Unterwegs mit dem anderen Zauberer - Eine Reise zur Heilung
(Following the other Wizard - A Journey into Healing)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion



Kapitel 27
Von Mutter und Kind

Frodo dachte, dass er den älteren Jungen als Lashs Sohn erkannt haben würde, wäre er ihm in einem Vorhof in Minas Tirith begegnet. Mit dem Kleineren war es eine andere Sache. Er hatte die graue Haut und die fassrunde Brust, die missgestalteten Ohren – ohne Frage ein Ork. Und doch war das Kind nicht hässlich. Seine Gesichtszüge waren wie die seiner Mutter, seine Zähne weiß und ebenmäßig, seine Augen – Frodo schaute die Frau an, die an der Feuerstelle saß und etwas in einem Eisentopf umrührte, und sie erwiderte seinen Blick herausfordernd. Nein, ihre Augen waren blau.

Das Kind hatte die schwarzen Augen seines Vaters, aber sie waren wunderschön, sehr groß und ausdrucksvoll. Wie kam es, dass ihm Lashs Augen nie aufgefallen waren?

„Haben wir deine Zustimmung, Lichtträger?”

Er fuhr zusammen. „Nenn mich nicht so. Bitte!” Sie lächelte.

„Wie denn dann? Neunfinger? Das ist es, was Canohando zu dir sagt. Oder Esel, wie der Heiler?”

„Mein Name ist Frodo.“ Sie ärgerte sich über ihn, und er fragte sich, warum. Er war ihr erst am vergangenen Abend begegnet, als die Orks sie mit nach Hause geschleppt hatten; ihre Gastfreundschaft war so unabweisbar, wie eine orkische Räuberbande es wohl auch gewesen wäre.

„Frodo Neunfinger, und du hast den Großen Ring vernichtet und den Dunklen Herrscher nieder geworfen, und als du damit fertig warst, da bist du wie ein Adler davongeflogen. Wie kommt es, dass du wie ein gewöhnlicher Sterblicher auf Erden wandelst, Frodo Neunfinger? Auf haarigen Füßen, die zu groß sind für dich.“   

Der Junge konnte schon laufen, aber noch nicht ganz sicher. Er hielt sich nach wie vor an den Dingen rings um ihn her fest, um sich abzustützen, und jetzt umklammerte er Frodos Knie und blickte zu ihm hoch, die schönen, dunklen Augen voller Licht. In seinem Entzücken über das Kind vergaß Frodo die Feindseligkeit der Mutter.

„Wie heißt du denn, Kleiner?“ fragte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Aber der Junge kicherte und schürzte die Lippen.

„Wroo!“ sagte er. „Wroo! Doo!“

Frodo blickte verblüfft zu der Frau hinüber. Er fürchtete sich, zu fragen, ob er richtig gehört hatte, und sie lachte ihn aus.

„Oh, du hast ihn schon richtig verstanden! Das ist sein Name – Frodo. Wie nennen wir dann also dich, he? Dein Name ist schon besetzt in diesem Haus.“

Es war zu albern, und er lachte. „Du solltest mich besser Esel nennen, nehme ich an. Radagast nennt mich seit vielen Jahren so, und es passt gut genug.“

Radagast war irgendwo draußen in den Bergen, gemeinsam mit den Orks; sie versuchten, einen passenden Platz zum Anpflanzen von Athelas zu finden. Das war beinahe das erste, was Canohando an diesem Morgen gesagt hatte – dass das Kraut hier wachsen sollte.

„Wenn du bei uns gewesen wärst, alter Mann, mit deinem Beutel voller Kräuter  - er hat vielleicht noch eine Stunde gelebt, nachdem er gefallen war - “

Frodos Herz verkrampfte sich vor Mitgefühl. Eine Stunde, mit solch einer Wunde! Lash hatte ihm zugeflüstert, dass Yarga fast in zwei Hälften gehauen worden war. Oh Yarga -

„Ich bezweifle, dass ich ihn hätte retten können, Canohando. Weißt du, es gibt Grenzen, selbst für meine Heilkunst. Aber jetzt komm, wir werden eine Stelle für euer Athelas finden.“

Der ältere Junge, ein Kind von ungefähr sieben, war mit ihnen gegangen. Er war von der Erscheinung her ganz und gar Ork, aber er hatte ein bereitwilliges Lächeln und ein leichtes Lachen. Lash hatte ihn am Abend zuvor vorgestellt, als sie hereinkamen, aber der Jüngere hatte geschlafen.

„Mein Sohn, Yargark. ,An Yargas Statt’.“ 

Frodo hatte einen Augenblick gebraucht, um zu begreifen. „An Yargas – um Yargas Stelle einzunehmen?“ 

„Er ist der dritte Ork. Yarga ist tot, aber Yargark lebt an seiner Statt. Um ihn bei uns zu behalten.“ Und einmal mehr war Frodo berührt von dem Band, das diese Orks vereinte, eine Rasse, von der man annahm, dass sie der Zärtlichkeit nicht fähig waren. 

Die Mutter mit ihrer schwelenden Feindseligkeit erinnerte ihn mehr an Yarga als die Orks es taten, und er fragte sich, wie er sie besänftigen konnte. Das Baby kletterte an seinem Bein empor, und er setzte es mit Schwung auf seinen Schoß. Der kleine Ork zog sich hoch, wobei sich seine knochigen Knie schmerzhaft in Frodos Schenkel bohrten, und schlang ihm die Arme um den Hals. Der Griff seiner Finger war hart wie eisen… er hatte richtige Orkklauen. 

„Wieso bist du hergekommen, Frodo Esel?“ fragte die Frau.

Er hielt das Kind ein wenig von sich weg, um besser atmen zu können, machte einen Schmatzlaut mit den Lippen und versuchte, ihn zum Lachen zu bringen. Er wurde mit einem freudigen Krähen belohnt, und dann machte das Kind ihn nach und brach bei jedem Versuch in Gekicher aus.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete er. „Ich wollte wissen wie es ihnen geht, aber das habe ich schon früher gewollt, ohne, daß ich ihnen gefolgt bin. Dieses Mal – ich weiß nicht. Ich wurde hierher gezogen; ich konnte nicht fortbleiben.“ Er begegnete ihren Augen. „Es tut mir Leid, wenn unsere Gegenwart dir mehr Arbeit macht, Herrin. Mehr als ein paar Tage müssen wir nicht bleiben; der Winter kommt tatsächlich, und mein Herr verbringt ihn gerne dort, wo es warm ist.“ 

Sie starrte ihn an. „Dein Herr? Der alte Mann? Sie sagten mir, dass du kein Sklave wärst.“ 

„Kein Sklave, nein.“ Er fragte sich selbst, wieso er Radagast so genannt hatte. Radagast war sein Freund. 

Sam war sein Freund, und Sam hatte es nie versäumt, ihn ,Herr’ zu nennen. ,Herr’, oder ,Herr Frodo’. Das war manchmal lästig gewesen, vor allem nach der Fahrt, als solch gesellschaftliche Feinheiten zwischen ihnen ihm lachhaft vorgekommen waren. Manchmal hatte er protestieren wollen, aber das hätte Sam zur Verzweiflung getrieben und seine alte Gewohnheit nicht geändert, also ließ er es bleiben.

Jetzt begriff er endlich. Was Sam für mich war, das bin ich für dich, Radagast, dachte er. Ich folge dir überallhin, so wie Sam mir, und was immer auch deine Aufgabe sein mag, es ist auch meine. Nur dieses eine Mal bin ich dir vorausgegangen, auf einem selbst gewählten Weg – und in Wahrheit habe ich ihn gar nicht gewählt. Ich wurde hierher gezogen, wie ich es ihr gesagt habe.

Er blickte die Frau an, neugierig, was sie hierher gebracht hatte… dass sie sich einem Ork hingab und seine Frau wurde. Die Frage musste allzu deutlich auf seinem Gesicht zu lesen gewesen sein, und sie hob trotzig das Kinn.

„Er ist freundlich,“ sagte sie. „Freundlicher als die meisten Männer in meinem Dorf jedenfalls, und vor allem freundlicher als mein Schwager, der mich zur Frau genommen hätte, nachdem meine Schwester getötet worden war – wenn ich in Núrn geblieben wäre.“

„Lash war immer schon freundlich, sogar als ich ihm das erste Mal begegnet bin,“ sagte Frodo zustimmend. „Ich bezweifle, dass er je ein gewöhnlicher Ork gewesen ist, von Anfang an.“

Das Kind spielte mit seinen Hemdknöpfen, und dann schlüpfte seine Hand zwischen den Knöpfen hindurch und fand Arwens Juwel, wo er Frodo um den Hals hing. Er zerrte, und Frodo langte nach oben und fing die kleine Hand ein. Er zog sie aus seinem Hemd und hob sie an seine Lippen. „Nein, nein, Kerlchen – das kannst du nicht haben!“

„Hier, gib ihn mir,“ sagte die Mutter scharf. „Du musst nicht zulassen, dass er überall auf dir herumklettert; du bist ein Gast in diesem Haus.“ Sie setzte das Kind mit Festigkeit auf den Boden unter dem Tisch und reichte ihm einen geraden Stock und einen kleinen Stein. „Da, Frodo, mach deinen Pfeil glatt. Lash wird ihn sehen wollen, wenn er kommt.“

Frodo schaute das Baby überrascht an. „Er macht schon Pfeile? Wie alt ist er denn?“  

„Orkkinder lernen ihre Fertigkeiten früh. Er fangt schon damit an, Spuren zu lesen.“ Sie schwieg und beobachtete das Kind, dann platzte sie widerwillig heraus: „Wie war er -  dieser Yarga, der getötet wurde? Lash ist zufrieden, mit mir und seinen Kindern, aber Canohando trauert noch immer um ihn, neun Jahre später. War er so wunderbar, Lichtträger?“

Frodo seufzte und nahm den Schürhaken; er stocherte abwesend im Feuer, während er versuchte, darüber nachzudenken, wie er antworten sollte. Er wollte nicht schlecht über die Toten reden, und doch -

„Er war nicht wie Lash,“ sagte er endlich. „Er war in Lúgbúrz, einer von denen, die die Gefangenen des Dunklen Herrschers quälten. Er war noch immer wütend über die Veränderungen, die über Mordor gekommen waren, aber er liebte Lash und Canohando. Ganz besonders Canohando – nun, du siehst es daran, wie er starb.“ Er zögerte. „Er hasste mich. Es kam ihn hart an, mich nicht umzubringen.“

Sie gab ein kurzes, bitteres Lachen von sich. „Ich denke, das kann ich ihm nachfühlen. Du bist ein bisschen zu gut für diese Welt, nicht? Ein gewöhnlicher Mensch mag sich darin wohler fühlen, wenn es dich dort nicht mehr gibt.“

Frodo fühlte sich außerstande zu antworten. Sie begegnete seinem Blick für einen langen Moment, dann senkte sie die Augen, knetete die Falten ihrer fülligen Röcke zwischen den Händen und schaute zu Boden.

„Ich glaube, du hast dir zu viele Geschichten über mich angehört, Herrin,“ sagte er, als er seine Stimme endlich wiederfand. „Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht Lichtträger nennen! Ich bin ein heruntergekommener Esel, der in der Wildnis ein wenig Heilung gefunden hat, nicht mehr.“ Er stand auf und ging hinaus; dann ging er ein Stück vom Haus weg und lehnte sich erschöpft an einen Baum.

Den Orks ging es gut; er konnte jetzt beruhigt sein. Je eher er und Radagast diesen Ort hinter sich ließen, desto besser.

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