mit – ebenso wie sie die Zeitungen während der letzten Monate regelmäßig verpasst hatte – weil sie im Wohnzimmer saß und Baby James etwas vor sang:

Ein dummes kleines Schwein
baut’ sich ein kleines Heim
als es hörte, dass der Wolf
die kleinen Schweinchen fraß, fraß, fraß…

James lachte und bekam das Ende vom Zopf seiner Mutter zu fassen. Ginny drückte einen Kuss auf die samtweiche Stirn und kitzelte ihn am Bauch.

Und der Wolf, mit „Krach!“ und „Bumm!“
blies das kleine Häuschen um
denn das Schweinchen baut’ es bloß
aus lauter dünnem Gras, Gras, Gras…

*****

Zur gleichen Zeit lag die Zeitung unbemerkt vor Stephen Seekers Cottage in St. Mary Green, ein bleicher, rechteckiger Fleck im Schatten des Windfangs. Die schwarze Schlagzeile sagte:

Geheimnisvoller Mörder tötet hilflosen, alten Mann und seinen Hund

Alle Bürger von St. Mary Green und Berwick werden angewiesen, unter allen Umständen in ihren Häusern zu bleiben.

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Laut HARRY POTTER WIKI war Ginny Weasley Treiberin bei den Holyhead Harpies, bevor sie Harry Potter heiratete.

Beatrix Potter kaufte ihr erstes Haus, Hill Top, in Near Sawrey. Die Leute in diesem Dorf am Lake Windermere erinnern sich noch immer an sie als die Dame, die einen Großteil ihrer Gegend als Erbe für den National Trust gerettet hat.


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