Unterwegs mit dem anderen Zauberer - Eine Reise zur Heilung
(Following the other Wizard - A Journey into Healing)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion



Kapitel 15
Die Ebene von Gorgoroth

Es gab Dornbüsche im Morgai; Frodo erinnerte sich nur zu gut an sie. Allerdings hatte er vergessen, wie groß sie waren - grimmig aussehende Monster mit fußlangen Dornen. Er machte einen großen Bogen darum, aber Radagast untersuchte sie sorgfältig, befühlte die Blätter und bog die Zweige durch.

"Sie mögen nicht schön sein, Esel, aber sie sínd gesund. Da muss etwas Nässe gewesen sein, um sie so groß werden zu lassen.” 

Sie durchquerten den Morgai und kam auf der Ebene von Gorgoroth heraus. “Ich will das Schlimmste sehen, womit wir es zu tun bekommen; dann können wir zurückgehen und dort arbeiten, wo es nicht so schlimm ist,” sagte der Zauberer. Frodo nickte. Seiner Meinung nach war selbst Gorgoroth nicht so übel… jedenfalls nicht so, wie er es in Erinnerung hatte; alles wäre besser gewesen als das!   

Der Himmel war klar und hoch, die Frühlingssonne schien ihm warm auf den Rücken. Von Zeit zu Zeit fanden sie einen schmalen Strom, der sich seinen Weg durch die Felsen suchte, und an der Feuchtigkeitslinie entlang schlugen die Dornbüsche ihre Wurzeln. Nicht so groß wie die im Morgai, aber sie sahen grün und hoffnungsvoll aus. 

Sie folgten der alten Straße nach Süden, hielten sich dabei aber wohlweislich abseits vom Berg und der geschwärzten Grube, die Barad-dûr gewesen war. In Abständen gab es Wasserlöcher, und in noch größeren Abständen zerstörte Türme, die einst die Außenposten vom Reich des Dunklen Herrschers gewesen waren. Dem ersten, zu dem sie kamen, näherten sie sich mit Vorsicht und stiegen im Schutz der Nacht zu ihm hinauf. Er war vollkommen verlassen; nur ein paar verrostete Waffen lagen herum, sonst nichts. Die Steinmauern sackten in sich zusammen. 

“Ein guter Ort für Schlangen,” sagte Radagast. “also soll er ihnen überlassen bleiben. Gesundere Bewohner als die, die zuletzt hier gehaust haben… und weniger gefährlich.” Danach mieden sie die verwaisten Außenposten und lagerten auf der Straße. Zuerst waren sie wachsam, Faramirs Warnung im Gedächtnis, aber das Land schien leer zu sein.

“Ich denke, Faramir kann jetzt aufhören, Streifen zu schicken,” bemerkte Frodo, nachdem sie schon einen Monat dort waren, und Radagast nickte. Die gepflasterte Straße führte pfeilgerade durch eine Gegend aus festgebackener, gelber Erde und grauen Felsen. Es bewegte sich mehr über als auf dem Boden; Wolken trieben den Himmel entlang.

Sie folgten der Straße, blieben aber nicht darauf. Die Wasserlöcher wurden von kleinen Flüssen gespeist, die von den Anhöhen herunterkamen – dem Ephel Dú‚ath, den Schattenbergen, die im Westen aufragten und aus dieser Entfernung fast schwarz aussahen. Sie folgten jeder Quelle, zu der sie kamen, auf der Suche nach Leben – die Dornbüsche waren das, was sie am häufigsten fanden, aber manchmal gab es entlang des Wassers auch andere Pflanzen, stachelige, verhungert aussehende Dinger, aber lebendig. Und eines Tages trat Frodo beinahe auf eine Kröte, deren gefleckter, warziger Leib mit der gelben Erde verschmolz. Er erschreckte sich genau so heftig wie die Kröte, und Radagast lachte über sie alle beide. Radagast holte die Samen heraus, die Goldbeere ihm gegeben hatte, für Pflanzen mit einer heilenden Wirkung auf verdorbenen Boden. Sie pflanzten sie an jeder Stelle ein, die feucht genug aussah, dass sie zum Leben erwachen würden.

„Gib der Sache ein paar Jahre, Esel, und wir kommen wieder her und sehen, was dann wächst. Wenn diese Pflanzen aufgehen, werden sie den Boden für andere Dinge vorbereiten.”

„Was denn für Dinge? Wie werden sie hierher kommen, wo in tausend Jahren nichts mehr gewachsen ist?“

Radagast gluckste. „Nicht ganz so lange, Frodo. Wir sind weit von Barad-dûr entfernt. Saurons Hand wog hier nicht so schwer, nicht bis zu den letzten paar Jahren. Ich denke, es gibt noch immer Samen in der Erde, der aufsprießen wird, wenn er ein wenig Schatten hat, um ihn feucht zu halten. Und andere Samen werden herangetragen werden, mit dem Wind, auf den Füßen der Vögel. Wo sich jetzt nur Fels und unfruchtbares Land befindet, wird es wieder Grün geben.“ 

Dann, eines Morgens, entdeckten sie Leben, das sie weder erwartet hatten noch finden wollten. Radagast folgte gerade einem der kleinen Bäche, etwa hundert Meter von ihrem Schlafplatz entfernt, und Frodo briet für ihr Frühstück Schinken über einem kleinen Feuer. Plötzlich hörte er eine grobe Stimme hinter sich, und er ließ die Gabel fallen, wirbelte herum, noch immer vorgebeugt, und tastete nach seinem Schwert.

Orks!

Drei Orks von der kleineren Art, nicht viel mehr als einen Kopf größer als er selbst, aber fassbrüstig und mit massigen Muskeln. Sie umringten ihn und sein kleines Feuer mit gespannten Bögen, und drei Pfeile zielten auf sein Herz. Er ließ seine Hand von Stichs Griff herunterfallen. Ein Schwert bot keinen Nutzen gegen Bogenschützen – er würde einen Pfeil im Herzen haben, ehe er es auch nur aus der Scheide bekam. Er fragte sich, wie weit entfernt Radagast wohl war, hoffte, dass er sich außer Sichtweite befand… er wunderte sich, wieso die Orks mit aufgelegten Pfeilen um ihn herumstanden, wieso sie ihn nicht bereits erschlagen hatten.

Seine Gedanken erschienen ihm eigenartig verlangsamt und dumpf, und dann durchschnitt Radagasts Stimme seine Furcht wie ein frischer Wind.

„Hungrig, Jungs? Wir haben genug Essen, um zu teilen. Setzt euch, macht es euch bequem. Ist der Schinken bald durch, Esel?“

Er klang so wie immer, fröhlich, unaufgeregt, als wäre nichts Unpassendes an einer Gruppe bewaffneter und feindseliger Orks, die zum Frühstück auftauchten. Frodo fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und versuchte, sich dem ruhigen Klang der Stimme des Zauberers anzupassen.

„Ja, er ist durch.“

„Sehr schön – gib unseren Gästen die erste Portion und tu noch etwas mehr davon zum Braten in die Pfanne. Ich sehe nach, was wir sonst noch für Essen haben.“

Unsere Gäste. Einfach noch ein paar weitere, wilde Geschöpfe, die man füttern musste – Vögel, Wölfe, Bären – und jetzt waren es Orks. Frodo schnitt den Schinken in drei Portionen und stapelte ihn auf sein eigenes Holzbrett. Er stand langsam auf, wobei er jeden Moment das Singen einer Bogensehne erwartete, und das Gefühl eines Pfeiles, der in seine Brust krachte. Er trug das Brett zu dem größten der Orks hinüber. 

Zu seiner Überraschung machte die Kreatur mit dem Kopf eine ruckartige Geste zu dem kleinsten der drei hinüber; er bedeutete ihm, das Essen zu nehmen. Der Große fuhr damit fort, mit seinem Pfeil auf Frodo zu zielen, während die anderen ihr Fleisch hinunterschlangen. Als sie fertig waren, legten sie ihre Pfeile wieder auf die Sehne, während ihr Anführer die Portion aß, die sie für ihn übrig gelassen hatten.

Frodo zog sich zurück, hockte sich ans Feuer und legte ein weiteres Stück Schinken in die Pfanne; er versuchte, die Pfeile zu ignorieren, versuchte das Verhalten dieser Orks zu begreifen. Sie hatten das Fleisch miteinander geteilt, keiner von ihnen hatte versucht, es dem anderen wegzuschnappen. Mehr noch, sie hatten einander Deckung gegeben und sich gegenseitig vor Gefahren beschützt. Seine Lippen zuckten unwillkürlich bei der Vorstellung, dass er für diese drei irgendeine Gefahr darstellte, aber anscheinend dachten sie das.

Andersherum wird ein Schuh draus, Jungs, sagte er ihnen im Stillen. 

Seine Erfahrungen mit Orks waren nicht gerade groß, aber er hatte auf der Fahrt genug von ihnen zu sehen bekommen. Mehr als genug, und er hatte niemals welche gesehen, die sich so aufführten. Er hätte nicht gemeint, dass Orks der Freundschaft fähig waren.

Radagast tauchte auf, den Umhang um irgendetwas herumgewickelt, und einer der Orks zielte mit einem Pfeil auf ihn. Er gluckste und setzte das Bündel auf dem Boden ab; er öffnete es und brachte einen Stapel runder, knuspriger Brotlaibe zum Vorschein.

„Bedient euch, Jungs. Ihr könnt diese Bogen weglegen, wisst ihr. Vor dem Frühstück bringen wir niemals jemanden um.“

Frodo spürte ein ziemlich hysterisches Gelächter in sich aufsteigen, und er biss sich heftig auf die Lippen. Das zweite Häufchen Schinken war durchgebraten, und er schnitt ihn auf und trug ihn so wie vorher zu den Orks hinüber. Radagast legte noch ein Stück in die Pfanne, nahm die Gabel und wartete darauf, ihn zu wenden. 

„Du holst uns am Besten etwas Wasser, Esel.“ Er blickte den größten der Orks an. „Du kannst mit ihm zum Bach gehen, wenn du dich dann sicherer fühlst.“

Frodo hob den kleinen Wasserkessel hoch. Der Orkanführer starrte ihn finster an. „Weg  mit dem Schwert,“ grollte er. Der Zauberer nickte.

„Ja, natürlich. Das ist es, was sie so schreckhaft macht. Mach einfach den Gürtel ab und lass ihn fallen, Esel.“

Frodo gehorchte, aber er hasste es, Stich so auf den Boden zu werfen – nie hatte er das Schwert so behandelt. In vergangenen Zeitalter von den Eldar geschmiedet, von Bilbo an ihn weitergegeben, als er zu der Fahrt aufbrach – das Schwert war sein größter Schatz, zusammen mit Arwens Juwel, der unter dem Hemd verborgen um seinen Hals hing. Aber er würde Radgast nicht enttäuschen, und er konnte den Sinn dieser Anweisung erkennen. Er ließ Gürtel und Schwert auf den Boden fallen; der Ork entspannte sich leicht und senkte den Bogen ein wenig, obwohl er den Pfeil noch immer aufgelegt und bereithielt.

„Geh, und versuch nicht, wegzulaufen! Ich folge dir.“

Er ging zum Bach, kehrte zum Lager zurück und hing den Eimer über das Feuer, während der Ork jeden seiner Schritte beschattete. Radagast hatte eine Portion Schinken für ihn zur Seite gestellt. Der Zauberer saß da und aß in aller Gelassenheit; die kleineren Orks beobachteten ihn wachsam, während sie an den Brotstücken rissen. Sie hatten für die Mahlzeit ihre Bögen weggelegt, aber in den freien Händen hielten sie unangenehm aussehende, krumme Messer. Der Anführer sagte scharf etwas in ihrer eigenen Sprache zu ihnen, und einer zuckte die Achseln, steckte das Brot in seine Ledertunika, hob seinen Bogen auf und zielte wieder auf Frodo. 

„Setzen. Da, neben deinen Herrn. Iss.“ Der große Ork schaute Frodo düster brütend an, and er nahm sein Frühstück und setzte sich neben Radagast. 

„Wir sind nicht gekommen, um euch ein Leid anzutun,“ sagte der Zauberer und blickte zu dem Anführer hoch. „Du setzt dich besser hin und isst, und wir sprechen darüber, du und ich.“

Der Ork grunzte, kam herüber und bediente sich mit dem Brot, einen Laib in jeder Hand. „Wozu bist du dann gekommen, alter Mann? Noch immer kommen Männer aus Gondor, Orks jagen, aber sie kommen mit Truppen. Nicht ein alter Mann und ein…“ Er schaute Frodo an und schüttelte den Kopf, als wüsste er nicht, wie er ihn bezeichnen sollte. Er stand vor ihnen, angespannt und misstrauisch, bereit, sich gegen jeden Angriff zu verteidigen; er riss mit geschwärzten Zähnen an dem Brot.

„Ich bin ein Heiler, für die wilden Dinge und für das Land. Dieser Halbling ist mein Freund und Gefährte. Wir kommen nicht aus Gondor.“

„Ein Heiler, was? Für wilde Dinge. Ist ein Ork ein wildes Ding?“

Frodo biss einen großen Brocken Brot ab, um nicht zu lachen. Er wusste, dass diese Orks sich jede Sekunde gegen sie wenden konnten, aber die entspannte Gelassenheit des Zauberers war ermutigend, und die Frage des Orks kam ihm lächerlich vor. Ich hoffe, ich bekomme nie etwas zu Gesicht, das noch wilder ist, dachte er.

„Braucht ihr denn einen Heiler?“ sagte Radagast.

Der Ork sagte etwas in seiner eigenen Sprache zu den anderen, und sie kamen und stellten sich zu beiden Seiten von Frodo und dem Zauberer auf, die Pfeile bereit. Der Anführer stopfte sich das letzte Stück Brot in den Mund und schnürte seine schmutzige Ledertunika auf; er zog sie von seiner rechten Schulter herunter und drehte sich um. Da war eine nässende Wunde oberhalb von seinem Schulterblatt, als wäre eine Pfeilspitze herausgerissen worden, worauf sich eine Entzündung einnistete.

„Heilst du Orks, alter Mann?“

Radagast stand auf und kam zu ihm herüber; er untersuchte die Wunde und strich mit den Händen über die grauwarzige Haut, die sie umgab.

„Wie lange ist das her?“

„Einen Mond. Vielleicht mehr. Heilst du Orks?“ fragte er wieder.

„Ich heile jedes Geschöpf, das meine Hilfe braucht,“ sagte Radagast ruhig. „Esel, hol mein Kräuterpaket, und schau in meinem Sack nach Verbandsmaterial.“ Er zog den Ork zum Feuer hinüber. „Setz dich, damit ich mein Werk an dir verrichten kann. Wie ist dein Name?“

Der Ork knurrte, aber er setzte sich hin. „Du heilst wilde Dinge, hast du gesagt. Sagen sie dir ihre Namen?“

Radagast warf Kräuter in das Wasser, das dampfend über dem Feuer hing und faltete einen Streifen Verband zu einem Umschlag. Er lächelte. „Manchmal tun sie es, wenn sie sprechen können. Ansonsten gebe ich ihnen einen Namen nach meiner eigenen Wahl. Soll ich dir einen Namen geben?“

Der Ork gab ein grobes, gutturales Geräusch von sich, das sich unglaublicherweise nach Lachen anhörte. „Wie würdest du mich denn nennen, alter Mann?“

Der Zauberer weichte seinen Umschlag in der duftenden Kräuterbrühe ein, hob ihn mit einem geschälten Zweig wieder heraus und legte den dampfenden Stoff auf eines der leeren Bretter. „Lass es ein wenig abkühlen,“ sagte er. „Wie würde ich dich nennen?“ Er ließ sich auf die Fersen zurücksinken und überlegte. „Ich weiß nur sehr wenig über die orkischen Dialekte,“ sagte er entschuldigend. „Aber Quenya wäre vielleicht passender, wenn man bedenkt…“

Der Ork grollte und senkte die Stirn, aber Radagast beachtete es nicht. „Ich werde dich Canohando nennen, ,Weiser Führer’. Du hast ein gutes Urteilsvermögen bewiesen, als du erst einmal gewartet hast, um zu sehen, ob wir Feinde sind. Viele hätten getötet, ohne es herauszufinden.“

„Gut für dich, alter Mann, und für deinen Sklaven.“

Radagast schob die Tunika des Orks bis um seine Mitte herunter; eine Masse verheilter Narben kam zu Vorschein, die aussah wie alte Verbrennungen. Er drückte den Umschlag gegen die Wunde und Canohando schauderte, aber er gab keinen Laut von sich.

„Er ist nicht mein Sklave. Er ist mein Gefährte, und ich bezweifle, dass du in deinem ganzen Leben jemand anderem von gleicher Statur begegnen wirst.“

Der Ork schwang seinen Kopf herum und starrte Frodo an, der auf dem Boden saß und das Feuer mit trockenen, stacheligen Zweigen nährte. Ein Bogenschütze überwachte ihn immer noch, und der andere beobachtete Radagast, als fürchte er irgendeine Art von Verrat.

„Klein genug ist er ja, wenn es das ist, was du meinst.“

„Das ist es nicht, was ich meine. Esel, komm her.“

Frodo kam zu ihnen und stellte sich neben sie, und Radagast streckte die Hand aus, öffnete sein Hemd und entblößte seine rechte Schulter. „Wie bist du zu dieser Narbe gekommen?“

Ein Schauder rann Frodo das Rückgrat hinunter, aber er antwortete in ruhigem Ton. „Durch die Klinge des Hexenkönigs.“

Die Orks fuhren heftig zusammen, und der kleinere wich einen Schritt zurück, aber Canohando beugte sich vor und starrte Frodo ins Gesicht, als wollte er in seinen Geist eindringen.

Radagast nahm Frodos Hand und hielt sie hoch, damit die Orks sie sehen konnten. „Wo ist dein Finger, Esel?“

Noch bevor er sprach, konnte er es in seinem Kopf hören. Das ist der Moment, in dem sie mich erschlagen werden. „Er ist in den Berg gefallen, zusammen mit dem Ring.“

Ein wütendes Brüllen ertönte hinter ihm, und ein Pfeil segelte an seinem Kopf vorbei. Er fühlte sich im Augenblick erstarrt, unfähig, sich zu rühren; er sah, wie er viele Meter weit entfernt zu Boden fiel und wartete auf den nächsten, der ihn nicht verfehlen würde. Seine Muskeln spannten sich an, erwarteten den Einschlag, das Eisen, das sich in seinen Rücken bohrte. Canohando schrie einen Befehl, und die anderen Orks knurrten protestierend; aber sie gehorchten und warfen ihre Böden auf die Erde.

„Erkläre!“ befahl er.

Radagast machte eine lange Mär daraus, mit schwerer Betonung der verderblichen Natur des Ringes. So wie er es erzählte, war es unvermeidlich gewesen, dass Frodo das Ding für sich beanspruchte: das einzige Wunder war, dass er ihm gerade noch bis zu den Schicksalsklüften widerstanden hatte. So, wie er es schilderte, war es Frodos eigene Gnade, seine Gnade Gollum gegenüber, die ihn am Ende gerettet hatte.

Die Orks folgten der Geschichte mit beängstigender Intensität. Bei der Erwähnung von Kankra versteifte sich Canohando. Als er hörte, dass Frodo von der Spinne gebissen worden und auf dem Hohen Pass von Orks gefangen genommen worden war, brachte er Radagast mit einer Geste zum Schweigen und riss Frodo neben sich zu Boden. Er zerrte sein Hemd grob vom Nacken weg und befingerte die alte Narbe, seine Klauen scharf auf der Haut des Hobbits, seine Hände heiß, als würden sie von Fieber brennen.

„Orks haben dich damals gerettet,“ grollte er. 

„Ja.“ Frodo hatte es noch nie so gesehen, aber es stimmte. Es waren die Orks gewesen, die gewusst hatten, dass er nicht tot war, während Sam blind gewesen war vor Trauer. Ohne Schagrats Streife wäre er für tot auf dem Pass liegengelassen worden, bis Kankra wiederkam… Natürlich, zu welchem Zweck die Orks ihn gerettet hatten, das blieb wohl besser ungesagt, während dieser hier seine Schulter wie ein Schraubstock umklammerte.

Die Orks lachten schallend über die Vorstellung, dass die Hobbits versuchten,  bei einem Gewaltmarsch mitzuhalten, und Canohando spuckte verächtlich aus.

„Dumme Uruks - nicht zu sehen, dass ihr keine Orks wart! Knochen zwischen den Ohren. Wenn ich da gewesen wäre, an mir wärt ihr nicht vorbei gekommen!“ Und Frodo konnte es wohl glauben. An diesem Ork war nichts Dummes zu finden.

Die Mär wand sich ihrem Ende entgegen, und Schweigen kehrte ein. Endlich sprach Canohando, und seine Stimme war schwer. Wut, oder war es etwas anderes?

„Mordor war voll von Orks. Voll. Alle Rassen, alle Arten. Tausende.“ Er stand auf und schüttelte Radagast ab, der noch immer die Kompresse auf seine Wunde drückte. Er schaute ins Leere, dann drehte er sich um, starrte in alle Richtungen, und schließlich blickte er finster auf Frodo nieder. 

„Alle weg jetzt, alle tot. Ich sollte dich töten, kleine Ratte! Deinetwegen…“ Frodo begegnete seinen Augen, ohne zurückzuweichen, und der Ork schaute weg. „Nur wir noch übrig, drei von uns. Wir trafen noch einen, im Westen, auf die Berge zu, vor einem Mond. Er folgte uns ungesehen und schoss mir einen Pfeil in den Rücken.“ Er nickte dem kleineren seiner Gefährten zu. „Yarga tötete ihn. Also – ich werde dich nicht töten. Ich bin krank vom Töten, und der Heiler macht gute Umschläge.“

Er setzte sich, den Kopf zwischen den Knien, und Radagast setzte die Arbeit an seinem Rücken fort, drückte gegen die Seiten der Wunde und wischte sie sauber. „Da weicht noch eine Kompresse ein, Esel… heb sie zum Abkühlen heraus und hol mit ein paar trockene Verbände, sei ein guter Junge.“

Er machte die frische Kompresse über der Wunde fest und half dem Ork, seine Kleidung über die Verbände zu ziehen. „Wie kommt es, dass ihr gemeinsam reist, ihr drei – und dass Yarga tötet, um dich zu beschützen?“

Der Ork atmete hörbar aus. „Ich war ein Bote, geschickt von Lûgbûrz. Der Berg rülpste Feuer, und die Erde krümmte sich unter meinen Füßen. Die Straße brach auf, und überall war Feuer, und Dämpfe, die mir den Atem verbrannten.“ Bei der Erinnerung daran schauderte er. „Ich rannte, ich sah nichts und wusste nichts, und der Schmerz rannte mit mir. Ich fiel in Ohnmacht, und als ich wieder zu mir kam, da war ich in einem der kleinen Außenposten, und diese zwei da legten mir feuchte Tücher auf die Haut.“ Er schaute die anderen Orks an, und seine Augen loderten. „Sie sind meine rechte Hand und meine Linke. Ich würde töten für sie.“

Wie die Gefährten, dachte Frodo. Wie Sam und ich. Ich würde töten, selbst jetzt noch, um Sam zu retten.

Yarga sprach zum ersten Mal. „Wir waren in einer der Festungen an der Straße stationiert, und als der Berg brüllte, da öffnete sich die Erde, und die Festung -“ Er schüttelte den Kopf, als würde er es immer noch nicht glauben. „Da war ein Loch im Boden, das klaffte auf und die Festung kippte auf die Seite und – und sie rutschte hinein, Orks, Waffen, alles. Sie schrieen… Wir kamen von draußen durch das Tor, und ich fiel, ich rutschte in die Grube, und Lash packte mich am Arm und zerrte mich zurück, und wir rannten.“

„Bis ihr zu den Außenposten gekommen seid,“ sagte Radagast.

Yarga nickte. „Er war verlassen; ich weiß nicht, wo sie alle hin waren. Wir rannten sehr weit. Und einen Tag später kam er, völlig kopflos, verbrannt… Er fiel genau vor uns bewusstlos um.“

„Ich dachte, er wäre tot,“ sagte Lash. „Alle waren verschwunden. Da waren nur Yarga und ich, und dann kommt der hier und stirbt vor unseren Füßen. Dann habe ich gesehen, dass er atmet, also haben wir uns um ihn gekümmert. Drei sind besser als zwei.“

„Was tut ihr jetzt? Wovon lebt ihr?“

Canohando zuckte die Achseln. „Wir gehen von einem Außenposten zu anderen, und jagen. Nicht dicht an den Berg, nicht in die Nähe von Lûgbûrz. Da ist die Erde schwarz verbrannt, und um den Berg herum reicht mir die graue Asche bis zu den Hüften.“

„Und was jagt ihr?“

„Ratten. Schlangen. Es gibt genug davon, um uns satt zu machen. Und andere Orks, damit wir nicht so allein sind, aber die finden wir nicht. Nur Leichen, manchmal, dicht an der westlichen Grenze. Die Männer von Gondor…“

„Nur einen Ork haben wir gefunden, der lebte,“ sagte Yarga, „und ihn habe ich getötet.“

Radagast räumte sein Kräuterpaket weg, und Frodo ging zum Bach, um noch mehr Wasser zu holen. Die Orks erhoben keinen Widerspruch, und er kochte das Wasser und machte Tee. Den ersten Becher trug er zu Canohando hinüber, und der Ork starrte ihn finster an.

„Was ist das denn?“ 

„Gib ihn mir, Esel,“ sagte der Zauberer. Er trank ihn aus und zeigte deutlich sein Wohlbehagen. Endlich sagte er: „Er wärmt das Herz und erhellt den Geist. Er trägt auch zur Heilung bei.“

Der Ork blickte zu Frodo hinüber, der zwischen einzelnen Schlucken die Hände im Dampf seines Bechers wärmte. Radagast reichte dem Ork seinen Becher, und Frodo stand auf und füllte ihn nach. Canohando trank langsam und beobachtete dabei ihre Gesichter. Endlich reichte er den leeren Becher an Frodo zurück und ruckte mit dem Kopf zu den anderen Orks hinüber. Frodo goss die Becher noch einmal voll und trug sie zu Lash und Yarga.

„Diese Schulter wird noch viele Tage lang Pflege brauchen,“ sagte Radagast. „Ihr seid willkommen, mit uns zu reisen, bis sie geheilt ist.“

„Wo geht ihr hin, alter Mann? Was tut ihr in Mordor?“

„Ich sagte dir, dass ich ein Heiler bin. Die ganze Erde hier brauchte einen Heiler.“

Canohando grunzte.

„In früheren Jahren, bevor der Dunkle Herrscher zurückkehrte, ließ es sich in Mordor gut jagen.“ Das war Lash; seine Stimme war von Bedauern erfüllt. „Nicht bloß Ratten und Schlangen, in jenen Tagen. Kaninchen, Füchse. In den Flüssen gab es Fische, und in den Bergen lebten Bären. Alle weg jetzt.“

„Was hält euch hier, in diesem verdorbenen Land?“ fragte Radagast.

Lash sah angesichts dieser Frage verblüfft drein. „Mordor ist unsere Heimat. Wo sollten wir hingehen?“ 

„Im Westen sind die Männer von Gondor,“ sagte Canohando mit einiger Hitze. „Im Süden ist Harad – wir würden dort kein Willkommen finden…“

Seine Stimme erstarb, und Radagast sagte leise: „Ihr würdet nirgendwo ein Willkommen finden, nicht einmal unter eurer eigenen Rasse.“

Canohando stand auf und ging zu Lash hinüber; er zog eine Tunika auf und drehte ihn um, so dass er den Zauberer ansah. Die bloße Brust des Orks war über und über vernarbt, ein Kreuz und Quer weißer Linien auf der rauen, grauen Haut. „Sein Rücken sieht genauso aus, und der von Yarga auch. Und meiner ebenso, vor dem Feuer. Große Orks schlugen kleine Orks. Jetzt sind alle Peitschen verbrannt, und wir machen uns keine Mühe, sie wiederzufinden.“

„Also ist Mordor euer Land, und ihr wollt nicht fortgehen. Werdet ihr helfen, es zu heilen?“

Auf diese Weise geschah es, und selbst Jahre später kam es Frodo wie ein Wunder vor, wenn er sich daran erinnerte. Die Orks blieben bei ihm und Radagast, und jeden Tag drückte der Zauberer Umschläge auf die entzündete Wunde, bis die Entzündung verging und sie einfach zu noch einer weiteren Narbe auf dem entsetzlich vernarbten Rücken verheilte. Die Orks jagten auf dem Weg, Ratten und Schlangen, wie sie gesagt hatten, und sie boten sogar an, ihr Fleisch zu teilen.

Radagast wies die Ratten höflich zurück, aber an den Tag, als Yarga eine schlanke, rote Schlange mitbrachte, akzeptierte er zu Frodos Entsetzen einen Anteil davon.

„Nun, Esel, möchtest du, dass sie uns für undankbar halten? Wenigstens weiß ich – unter all dem, was sie uns angeboten haben – bei diesem hier, wie man es so kocht, dass wir es essen können! Warte ab!“

Die Orks aßen ihr eigenes Fleisch roh, wie sie die meisten Dinge roh aßen, aber sie versammelten sich um das Feuer, um dem Zauberer beim Kochen zuzuschauen, und dann probierten sie willig das Fleisch, als es gar war. Frodo würgte sein Stück mit schierer Willenskraft hinunter und versuchte, seinen Ekel nicht zu zeigen, aber die Orks schmatzten mit den Lippen und kamen zurück, um sich noch mehr zu holen; sie saßen um das Feuer, während der Abend dunkelte und die Sterne herauskamen, und an nichts fühlte sich Frodo mehr erinnert als an die Zeltausflüge mit seinen Vettern vor langer Zeit,  im weit entfernten Auenland.

Dann blickte er über das Lagerfeuer hinweg und sah, dass Yarga ihn anstarrte; die Augen wirkten wie schwarze Löcher in seinem Gesicht, und er stocherte sich mit dem Messer zwischen den Zähnen herum.


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