Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Vierzehn
Im Bund mit dem Teufel

Regenwolken hingen schwer über der Winkelgasse; die letzten Lichter bei Flourish & Blotts waren ausgegangen, und ein paar späte Passanten eilten in die Wärme des Tropfenden Kessels zurück. Ein riesiges, goldenes Zeichen an der Wand eines schmalen Hauses die Straße hinunter sagte „TAGESPROPHET“, aber die meisten Fenster des Redaktionsbüros waren dunkel: der Abendprophet war soeben in Druck gegangen (ohne irgendwelche spektakulären Schlagzeilen), und das dröhnende Geräusch der Druckmaschinen im Keller (von einem Dutzend Hauselfen bedient) wurde von den wenigen Angestellten ignoriert, die noch hinter ihren Schreibtischen saßen.

Das große Büro von Chefredakteur Barnabas Cuffe – makellos ordentlich wie immer – war leer, ebenso wie das Eckzimmer, das die berüchtigte Rita Kimmkorn für sich beanspruchte. Die Wände dieses kleinen Raumes waren mit zahllosen Artikeln und Photographien dekoriert, die ihr grelles Lippenstiftgrinsen und ihre glitzernde Brille zeigten. Auf einem gewissenhaft staubfrei gehaltenen Regal waren ihre Bücher ausgestellt, Leben und Lügen von Albus Dumbledore und Harry Potter – die Geschichte des Jungen, Der Lebt, zusammen mit neueren Übersetzungen ins Deutsche und Französische. Auf ihren Schreibtisch wartete eine kleine, versiegelte Kiste, gefüllt mit den Notizen für das Buch, das sie gerade schrieb; ein Zettel war an die lederne Schreibtischunterlage geheftet. Der Titel ihres neuesten Machwerkes war mit einer steilen, narzisstischen Hand darauf gekritzelt: Severus Snape – Schurke oder Heiliger? (1)

Direkt vor der Tür von Miss Kimmkorns Büro stand ein weiterer Schreibtisch, die Oberfläche von einem Teich aus Licht erhellt, der von einem Messing-Kerzenleuchter stammte. Eine Frau saß davor und studierte einen Artikel in einer vergilbten Zeitungsausgabe vor sich.

Der Artikel war beinahe vierzig Jahre alt, mit zwei Photos, von denen eines einen jungen Fenrir Greyback zeigte und das andere einen Mann in seinen späten Dreißigern, bolzengerade und so grimmig wie ein Grabstein. LUPIN KLAGT GREYBACK DES MORDES AN, schrie die Schlagzeile. Der Artikel war von Barnabas Cuffe geschrieben worden, eine Reportage über die Gerichtsverhandlung gegen Greyback nach den tragischen Tod von zwei Muggelzwillingen in Nottingham 1968. Er war freigesprochen worden, zur großen Bestürzung vieler Zauberer in der Gegend, und zum fassungslosen Zorn des Mannes, der Remus Lupins Vater war.

Die Frau starrte auf das vergilbte Papier hinunter. Reginald Lupin, Vater von Remus und Onkel von Ruta Lupin. Das sanfte, ovale Gesicht mit den blassgrauen Augen wurde plötzlich hart, die charmanten Rosenblattlippen formten eine schmale, zänkische Linie.

Ruta Lupin.

Vicky Stone erinnerte sich sehr gut an sie, aus Hogwarts, auch wenn Rutas Gesicht ständig hinter einem Buch versteckt gewesen war, und obwohl Remus Lupins Cousine nie an den üblichen Hausverschwörungen von Ravenclaw teilgenommen hatte. Sie rief sich mit erstaunlicher Klarheit ins Gedächtnis, wie Ruta sich geweigert hatte, ihr ihre Kräuterkunde-Hausarbeit zu borgen, während sie selbst – Vindictia Stone, zwölf Jahre alt und verzweifelt entschlossen, sich zu beweisen – noch immer mit dem Nutzen und der Wirkung von Baldrian und Goldrute auf magisch hervorgerufenes Fieber zu kämpfen hatte. Andere Kinder hätten diese geringfügige Niederlage schon längst vergessen, aber Vicky hatte das exakte Gedächtnis eines Elefanten, und sie bewahrte jede kleine Kränkung und Zurückweisung wie einen verdorbenen Schatz in ihrem Herzen.

Ruta verschwand weiterhin hinter ihren Büchern, währen Vicky sich endlich zu einer Konstante in der Hierarchie von Ravenclaw entwickelte. Sie plante sorgsam jeden einzelnen Schritt, jedes Wort, das sie aussprach und jede Geste, um ihre hart erkämpfte Position zu sichern und zu verteidigen. Sie brachte es fertig, in den meisten Fächern eifrig und gelehrig zu erscheinen, und sie kultivierte die Fähigkeit, naive Mitschüler dazu zu bringen, ihre Arbeit mit ihr zu teilen, wann immer sie die Themen für angekündigte Aufsätze zu schwierig und schlichtweg zu langweilig fand.

Dann machte Vindictia Stone während den Weihnachtsferien in ihrem dritten Jahr einen Ausflug in die Winkelgasse und verbrachte eine sehr interessante Stunde bei Araminta Addams’ Antiquitäten. Sie ignorierte das staubige Durcheinander aus verbeulten Kesseln, zerbrochenen Spickoskopen und billigem Zauberergeschirr und steuerte geradewegs auf ein hohes Regal mit gebrauchten Büchern zu.

Zwischen einem halben Dutzend Taschenbücher über die amourösen Abenteuer von Lavinia Shrewsbury: Die Heiße Hexe und einer tragisch ungelesenen Ausgabe von Celestina Warbecks unautorisierter Biographie CELESTINA: Die bezaubernde Stimme fand sie ein sehr altes Pamphlet. Beim Blättern durch die angegilbten Seiten entdeckte sie mehr als zwanzig Rezepte für Liebestränke und anderes, faszinierendes Gebräu. Der Name der Autorin – einer gewissen Catherine Monvoisin (2) – war ihr unbekannt, aber sie war klug genug, eine Gelegenheit für leicht erworbenen Ruhm zu wittern. Sie kaufte das Buch für ein paar Sickel und nahm es mit zurück nach Hogwarts. Während der folgenden Wochen probierte Vicky vorsichtig eins oder zwei der Rezepte aus... zum Entzücken von Horace Slughorn, der ihr einen „erstaunlichen Einfallsreichtum“ bescheinigte und Ravenclaw mit fünfzig Punkten belohnte.

Vicky war ebenso entzückt... und sie entschied auf der Stelle, das Buch als Quelle für noch größeren Einfluss zu nutzen. Während der nächsten dreieinhalb Jahre betrieb sie einen schwunghaften Handel mit heimlich abgefüllten Fläschchen und Phiolen, und ihr Erfolg war so verblüffend wie großartig. Sie hatte die Finger in jedem zweiten Gefühlsdrama von Ravenclaw und genoss ihre neu gefundene Macht außerordentlich. Natürlich erwartete sie, in ihrem Zaubertrank-U.T.Z. mit einem „Überragend“ belohnt zu werden.

Aber irgendwann in ihrem siebten Jahr trat Ruta aus den Schatten heraus, als sie mit gründlichen Studien über die Anwendung von Mandragora Vernalis gegen gefährliche Flüche begann. Vicky verfolgte die Fortschritte ihrer Klassenkameradin mit wachsender Neugier. Sie fand sehr rasch heraus, dass Rutas Vorstellungen denen von Phyllida Spore widersprachen – der Autorin des Standardwerkes Tausend magische Kräuter und Pilze – aber Miss Lupin hatte trotzdem Recht, und sowohl ihr Stil als auch ihre Argumentation waren, wenn man Professor Sprouts enthusiastischen Aussagen glauben wollte, absolut fehlerlos.

Und dann war Ruta eines Abends im Gemeinschaftsraum von Ravenclaw auf sie zugekommen; die meisten der Schüler waren bereits ins Bett gegangen, und als Vicky von ihrer Pergamentrolle aufblickte, saß die unbedeutende Miss Lupin in dem Sessel neben ihr.

„Das war ein interessanter Liebestrank, den du da heute zusammengebraut hast,“ bemerkte sie, „obwohl der Gebrauch von Mandragora Vernalis ein bisschen... riskant ist.“

„Wieso?“ fragte Vicky und unterdrückte ein Gähnen.

Ruta lachte leise. „Das Zeug ist einfach ganz schrecklich giftig,“ sagte sie, „einer der vielen Gründe, warum man es nicht gegen den Pestis-Fluch einsetzen sollte. Nach meiner ehrlichen Meinung kann man den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben. Und es in Liebestränken zu benutzen, ist sogar noch gefährlicher, und nicht besonders hilfreich, glaube ich... es hat eine betäubende Wirkung auf Körper und Geist.“

Vicky beäugte sie zunehmend irritiert.

„Du bist eine richtige Besserwisserin, oder?“ sagte sie.

„Nein,“ erwiderte Ruta, immer noch freundlich und aufreizend gelassen. „Aber der Einsatz von Mandragora Vernalis in allen möglichen Tränken ist im Augenblick mein Steckenpferd. Und wenn du mehr über interessante Liebestränke mit dieser besonderen Zutat herausfinden möchtest, solltest du mal versuchen, Madam Pince nach einer Ausgabe von Catherine Monvoisins Philtres d’Amour zu fragen.“

„Catherine ... wer?“ Vickys Herzschlag stolperte und verfiel dann in einen hektischen Galopp.

„Monvoisin.“ Ruta wandte ihre Augen der Kaminglut zu. „Sie lebte im 17. Jahrhundert und war eine berühmte Absolventin von Beauxbatons. Traurigerweise entwickelte sie eine starke Vorliebe für die Dunklen Künste; sie lebte in Paris und entdeckte, dass der Muggel-Adel einen profitablen Markt für ihre Fähigkeiten darstellte. Sie verkaufte Tränke an die Mätresse des französischen Königs, und an eine ganze Anzahl Höflinge... darunter zweifellos ein paar Gebräue, die alles andere als harmlos waren. Sie war auch in entsetzlich finstere Rituale verwickelt, und 1679 wurde aus der Sache ein riesiger Skandal. Die königliche Polizei verhaftete beinahe den gesamten Kreis um Madame Monvoisin; es wurde nie so ganz klar, ob sie die Verhöre und die Folter, die den Verhaftungen folgten, tatsächlich selbst durchgemacht hat. Sie war eine brillante Meisterin für Zaubertränke und außergewöhnlich geschickt mit Verwandlungen. Ich denke, sie hat einfach eine ihrer Muggel-Verschwörerinnen genommen, sie in ein Spiegelbild von sich selbst verwandelt und sie dann so lange mit dem Imperius-Fluch belegt, bis ihre Doppelgängerin im Februar 1680 auf einem Scheiterhaufen starb.“

„Was...“ Vicky räusperte sich; ihr Mund war ganz plötzlich sehr trocken. „Was wurde aus der echten Monvoisin?“

Ruta zuckte die Achseln. „Onkel Corminius hat immer gesagt, dass sie das Vermögen einsammelte, das sie mit ihren zweifelhaften Diensten erworben hatte, dass sie sich einen Landsitz irgendwo in Osteuropa kaufte und sich weise aus der Welt der Muggel davonmachte. Sie hoffte, dass man sie einladen würde, an ihrer früheren Schule zu unterrichten, aber der Schulleiter fühlte sich nicht wohl mit ihrer offensichtlichen Verwicklung in die Dunklen Künste. Durmstrang hatte keinerlei Bedenken, und so beendete sie ihrer Karriere als hoch geachtete Meisterin für Zaubertränke in Russland.“ Sie erhob sich aus dem Sessel. „Onkel Corminius interessiert sich sehr für historische Zaubertränke und magische Kräuter. Er besitzt eine Ausgabe von ihrem Buch... die englische Version, aber ich glaube, ich habe den Originaltitel noch richtig im Kopf. Ich bin ziemlich sicher, dass Madam Pince es in der verbotenen Abteilung hat.“

Sie ging zur Treppe, die in die Schlafsäle hinauf führte.

„Ich gehe jetzt ins Bett... und das solltest du auch. Du bist ein bisschen grün um die Kiemen.“

Dann war sie weg, und Vicky starrte hinter ihr her, zitternd vor Schreck. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Ruta Lupin ihr Geheimnis herausgefunden hatte... dass ihr gesamter Erfolg und ihr Wissen nur aus einem Buch geborgt war. Sie würde zu Flitwick gehen und sie verpetzen, und Vicky sah, wie ihre hoch fliegenden Träume auf dem Steinboden zerschellten.

Die Wirkung auf ihr Selbstbewusstsein war katastrophal, und die gärende Feindseligkeit Ruta gegenüber, die in ihrem Herz geschlafen hatte, erwachte wieder zu vollem Leben. Wie konnte dieser blasse Schemen von einem Mädchen es wagen, ihr in den Weg zu kommen, nach all den Jahren, die Vicky damit verbracht hatte, ihr kompliziertes Netz aus enorm wichtigen Beziehungen, Klatsch und Halbweisheiten zu spinnen? Wie konnte Ruta Lupin es wagen, ihr den Ruhm zu rauben, den sie doch so offensichtlich verdient hatte...?

Ihre Enttäuschung und Wut wuchsen, bis sie ihren Geist zur Gänze ausfüllten; die U.T.Z.e kamen jetzt rasch näher. Nach ein paar Wochen, in denen die Furcht, gemeldet zu werden, ständig über ihr hing wie das Schwert des Damokles, war sie genügend außer sich und zornig, dass sie alle Vorsicht in den Wind schlug. Sechs Tage vor den Prüfungen brach sie Rutas große Truhe auf, stahl den fertigen Text ihres Aufsatzes und sämtliche Notizen, die sie finden konnte und verbrannte jeden einzelnen Fetzen Papier auf einem fröhlichen, kleinen Scheiterhaufen im Kamin des Gemeinschaftsraumes von Ravenclaw.

Ihr Triumph war allerdings äußerst kurzlebig. Sie hatte nicht gewusst, dass Pomona Sprout eine Kopie des fraglichen Aufsatzes aufbewahrte; sie wusste auch nicht, dass er bereits an den Redakteur von Magische Kräuter Heute geschickt worden war, um als Artikel veröffentlicht zu werden. Er ging just in dem Moment in den Druck, als sie dachte, dass sie den nervtötenden Dorn in ihrem Fleisch endlich losgeworden wäre. Es gab nie eine offizielle Untersuchung, aber sie war gezwungen, eine ziemlich unangenehme Stunde in Gesellschaft von Albus Dumbledore und Filius Flitwick zu verbringen; eine Hausgenossin hatte ihren Diebstahl im Schlafsaal mit angesehen, sicher hinter königsblauen Bettvorhängen versteckt. Um die Sache noch schlimmer zu machen, war dieses Mädchen eines der weniger glücklichen Opfer von Vickys Liebestränken. Demzufolge zögerte sie nicht, zu melden, was sie beobachtet hatte, und nur die Tatsache, dass das Schuljahr sowieso sehr bald zu Ende ging, hatte Miss Stone davor bewahrt, von der Schule verwiesen zu werden. Das Schlimmste war aber, dass Catherine Monvoisin und Vickys Trickserei überhaupt nicht erwähnt wurden; sie fand nie heraus, ob Ruta Lupin wirklich irgend jemandem davon erzählt hatte. Aber indem sie für Rutas Bemerkung an jenem Abend Rache nahm, hatte sich Vicky ihr eigenes Grab geschaufelt.

Nach den Prüfungen – und selbst Vickys gute Note in Kräuterkunde war kein Trost für ihr generell mittelmäßiges Abschneiden – sah sie Ruta Lupin nicht wieder (was sicher besser war für alle beide). Die Beziehungen ihres Onkels verschafften ihr einen Posten als Nachwuchsreporterin beim Tagespropheten; sie brauchte lediglich vierundzwanzig Stunden, um zu begreifen, dass der Job vom Kaffeekochen bis zum Abholen instand gesetzter Gewänder von Madam Malkin so ziemlich alles einschloss.

Während der folgenden Jahre hatte sie geduldig und stur gearbeitet, aber zu mehr als einem mäßigen Erfolg hatte es nicht ausgereicht... sie schrieb Artikel für Seite drei und las die Manuskripte neuer Autoren, die veröffentlicht werden wollten, wenn sie nicht damit beschäftigt war, für die bekannteren Reporter die Archive zu durchsuchen. Die Rückkehr des Dunklen Lords hatte ihr ein wenig mehr Bekanntheit eingebracht (denn sie war es gewesen, die den größten Teil der ministeriumsfreundlichen Artikel schrieb, nachdem Rita Kimmkorn – zum großen Entsetzen ihrer Vorgesetzten – jenen katastrophalen Artikel über Harry Potter im Klitterer veröffentlicht hatte). Als der Krieg vorüber war, gewann Miss Kimmkorn ein Gutteil ihrer Reputation zurück, indem sie zwei sehr erfolgreiche Bücher heraus brachte; als sie Vicky plötzlich die Teilzeitstelle einer persönlichen Assistentin anbot, akzeptierte Vicky bereitwillig, weil sie die Hoffnung auf einen späten, persönlichen Ruhm in ihrem Herzen nährte, von dem sie jetzt schon seit Jahren träumte.

Seitdem hatte sie die meisten Recherchen erledigt, die zu dem (fast vollständigen) Manuskript in der Metallkiste auf Rita Kimmkorns Schreibtisch geführt hatten – natürlich nicht die Art Recherche, die sich ein ehrlicher Autor gewünscht haben würde. Vicky hatte zugesehen, wie Rita nach jeder unbewiesenen Anekdote und haarsträubende Lüge schnappte und das Ganze mit einer Prise der Wahrheiten pfefferte, die Vicky ausgegraben hatte – aber nur so lange, wie sie Ritas Zweck dienten.

Nun saß Vicky in dem leeren Redaktionsbüro, die Augen auf das gedruckte, zornige Gesicht von Reginald Lupin gerichtet, ohne es wirklich zu sehen. Die Erinnerung trug sie zu dem Moment zurück, in dem vielleicht ihre größte Chance für eine wirkliche Karriere begonnen hatte.

Vor beinahe zwei Monaten war Rita Kimmkorn auf eine Lesereise durch Cornwall und Wales gegangen. An dem Wochenende, nachdem sie abgereist war, fing Vicky eine Eule mit einer ziemlich geheimnisvollen Botschaft ab. Sie war an den Tagespropheten gerichtet, aber ganz eindeutig für Rita Kimmkorn gedacht, deren Name auf dem Umschlag stand. Vicky brauchte nur Sekunden, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie – als Miss Kimmkorns vertrauenswürdige Assistentin – jedes legitime Recht und ganz gewiss die Pflicht hatte, ihn zu öffnen. Der Brief forderte Rita auf, jemand Ungenannten in der Lüsternen Hexe zu treffen, „wegen einer exklusiven und aufregenden Story“. Es war die Sorte anonymer Nachricht, die Vicky normalerweise sofort weggeworfen hätte, wäre da nicht der gekritzelte Nachsatz unter der unleserlichen Unterschrift gewesen.

Fenrir Greyback ist noch am Leben. Wenn Sie die sein wollen, die seine Geschichte erzählt, dann kommen Sie an diesem Mittwoch um halb zehn abends, allein.

Fenrir Greyback! Seine Verbrechen waren legendär, sein grausamer Ruhm nährte die Sorte von Gruselgeschichten, die nur sehr wenige Kinder wirklich hören mochten. Und die Leute hatten - wie bei Voldemort - noch immer Angst, seinen Namen laut auszusprechen. Vicky war klug genug, um es besser zu wissen; wenn sie aber herausfand, dass die Botschaft in dem Brief zutraf, wenn Greyback tatsächlich am Leben war...

Diesmal brauchte sie etwas länger, um sich zu entscheiden. Die lüsterne Hexe war eines der Gasthäuser in der Nokturngasse, die den übelsten Ruf genossen, und unter normalen Umständen hätte sich Vicky niemals ohne eine Leibwache dorthin gewagt – sie konnte nicht wie Rita die Gestalt wechseln. Vicky kannte ihre Chefin gut genug, um sicher zu sein, dass sie außer sich vor Wut sein würde, wenn sie jemals etwas über diese Sache herausfand. Rita Kimmkorn war absolut nicht bereit, irgend eine Rivalin zu tolerieren, und bei den überaus seltenen Gelegenheiten, bei denen Vicky es gewagt hatte, ihre Kompetenzen zu überschreiten, hatte sie es mit einem wahrhaft beängstigenden und eiskalten Zorn zu tun bekommen. Aber Rita würde noch zwei weitere Wochen aus der Redaktion fort sein, und die plötzliche Chance, ihrer erstickenden Kontrolle zu entkommen, war einfach zu gut, um sie nicht zu nutzen.

Und so kam es, dass Vicky an einem brütend heißen Abend Ende August ein dunkles Kopftuch über ihre perfekte, erdbeerblonde Frisur knotete und in den Schatten der Nokturngasse untertauchte. Ihr Mantel war schäbig, ihre Schuhe alt und abgetreten, und sie war zu vorsichtig, um irgendeine Art Schmuck zu tragen. Sie bog um eine scharfe Kurve und rannte beinahe in zwei Frauen mit scharlachroten, geschlitzten Kleidern hinein, die bleiche, nackte Schenkel zeigten.

„He, Kleine,“ zischte die eine Vicky ins Ohr. Sie war lang und dünn wie ein Besenstiel, die Krähenfüße um die harten, dunklen Augen hatte sie mit dickem Make-up zugekleistert. „Lust auf ein bisschen Unterricht, wie man sich aus einer grauen Maus in einen Phönix verwandelt?“

„Nicht, wenn du die Lehrerin bist, du verhungerte, alte Henne,“ zischte Vicky zurück und wich mit Leichtigkeit dem halbherzigen Schlag aus, der nach ihr zielte. Sie hatte endlich ihr Ziel erreicht; trübes Licht flackerte hinter gelblichen Fenstern, und ein niedriges Schindeldach überschattete den Eingang wie eine übellaunig nach unten gezogene Augenbraue. Über ihr hing reglos das Wirtshausschild; es zeigte eine Frau mit lächerlich langem Lockenhaar und entblößten Brüsten. Ihr Zauberstab versprühte blutrote Funken. Die Tür der Lüsternen Hexe öffnete sich, und plötzlich überwältigte das brennenden Aroma von Feuerwhisky und billigem Bier ihr die Sinne. Sie hielt die Luft an, schlüpfte an zwei Männern vorbei, die das Gasthaus verließen, und dann stand sie im Schankraum. Die Luft war blau von Rauch. Sie versuchte noch immer, den möglichen Verfasser dieses mysteriösen Briefes zu finden, als sich plötzlich eine Hand um ihren Oberarm legte.

Der Griff dieser Hand war so hart wie Eisen, und sie wurde zwischen Tischen und Bänken hindurch gezerrt. Nur Sekunden später stolperte sie durch einen verborgenen Seiteneingang und hinaus auf einen schmalen Hinterhof. Riesige Mülltonnen standen an der Wand entlang; sie quollen von verfaulten Essensresten und zerbrochenen Flaschen über, aber Vicky hatte kaum Zeit, mehr von ihrer unwirtlichen Umgebung wahrzunehmen. Sie wurde gegen einen niedrigen Holzzaun gestoßen und starrte mit offenem Mund zu der hoch gewachsenen Gestalt hinauf, die sich über ihr auftürmte.

„Du,“ knurrte eine tiefe Stimme aus dem Schatten einer großen Kapuze hervor, „bist nicht Rita Kimmkorn. Hat sie dich her geschickt?“

Vicky straffte den Rücken und versuchte verzweifelt, ihr elendes Zähneklappern unter Kontrolle zu bringen.

„Ich bin ihre persönliche Assistentin,“ krächzte sie. „Unglücklicherweise ist Miss Kimmkorn verhindert – aus verschiedenen, wichtigen Gründen. Aber ich bin autorisiert, in ihrem Namen zu sprechen... und gewisse Angebote zu machen, falls das der Grund ist, weshalb Sie gekommen sind.“

Die dunkle Gestalt gab ein heiseres Glucksen von sich, und Vicky spürte, wie sich die feinen Härchen in ihren Nacken in eisiger Panik sträubten. Sie hatte keinen Zweifel mehr, wer er war... aber mitten in ihrer Furcht arbeitete ihr Gehirn nach wie vor, und sie fragte sich, was wichtig genug sein mochte, um ihn buchstäblich aus seinem Grab auferstehen zu lassen.

„An Geld bin ich nicht interessiert,“ sagte der Mann. „Ich bin auf eine bestimmte Information aus – und wenn Sie imstande sind, mir die zu beschaffen, dann gebe ich Ihnen eine vollständige Liste der Orte, an denen ich die letzten acht Jahre verbracht habe. Ich habe sogar ein saftiges, kleines Extra über einen Orden von Werwölfen, der dem Ministerium für Zauberei in Rumänien seit mehr als dreißig Jahren Kopfschmerzen bereitet. Sie haben den Fluch des Mondes überwunden, weißt du?“

Wieder dieses gedämpfte Glucksen, und Vicky wurde der Mund trocken.

„Sie können sich verwandeln, wann immer sie wollen... und ich hatte die Chance, ihre Methode auszuprobieren.“

Vicky zitterten die Knie; sie war dankbar, dass sie sich auf den Zaun hinter ihr stützen konnte. Sie leckte sich die Lippen. „Falls... falls Sie sich entschließen, mir diesen Effekt zu demonstrieren, dann bin ich vielleicht nicht mehr imstande, Ihnen die Information zu geben, nach der Sie suchen,“ brachte sie heraus.

„Schlaues Luder.“ Greyback lachte. „Schlau genug, will ich glauben, um zu wissen, dass ich den Einfall nicht dulden werde, irgend jemandem vom Werwolf-Fangkommando etwas von unserem kleinen Treffen zu erzählen, ja?“ Plötzlich hob sich seine Hand und packte ihr Kinn. „Denn wenn du mich verrätst, mein wissbegieriges, kleines Schätzchen, dann werde ich es wissen... und ich werde dich finden. Verstanden?“

„Verstanden.“ Sie schluckte nervös, aber gleichzeitig zog sich ein dünner Faden der Genugtuung durch ihre Furcht. Wenn sie diesen gefährlichen Handel tatsächlich überstand und lange genug lebte, um die Geschichte zu erzählen, dann würde der Lohn gewaltig sein.

„Was ist es, das Sie haben wollen?“ fragte sie.

„Alles, was du über die Lupin-Familie herausfinden kannst,“ sagte er. Seine Stimme war vollkommen farblos. „Ich weiß, dass Remus Lupin in der zweiten Schlacht umgekommen ist, und dass seine Eltern schon seit fast zwanzig Jahren tot sind. Aber der Cousin seines Vaters sollte noch am Leben sein... und er hat eine Tochter. Ich bin ihr begegnet, als sie noch ein Kind war... niedliches, kleines Ding.“

Ruta. Kein Zweifel, er sprach über Ruta Lupin!

„Sie wollen wissen, wo sie leben – jeder von ihnen?“

„Oh ja.“ Die starken Finger lösten den Griff um ihr Kinn, wanderten aufwärts und streiften ihre Wange. Vicky brauchte ihre gesamte Willenskraft, um nicht zurück zu zucken. „Und natürlich ist da noch Theodore... Remus’ Sohn. Er ist jetzt acht Jahre alt, glaube ich, und ich bin ganz besonders interessiert an seinem... Wohlergehen.“

Ihr gefror das Blut in den Adern. Sie kannte die Geschichte der Lupin-Familie aus Rita Kimmkorns Buch über den Jungen Der Lebte; Rita hatte jedes tragische Detail mit boshaftem Vergnügen breit getreten, und nur Harry Potters Mitarbeit hatte wenigstens die schlimmsten Auswüchse verhindert. Greybacks Absicht war nicht misszuverstehen; ihre Fähigkeiten im Recherchieren zu nutzen und ihm zu geben, was er haben wollte, würde wahrscheinlich bedeuten, dass sie das Schicksal dieses Kindes besiegelte.

Die Gedanken flatterten in ihrem Kopf wie Vögel auf der Flucht vor dem Fänger und seinem Käfig – war nicht Harry Potter der Pate des Jungen?? Und er würde ihn doch sicher gut beschützen, oder nicht? Mit ein wenig Glück würde es Greyback niemals gelingen, Hand an den Jungen zu legen.

Vicky Stone holte tief Atem und stählte sich gegen ihr nagendes Gewissen.

Dieser Bestie vor ihr zu erzählen, wie er die Lupins finden konnte, hatte nichts zu bedeuten... nur etwas öffentlich zugängliches Wissen, das Greyback benutzen mochte... oder nicht. Die Konsequenzen dieses Handels war sowieso nicht ihre Angelegenheit. Sie kannte diese Leute kaum... außer Ruta, und die frühere Bekanntschaft mit ihr hatte Vicky nur Demütigungen und Niederlagen eingebracht. Vielleicht, dachte Vicky mit einem kleinen Kitzel schuldbewusster Genugtuung, war ein gewisses Ausmaß von Schrecken und Gefahr für Ruta Lupin durchaus gerechtfertigt.

Endlich war Vindictia Stone damit an der Reihe, erfolgreich zu sein.

„Sie werden ein paar Tage warten müssen,“ hörte sie sich selbst kühl sagen. „Jedes einzelne Stück Information zusammen zu tragen bedeutet einiges an Arbeit. Nächste Woche – gleiche Zeit, gleicher Ort?“

„Gleiche Zeit, gleicher Ort.“ Seine Stimme lang schwer von dunklem, bösartigen Vergnügen. „Das soll wohl heißen, dass ich auf dich zählen kann?“

„Natürlich.“ Vicky nickte knapp und entschieden. „Solange Sie Ihren Teil der Abmachung einhalten, tue ich es auch.“ -

Sie trafen sich eine Woche später nochmals, und sie sagte ihm, wo er Rudolphus, Ruta und Theodore Lupin finden konnte. Dieses Mal erhob ihr abgehärtetes Gewissen keine Einwände mehr, und sie machte sich eifrig Notizen, während Greyback ihr von dem Werwolfs-Orden in Rumänien erzählte. Er weigerte sich allerdings, ihr irgendein Detail über sein Leben zu verraten; er sagte ihr, sie würde seine Geschichte bekommen, sobald er festgestellt hatte, dass ihre stimmte... und Vicky verließ die Nokturngasse mit einer Mischung aus Angst, dass sie übertölpelt worden war und der sturen Überzeugung, dass ihre Zeit des Ruhmes endlich zum Greifen nahe war.

Das war Ende August gewesen. Seither keine Eule, keine Nachricht, nicht ein einziges Wort. Fenrir Greyback hatte sich in Luft aufgelöst, und ihre Träume von einer stürmischen Karriere drohten, das selbe zu tun.

Vicky starrte auf den Artikel und das grimmige Gesicht von Remus Lupins Vater hinunter. Sie konnte nicht noch länger warten... sie musste herausfinden, was passiert war, bevor Rita Kimmkorn etwas über ihre geheimen Pläne heraus bekam. Was Rudolphus Lupin anging, gab es keinerlei alarmierende Neuigkeiten; der alte Zauberer war offenbar noch immer heil und gesund und lebte unbehelligt in seinem Haus in der Nähe von London. Und wenn man Greybacks berüchtigte Vorliebe für sehr junges Fleisch in Betracht zog, dann hatte er ziemlich sicher zuerst sein Glück bei Remus Lupins Abkömmling versucht.

Vicky konnte sich den Blick in ihre Notizen sparen. Theodore Lupin lebte bei seiner Großmutter, in einem kleinen, abgelegenen Muggeldorf im Norden... genau wie ihre ehemalige Klassenkameradin. Sie würde sich die Tatsache zunutze machen, dass Rita gerade vollkommen damit beschäftigt war, die Druckfahnen der Snape-Biographie zu lesen, und ihre Abwesenheit wahrscheinlich sowieso nicht bemerkte. Sie musste Greybacks Spur aufnehmen.

St. Mary Green, dachte Vicky Stone, ein sanftes, zuversichtliches Lächeln auf ihrem Name klang wie eine hoffnungsvolle Anrufung in ihrem Geist wider. St. Mary Green, Eskdale, Lake District.

*****

Ruta Lupin schwamm aus den Tiefen eines traumlosen Schlummers zurück ins Bewusstsein. Rotgoldenes Licht schimmerte hinter ihren geschlossenen Augenlidern; sie wandte ihren Kopf auf dem Kissen, streckte ein Glied nach dem anderen und begriff mit bodenloser Erleichterung, dass ihr Körper zu seiner menschlichen Gestalt zurück gekehrt war.

Ihre Sinne waren nach der Verwandlung allerdings noch immer überwach und scharf; der frische Duft der Zitronengeranie auf dem Podest neben dem Bücherregal mischte sich mit dem Lavendelaroma der Seife, die sie benutzte, um die Vorhänge zu waschen. Ein Hauch von Asche und Holzrauch hing in der Luft und sagte ihr, dass jemand am Abend zuvor ein Feuer im Kamin angezündet haben musste. Das glatte Gewebe des Bettbezuges aus Leinen fühlte sich auf ihrer bloßen Haut an wie eine sinnliche Liebkosung.

Ihrer bloßen Haut.

Ruta öffnete die Augen. Sie setzte sich auf; ihr war ein wenig schwindelig und flau, und sie brauchte eine Weile, die vertraute Umgebung in sich aufzunehmen. Ihr Blick fand die alte Pendeluhr auf dem Kaminsims. Sie sagte ihr, das Mittag gerade vorüber war. Die Vorhänge waren zugezogen, aber ein schmaler Sonnenstrahl malte eine helle Linie auf den Teppich. Ein Häufchen grauer Asche lag auf dem Kaminrost, und dann entdeckte sie etwas Kleines, Rechteckiges, dicht neben der Uhr. Sie schob die Decke zurück und stand auf; sie hatte mit einem intensiven Gefühl der Unwirklichkeit zu kämpfen. Nachdem sie mehr als drei Tage im Körper eines Wolfes gelebt hatte, kam es ihr verstörend fremd vor, sich auf zwei menschlichen Beinen fort zu bewegen.

Sie stand vor dem Kamin und hielt das Buch in ihren Händen. Die Legenden von Beedle dem Barden; sie hatte sie nach der letzten Gutenacht-Geschichte für Teddy in Dromedas Haus aus Versehen mit nach Hause genommen.

Es war einmal ein wundersamer Garten am weit entfernten Ende eines magischen Königreiches, umschlossen von einer hohen Mauer und von mächtigen Bannsprüchen geschützt, die kein Zauberstab zu brechen je imstande war.“ Stephen, der hier im Sessel saß und ihr das Märchen vorlas, das sie am meisten liebte, während sie in der Gestalt eingeschlossen war, die der Fluch ihr aufzwang... das Entsetzen, aus ihrer menschlichen Identität gerissen zu werden, gedämpft durch den Trank, den er ihr gegeben hatte, und die dunkle, vertraute Stimme, die sie in ihrer Hilflosigkeit zur Ruhe brachte.

Ihr Daumen strich über die silbernen Schädel auf dem Einband, während der Rest der Nacht sich endlich in ihrem Geist entfaltete, ein Bild von eigentümlicher Schönheit und von Frieden.

Ihre Augen, die sich in der Dämmerung öffneten, sein Gesicht über ihr und seine Hand auf ihrer Wange... „Bist du... sicher?“ Und dann hatte seine Berührung sie langsam in Brand gesetzt, sein Arm sie gehalten, während die letzten Überreste ihrer Furcht unter seinen Händen auf ihrem Körper dahin schmolzen. Was peinlich und beschämend hätte werden können, verwandelte sich in ein Fest, und seine Unfähigkeit, sich zurückzuhalten, machte ihr Vergnügen nur noch intensiver.

Ruta ging hinüber zur Tür, nahm den Morgenmantel vom Haken, und es gelang ihr, hinein zu schlüpfen und ihn um ihren nackten Körper zu schlingen; sie registrierte abwesend, dass sie ihren Arm viel weiter beugen konnte als zuvor... die strikte Entschlossenheit, mit der Winky ihre Übungen überwachte, zahlte sich wirklich aus.

Sein Kuss die reine Erlösung, sein Leib ein solider Wall gegen das Chaos ihres zerschmetterten Lebens. Ihre Lippen, die die seinen hungrig für sich beanspruchten, als sie spürte, wie ihr Höhepunkt näher kam, jede Fiber ihres entwöhnten Körpers gespannt wie eine Bogensehne, seine atemlose Stimme, die in ihren Ohren widerhallte, während sie gemeinsam Erfüllung fanden, Mund an Mund, Herz an Herz.

Sie erhaschte in dem kleinen, runden Spiegel einen Blick auf ihr glühendes Gesicht und stand still. Unbewusst hob sie die Hand und zog die Spur seines letzten Kusses mit der Fingerspitze nach. Sie entdeckte, was sie da tat und errötete nur noch tiefer. Zum ersten Mal bemerkte sie die Stille im Haus. Wo war er? War er gegangen? Würde er denn gehen... nach einer solchen Nacht?

Sie wandte sich von den Spiegel ab und ging die Treppe hinunter. Aus der Küche kam kein Geräusch, kein Dufthauch von Winkys frisch gekochtem Kaffee. Die Hauselfe musste gegangen sein, als ihr Herr letzte Nacht eintraf. Aber sie wusste, dass Stephen noch da war... sogar schon, ehe sie das Wohnzimmer betrat.

Er saß am Tisch und schaute auf die Straße hinaus. Weste und Jacke hingen über der Stuhllehne, und sein Haar sah ein wenig feucht aus. Ruta holte tief Luft.

„Guten Morgen, Stephen,“ sagte sie. „Offenbar hast du meine Rosmarinseife gefunden – eine gute Wahl, denn die mit Rosenöl und Lavendel würdest du wohl nicht mögen.“

Er drehte sich rasch um, und ihre Blicke trafen sich. Sie sah Überraschung und ein wenig Belustigung in seinem Gesicht.

„Guten Morgen, Ruta.“ Er stand auf. „Es gibt Frühstück für dich, obwohl du dich mit meinen armseligen Fähigkeiten zufrieden geben musst. Ich habe Winky gestern Abend nach Hause geschickt. Komm und setz dich hin, während ich es hole.“

Ruta lächelte, seltsam beruhigt durch seinen beiläufigen Ton. „Lass mich raten... Porridge? Und du hast dir einen Assam-Tee gekocht.“

„Sehr bemerkenswert.“ Er sah ihr zu, wie sie sich auf der anderen Seite des Tisches niederließ. „Eine Nachwirkung der Verwandlung, nehme ich an?“

„Ich glaube schon – und sicher nicht die Schlechteste.“ Ihr Lächeln vertiefte sich. „Weißt du, ich bin unglaublich hungrig.“

„Natürlich bist du das.“ Stephen nahm seine leere Tasse und seinen Teller. „Du hast seit fast drei Tagen nichts mehr gegessen.“ Er verließ das Zimmer und kam mit einer kleinen, dampfenden Schüssel und einer weiteren Tasse zurück. „Kakao,“ erklärte er. „Und ich habe den Porridge mit einer Mischung aus Milch und Wasser gemacht... wir sollten deinen leeren Magen besser nicht überfordern.“

„Ich danke dir, Stephen.“ Sie nahm einen ersten Löffel von dem Porridge. Er war weich und süß; Stephen war großzügig mit dem Zucker umgegangen, und während sie pflichtbewusst weiter aß, spürte sie, wie sich ihre Lebensgeister hoben. „Sehr gut, wirklich.“

„Aber nicht dein Lieblings-Frühstück, oder?“

Sie betrachtete ihn überrascht. „Das ist wahr. Woher weißt du...“

„Winky.“ Für einen kurzen Moment tanzte ein Lachen in den schwarzen Augen; sie sah es voller Entzücken. „Ich bin über deine Vorlieben umfassend informiert. Croissants, Butter, Marmelade und Honig... und natürlich bist du hoffnungslos süchtig nach Winkys Kaffee.“

„Natürlich.“ Plötzliche Wärme stieg ihr ins Gesicht. „Du scheinst mich ziemlich gut zu kennen.“

Stephen antwortete nicht; er setzte sich wieder in den Sessel und blickte auf seine Finger hinunter. Die Stille wuchs, bis sie betäubend wurde, und plötzlich hatte sie das Gefühl, als gähnte ein tiefer Abgrund zwischen ihnen. Es war geradezu lächerlich. Während dieser unglaublichen, letzten Nacht hatte sie fast jeden Zoll seiner Haut erforscht – und jetzt wagte sie es nicht einmal, die Hand auszustrecken und seine zu berühren.

„Ganz im Gegenteil, Ruta,“ sagte er endlich. „Du bist für mich ein fortwährendes Rätsel. Ich hätte nie erwartet, etwas... jemandem wie dir zu begegnen.“

„Ich bin nichts Besonderes,“ erwiderte sie leise. „Und du solltest wissen – besser als irgendjemand sonst – wie fehlbar ich bin.“

„Hör auf damit.“ Seine Stimme war überraschend rau. „Muss ich dich wirklich an die unglückseligen Taten meiner Jugend erinnern? Du magst versucht haben, einen trauernden Mann in eine Liebe zu pressen, die er nicht wirklich fühlte, aber ich habe den Inhalt von Trelawneys verdammter Prophezeiung an den Dunklen Lord verraten und seinen Kummer überhaupt erst verursacht – und den von vielen anderen.“

Deinen eigenen eingeschlossen, dachte Ruta, aber sie sagte es nicht laut.

„Und was kommt als Nächstes?“ fuhr Stephen fort. Jetzt war er es, der die Hand ausstreckte und sie berührte; kräftige Finger schlossen sich um ihr Kinn und hoben ihren Kopf an, bis ihre Augen sich begegneten. „Wirst du den Versuch machen, dich dafür zu entschuldigen, dass du mich in diese Freundschaft und endlich in dein Bett gelockt hast?“

Sie starrte ihn an; sie konnte nicht sprechen.

„Mit der selben Rechtfertigung könnte ich behaupten, dass ich mich vor zwölf Stunden in dein Haus gestohlen und darauf gewartet hätte, dass du dich zurückverwandelst, und dass ich meine ruchlose Missetat damit gekrönt hätte, deine Erschöpfung und Verwundbarkeit auszunutzen.“

„Das hast du nicht!“ keuchte Ruta, hin- und her gerissen zwischen Entsetzen und Belustigung.

„Du hast Recht, das habe ich nicht.“ Er gab ihr Kinn frei und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Was für Idiotien wir auch in unseren jüngeren Jahren begangen haben – und was ich tat, als ich älter wurde und es eigentlich hätte besser wissen müssen – es hat nichts mit dem zu tun, was letzte Nacht geschehen ist.“

Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. „Ich bin froh, dass du es auf diese Weise siehst.“

„Ich würde es nicht anders sehen wollen.“ Er schaute wieder aus dem Fenster. „Es war ein... ein unerwartetes Geschenk, und ich würde nie wagen, es durch Erinnerungen und Misstrauen herabzusetzen.“

„ja. Aber, Stephen...“ Jetzt wandte Ruta ihren Blick ab und schaute auf ihre Hände hinunter. „Ich möchte immer noch, dass du weißt, dass ich nicht erwarte... dass du nicht... dass ich nie...“ Ihr wurde klar, dass sie stammelte. Sie brach ab und biss sich auf die Lippen.

Ruta.“ Ungläubig hörte sie das Lächeln in seiner Stimme. Der Sessel schrammte über den Fußboden, und ganz plötzlich spürte sie seine Hände. Er stand hinter ihr und warme Finger pressten sich gegen die starren Muskeln ihrer heilen Schulter und ihres oberen Rückens. „Dein ehrenhafter Versuch, mir zu versichern, dass ich keine Konsequenzen zu befürchten habe, ist wahrhaft herzerfrischend.“

Das Lächeln war noch immer da, aber sie konnte sein Gesicht nicht sehen, um sich zu versichern, dass er sie tatsächlich neckte. Er hatte die langen, wirren Strähnen in ihrem Nacken geteilt, und seine Fingerspitzen webten ein segensreiches, kraftvolles Muster an ihrem Rückgrat entlang, wobei er sanft ihren Kopf unten hielt.

„Machst du dich über mich lustig?“ Sie sprach durch den Vorhang ihrer Haare.

„Nein, natürlich nicht.“ Nun war seine Stimme ernst und ein wenig müde, und seine Hände glitten auf ihre Schultern zurück und weiter, bis sie sanft ihren Hals und ihre Schultern streichelten. Ruta lehnte sich in seine Berührung hinein schauderte vor Vergnügen, während eine Gänsehaut ihre Arme überzog. Die Wärme seines Körpers hinter ihr war wie ein festes Bollwerk gegen das Chaos ihrer Ängste; sie wünschte sich verzweifelt, das alte Misstrauen gegen die zerstörerischen Wege ihres Herzens beiseite zu fegen und an das zu glauben, was auch immer vor ihm und ihr gemeinsam liegen mochte. Wie dumm ich gewesen bin, dachte sie, vor fünfundzwanzig Jahren, als ich Freundschaft und alte Zuneigung mit leidenschaftlicher Liebe verwechselt habe. Jetzt kannte sie den Unterschied, aber eine tiefe Furcht, von diesem komplizierten Mann mit der vernarbten Seele zu viel zu erwarten, zu viel zu verlangen, machte sie hilflos und verschloss ihr den Mund.

„Ich muss für eine Weile weg,“ sagte er, die Handflächen leicht auf ihren Oberarmen. „Ich warte gerade auf einen Bericht, den Minerva mir für heute versprochen hat. Gleich nach Greybacks Angriff habe ich sie um einige gründliche Recherchen in Durmstrang gebeten. Sie haben dort Bücher über die Behandlung von Werwölfen, die ich nie in die Hand bekommen habe; manche von ihnen wurden von Grigorij Grigorieff geschrieben. Der Mann ist eine Legende. Er hat fast siebzig Jahre in Durmstrang unterrichtet und mehr über den Fluch des Mondes vergessen, als ich jemals gewusst habe.“

Ruta spürte, wie die Anspannung in ihren Körper zurückkehrte. „Wieso willst du diese Bücher lesen?“

Stephen trat zurück und wandte sich zum Fenster; dicke Wolken verbargen die bleiche Scheibe der Sonne und machten den Tag draußen grau und dunkel. „Ich hoffe auf Inspiration; Marcus Belbys Wolfsbanntrank mag dich davor bewahren, dich ganz an die Verwandlung zu verlieren, aber die Zeit des Vollmondes musst du trotzdem im Körper eines Wolfs verbringen. Vielleicht könnten mir weitere Informationen dabei helfen, einen Trank zu entwickeln, der es dir erspart, dich überhaupt verwandeln zu müssen.“

„Das wäre... wundervoll,“ flüsterte Ruta; Tränen brannten ihr in den Augen, und sie presste die Lippen fest gegen die Worte zusammen, die überzufließen drohten. Ich bin durch all deine Verteidigungslinien gebrochen, ich habe dich in die Vendetta eines wahnsinnigen Monsters hineingezogen, dich aus der Deckung gezerrt, dir die Sorge für mein Wohlergehen aufgebürdet... und noch immer gibst du mir mehr, als ich je von dir verlangen könnte.

„Ruta.”

Jetzt stand er neben ihr und als sie aufschaute, begegnete sie seinem durchdringenden Blick. „Ich habe dir doch gesagt, hör damit auf. Und nein, ich habe keine Legilimantik benutzt... es ist leicht genug, in deinem Gesicht zu lesen.“

Unerwarteterweise ließ der Druck auf ihrem Herzen nach, und ihr Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. „Ob du es glaubst oder nicht, bei dem Gedanken, ein offenes Buch für dich zu sein, fühle ich mich keineswegs unwohl.“

„Sehr gut. Das sollte die Dinge wesentlich einfacher machen – für uns beide.“ Plötzlich nahm er ihre Hände und hob sie an seinen Mund. Es war ein eigentümlicher Kuss, zärtlich und fast ehrerbietig. „Hör auf, dir Sorgen zu machen, Ruta... was immer vor uns liegt, wir sollten versuchen, optimistisch zu sein.“ Er hielt inne. „Wenn ich irgend etwas gelernt habe, seit ich dir begegnet bin, dann, dass etwas Vertrauen in die Zukunft ganz sicher nicht schadet.“

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Dann werde ich versuchen, dieses Vertrauen auch in meinem Herzen zu finden.“

„Ich sollte dir Winky schicken, um ein Bad für dich vorzubereiten und dir mit deinem Morgenmantel behilflich zu sein,“ sagte er, ließ ihre Hände los und ging langsam Richtung Tür. „Sie wird dir sowieso beistehen wollen... seit du ihr diese Ohrringe geschenkt hast, betrachtet sie dein Wohlergehen als ihre persönliche Angelegenheit.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich sie brauche. Ich denke, ich kann den Wasserhahn allein aufdrehen, und ich kann meinen Arm viel leichter benutzen als noch vor einer Woche. Es wird Zeit für mich, unabhängiger zu werden. Aber...“ Sie strich sich eine zerzauste Locke hinter das Ohr. „Ich hätte gern deine Hilfe mit meinem Haar.“

Er stand auf der Schwelle und blickte mit einem Funkeln in den Augen zu ihr zurück. „Ich wäre mehr als glücklich, dir den Gefallen zu tun, Ruta. Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst... lass es einfach so, wie es ist.“ Seine Lippen zuckten. „Es ist wunderschön.“

Er verschwand hinaus in den Korridor, und einen Moment später schloss sich die Vordertür hinter ihm. Ruta blieb reglos mitten im Wohnzimmer stehen, das Gesicht weich vor Staunen.

*****

„Oh, aber natürlich kenne ich Ruta Lupin!“ sagte Eleanor Carpenter und erhob dabei die Stimme, um das Geräusch des Föns zu übertönen. „Nettes, freundliches Mädchen... obwohl sie in letzter Zeit ein bisschen sehr für sich bleibt. Aber ich denke, das ist mehr oder weniger verständlich, nach so einem fürchterlichen Unfall.“

„Ein Unfall?“ Die Frau neben ihr – den Kopf mit Lockenwicklern gespickt – wirkte eindeutig schockiert. „Was ist ihr zugestoßen?“

Mrs. Carpenter sah sich im Hauptraum von Annie Archers Beauty Salon um. Es war die einzige Friseurin in St. Mary Green, und – wie an einem Samstagmorgen üblich – war jeder einzelne der roten Stühle besetzt. Zufrieden mit der Größe ihres Publikums, fuhr sie fort:

„Andromeda Tonks hat mir erzählt, dass Ruta nach London fuhr, um ihren Vater zu besuchen. Als sie in Bayswater eine Straße überquerte, wurde sie von einem betrunkenen Autofahrer schlichtweg übersehen, und sie wurde auf den Gehweg geschleudert. Seither ist ihr rechter Arm gelähmt... was die Dinge für sie ziemlich schwierig macht, armes Ding.“

„Wieso denn das?“ Die Augen der Frau auf dem nächsten Stuhl waren erfüllt von ehrlicher Sorge.

„Sie hat als Gärtnerin gearbeitet, in der großen Gärtnerei drüben in Berwick. Aber mit diesem Arm... es ist wirklich eine Schande. Sie hat ein phantastisches Händchen mit Blumen, und es wird schwer sein, jemanden mit ihrem Geschick für Rosen zu finden. Seit ich ihre Setzlinge kaufe, habe ich keine Probleme mehr mit Mehltau – und das seit fast acht Jahren!“

„Wann wurde sie denn verletzt?“

Mrs. Carpenters Tochter, die für ihr allwöchentliches Waschen und Legen erschienen war, nahm den Ball auf.

„Vor zwei Monaten. Das war in der Nacht, als wir hier dieses Riesendrama hatten.“

„Riesendrama? An einem solchen Ort?“

„Oh ja. Bernie Smithers hat sich selbst zum Helden gemacht, als er das Monster erlegte.“ Der Spott in ihrer Stimme machte deutlich, dass sie keine sehr hohe Meinung von dem jungen Constabler hatte.

„Ein Monster?“ Die Besucherin schien froh zu sein, sich als Zuhörerin für jeden anzubieten, der etwas zu erzählen hatte.

Eleanor Carpenter riss die Unterhaltung wieder an sich und warf Annie Archer durch die erstickenden Haarspray-Wolken einen missbilligenden Blick zu. „Es war nämlich gar kein Monster. Es war ein Wolf. Er kam Ende August her, richtete unter den Schafen meines Schwiegersohnes ein Gemetzel an und tötete danach einen alten Mann. Die Leute hatten wirklich Angst... und dann fand Bernie Smithers dieses ,Monster’ mitten in der Nacht und schoss es tot, gleich neben der alten Eiche in der Mitte von Mill Walk. Und dann schlug ein Blitz in den Baum und verbrannte ihn zu Asche, zusammen mit dem Wolf.“

„Ruta muss die Fahrt nach London aber wohl am selben Tag gemacht haben,“ sagte ihre Tochter, die sich für das Thema erwärmte und Annie Archers Hand mit der Haarbürste ungeduldig beiseite wedelte. „Minnie Smith hat mir gesagt, sie hätte sie um die Mittagszeit herum besucht, um die Astern abzuholen, die sie bestellt hatte... erstaunliche Sorte, sie blühen bis Weihnachten.“ Sie fing den Blick der Frau ein, die neben ihrer Mutter saß. „Das war der 28. August, und bei all der Aufregung hätte wahrscheinlich überhaupt niemand bemerkt, dass Ruta das Dorf verlassen hatte, wenn Mrs. Tonks es uns nicht gesagt hätte. Woher kannten Sie sie doch gleich, Miss...?“

„Stone, Vicky Stone. Ich hatte ja keine Ahnung,“ sagte die Frau; sie war sichtlich erschüttert. Ihr hübsches, ovales Gesicht war ganz bleich. „Ruta und ich, wir waren Klassenkameradinnen, und wirklich gute Freundinnen. Aber nach unserem Abschluss habe ich ihre Spur verloren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich war sogar Ende August in London; ich hätte sie wenigstens im Krankenhaus besuchen können! Glauben Sie, es geht ihr jetzt gut genug für einen Besuch?“

„Das hoffe ich doch,“ sagte Mrs. Carpenter mit einem Stirnrunzeln. „Jetzt, wo ich darüber nachdenke - während der letzten drei Tage habe ich sie überhaupt nicht gesehen. Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen sagen, wo sie wohnt... zu Fuß sind es kaum fünf Minuten von hier.“

Die Frau lächelte sie an. „Das wäre ganz, ganz reizend,“ sagte sie.

*****

Eine halbe Stunde später ging Vicky Stone die Straße hinunter; sie gratulierte sich noch immer zu den Einfall, beim örtlichen Friseur anzufangen; jede Menge Frauen mit jeder Menge Zeit für jede Menge Tratsch. Die Informationen, die sie hatte zusammentragen können, entschädigten sie sogar für die inakzeptable, geschmacklose Frisur und das unangenehme Gefühl von Muggel-Haarspray auf der Haut.

Ein Wolf, der Ende August getötet worden war. Ruta Lupin, die angeblich beinahe zur gleichen Zeit in London von einem Auto angefahren wurde, und die danach wundersamerweise für mehr als einen Monat hinter den Mauern eines namenlosen Krankenhauses verschwand. Wieder Ruta Lupin, die in dieses dumme, kleine Kaff zurückkehrte und sich während der letzten drei Tage in ihrem Haus versteckte. Sie würde so schnell wie möglich den Mondkalender überprüfen müssen, aber sie spürte bereits die Vorahnung einer wirklich großen Enthüllungsgeschichte, stark genug, dass sie ihr in den Fingerspitzen kribbelte.

Sie sah das Straßenschild mit der Aufschrift Tulip Close, wandte sich nach rechts und kam an zwei winterkahlen Gärten hinter grauen Mauern vorbei. Es war leicht, Ruta Lupins Haus zu finden; sie sah sauber gestutzte Rosenbüsche und eine blattlose Trauerweide, aber Astern in warmen Farben blühten noch immer üppig in rechteckigen Beeten. Sie rahmten einen mit Steinplatten belegten Weg ein, der zum Eingang führte... und als Vicky nur noch fünf, sechs Meter entfernt war, öffnete sich plötzlich die Haustür.

Vicky huschte hastig hinter die Deckung eines ungepflegten Rhododendronbusches und wartete mit angehaltenem Atem. Während der letzten Tage hatte sie sich ständig gefragt, wie Ruta – die unscheinbare, die unerträgliche Ruta Lupin – wohl nach all diesen Jahren aussehen mochte...

Aber die Person, die auf den Weg hinaus trat, war ein Mann – eine hoch gewachsene Gestalt, einen gefalteten Mantel über dem Arm und den Kopf unbedeckt. Schwarzes, kurz geschnittenes Haar und ein bleiches Gesicht, schockierend vertraut... Vicky zog sich noch tiefer in den Schatten des Busches zurück und beobachtete den Fremden, während er mit langen, raschen Schritten an ihr vorüber ging... und dann schlug sie alle Sorgfalt und Vorsicht in den Wind, hastete auf den Gehsteig hinaus und starrte hinter ihm her.

„Großer Merlin!“ flüsterte sie. „Großer Merlin!“

Während der letzten acht Monate hatte sie fast ihre gesamte Zeit damit verbracht, die Recherchen für Rita Kimmkorns neuestes Buch zu machen, und nachdem sie Hunderte und Aberhunderte von Photographien betrachtet hatte, waren die Gesichtszüge des Mannes, von dem dieses Buch handeln sollte, tief in ihr Gedächtnis eingegraben.

Vicky Stone stand in der Mitte von Tulip Close, überwältigt von einem strahlenden Gefühl des Triumphes; ihr Herzschlag raste. Mit einem Federstrich konnte sie nun die Waagschale von gleich zwei Leben zum Kippen bringen, und diese plötzliche, unerwartete Macht schmeckte atemberaubend süß.

Ruta Lupin. Und Severus Snape.

Vvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvvv

Anmerkungen:

(1) Der Titel Severus Snape – Schurke oder Heiliger? war keineswegs eine von meinen abgedrehten Einfällen. J.K. Rowling erwähnt ihn (und Ruta Skeeter als Autorin dieses zweifellos ganz scheußlichen Stückchens Schreiberei) in einem Chat am 30. Juli 2007

(2) Catherine Monvoisin (auch La Voisin oder Malvoisin genannt) ist eine historische Persönlichkeit. Sie wurde 1640 geboren und starb am 22. Februar 1680. Abgesehen von der Tatsache, dass sie keine „echte“ Hexe im Sinne von J.K. Rowling war, fühlte sie sich zu den Dunklen Künsten hingezogen, verkaufte giftige Liebestränke und zelebrierte Schwarze Messen mit dem Blut neugeborener Kinder (tut mir echt Leid, aber auch das ist historisch...).


Top           Nächstes Kapitel              Harry-Potter-Stories              Home