Unterwegs mit dem anderen Zauberer - Eine Reise zur Heilung
(Following the other Wizard - A Journey into Healing)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion



Kapitel 31
Der Winter des Bären

In späteren Jahren nannte es Frodo, wann immer er daran dachte, den Winter des Bären. Das Bärenjunge schlief in seiner improvisierten Höhle im Holzschuppen und sie bekamen es wenig zu sehen; aber sie konnten es atmen und zuweilen schnarchen hören, wenn sie zwischen dem Heim der Orks und der neuen Seite des Hauses hin- und hergingen. Zu wissen, dass er das Haus mit einem Bären teilte, ließ Frodo einen Schauder den Rücken hinunter laufen; er hätte nicht sagen können, ob das, was er fühlte, Furcht war oder Entzücken. Yargark verschwand jeden Abend, um bei seinem Tierbruder zu schlafen; er sagte, dass das Bärenjunge von Zeit zu Zeit munter wurde, wenn die Kälte nachließ. Manchmal hörte ihn Frodo leise zu dem Tier sprechen, wenn er auf dem Weg ins Bett an der Höhle vorbei kam.

Nun, da Lokka sich nicht länger feindselig verhielt, verbrachten Frodo und Radagast die meisten Abende auf der Seite des Hauses, die den Orks gehörte. Sie spielten Knöchelchen oder Orks und Tarks, und Frodo und Canohando bildeten eine Mannschaft, wie sie es vor Jahren in Gorgoroth getan hatten. Lokka saß bei ihnen; sie sprach wenig, aber wenn sie doch etwas sagte, war es oft scharfzüngig und witzig. Am Ende jedes Abends brachte Radagast seine Flöte zum Vorschein und sie machten eine Weile Musik, bevor er und Frodo den Weg auf ihre eigene Seite fanden, um zu schlafen.

Tagsüber jagte Frodo mit den Orks, wenn auch nicht mehr nach so gefährlicher Beute. Er gewann seine kleinen Fähigkeiten mit dem Bogen zurück und verbeserte sie sogar noch unter Canohandos unerbittlicher Anleitung. Sie jagten meistens Rotwild, füllten aber auch viele Jagdtaschen mit Kaninchen und Moorhuhn. Die Orks lebten scheinbar fast auschließlich von Fleisch.

Frodo gewöhnte sich nie wirklich an das Töten – er hatte zu lange gelernt, die wilden Geschöpfe zu heilen, als dass er die Jagd auf sie genoss – aber es gefiel ihm, draußen auf dem Berg zu ein. Lash war ihr Spurenleser, und Canohando hielt sich zurück und folgte seiner Führung, obwohl er der Kommandant ihrer kleinen Truppe gewesen war, als Frodo ihnen zum ersten Mal begegnete. Üblicherweise war Yargark ebenfalls bei ihnen, und Lash behielt ihn dicht bei sich und unterwies ihn. Auf diese Weise dauerte es länger; Frodo und Canohando lehnten sich dann an einen Felsbrocken oder fegten den Schnee von einem umgestürzten Baum und setzten sich, während Lash seinem Sohn die Feinheiten des Spurverfolgens zeigte.

„Du solltest einen eigenen Sohn haben,“ bemerkte Frodo eines Tages, ohne wirklich darüber nachzudenken, was er da sagte; er hatte lediglich das Gefühl, dass Canohando ein guter Vater sein würde, weise und stark. Der Ork betrachtete ihn finster.

„Wo würde ich eine Gefährtin finden, Neunfinger? Vielleicht zieht der alte Mann eine für mich aus dem Sack, hm?“

Zu spät wurde Frodo klar, dass er einen wunden Punkt berührt hatte. „Es gibt keine anderen Orks, die sich von der Finsternis abgewandt haben, oder? Könntest du dir nicht eine der Frauen von Núrn nehmen, wie Lash es getan hat?“

Canohando schnaubte. „Jawohl, das könnte ich, oder eine Frau von einem Bergstamm, so wie Lashs Vater, und auf die selbe Weise, durch einen Überfall. Aber eine solche Frau wünsche ich mir nicht, mit Gewalt genommen... eine, die mich ihr ganzes Leben lang hasst.“

„Nein, natürlich nicht!“ sagte Frodo entsetzt. „Aber du hast gesagt, Lokka wäre Lash aus eigenem Willen gefolgt.“ Er schaute den Ork von der Seite an und lächelte leicht. „Du bist nicht hässlicher als Lash; wahrscheinlich siehst du sogar besser aus – nicht, dass ich das beurteilen könnte! Wieso sollte es nicht eine Frau geben, die so willig wäre wie Lokka?“

„Ich bin immer noch ein Ork, Kümmerling. Du bemerkst das vielleicht nicht mehr, aber der Aufmerksamkeit aller anderen würde es nicht entgehen. Lash hat ihr bei diesem Überfall das Leben gerettet; er erschlug eine Ork, der sie fortzerrte, und ihre gesamte Familie wurde an diesem Tag getötet. Es gab keine Verwandten, die protestieren konnten, als sie sich entschloss, ihn zu nehmen. Selbst wenn ich eine Frau fände, die willig wäre, ihre Verwandten wären es nicht.“

Er stieß sich von dem Baum ab, an dem er lehnte. „Komm, wir verlieren sie aus den Augen. Finde du mir ein Weib, Kümmerling, und ich werde freudig Söhne zeugen, und Töchter ebenfalls. Vielleicht begegnest du eines Tages einer Orkfrau und bringst sie dazu, Mordors Joch zu zerbrechen – wenn das geschieht, schick nach mir.“

Später sprach Frodo mit Radagast darüber, und der Zauberer schüttelte den Kopf. „Natürlich hat er Recht. Lokka ist mit Lash scheinbar glücklich genug, aber sie musswirklich verzweifelt gewesen sein, dass sie sich einen Ork zum Gefährten gesucht hat. Canohando muss vielleicht ohne Söhne auskommen.“

Die Sache band Frodo noch dichter an den Ork; auch er hatte keine Söhne. Für Sams Abkömmlinge zählte er als Onkel – er fragte sich flüchtig, wie viele es bis jetzt wohl waren – aber er würde nie ein Vater sein. Wenn er zurück ins Auenland ging, selbst jetzt noch? Er erwog die Idee für einen Moment, dann schob er sie beiseite. Er war zu spät von dort weg gegangen, und er war sowieso zufrieden, wie er war. Aber Canohando war es nicht – und das schmerzte ihn.

In diesem Winter erlegte Yargark seinen ersten Hirsch. Der Junge hatte das Tier verwundet, aber es war kein sauberer Tod, und er musste der Blutspur folgen, um es zu Ende zu bringen. Lash schickte ihn streng alleine weg: „Lass deinen Pfeil nicht los, wenn du nicht sicher bist bei deinem Ziel – wir sind keine Wölfe, die mit hundert Bissen töten!“ Aber sobald der Bursche außer Sicht war, folgte Lash ihm leise, um ihn vor Schaden zu bewahren. Canohando nahm Frodos Arm, um ihn zurückzuhalten.

„Du bleibst hier, Kümmerling; wenn du auf den Hirsch stoßen würdest, würdest du seine Wunden verbinden wollen! Da ist ein Moorhuhn in der Jahgdtasche; wir werden essen, während wir auf sie warten.“

Sie warteten lange auf Lash und Yargark. „Es kann schwer sein, einer Blutspur zu folgen,“ sagte Canohando. „Die Wunde schließt sich ein bisschen, und es ist kein Blut mehr da. Für Lash wäre es einfach, aber Yargark muss es selber tun, wenn es sein Töten sein soll.“

Frodo kam es so vor, dass sich das Leben der Orks immer noch um da Töten drehte, obwohl es jetzt um Nahrung ging, nicht um Krieg und Plünderung. Und es war, als könnte Canohando seine Gedanken lesen.

„Wir töten, um zu leben, Kümmerling, aber es bereitet uns kein Vergnügen, jemandem Schmerzen zuzufügen. Das haben wir hinter uns gelassen,“ sagte der Ork, und Frodo nickte getröstet. Sie waren Jäger, aber keine Mörder – nicht mehr.

Endlich kamen Lash und Yargark wieder zurück; sie trugen den Hirsch an einer Stange hängend zwischen sich, und Yargark hüpfte trotz der schweren Last beinahe vor Aufregung. Canohando untersuchte das Tier kritisch; es war in junger Bock in erstklassigem Zustand.

„Drei Jäger jetzt,“ sagte er zu Lash, als wäre Yargark nicht anwesend. „Es wird uns gut ergehen in unserem Lager, mit drei Jägern.“ Lash grunzte bloß, aber seine Augen leuchteten, während er seinen Sohn anblickte, und Yargark sah aus, als würde er jeden Moment vor Stolz platzen.

Lokka machte für Yargark ein Hirschlederhemd aus seinem Bock; am Saum und entlang der Ärmel schnitt sie tiefe Fransen ein. Canohando lachte über diese Fransen und schnippte mit den Fingern dagegen. „Wofür ist das denn? Es wird im Gebüsch hängen bleiben und abreißen.“

„Dieses Hemd wird er nicht in den Büschen tragen; er wird es anziehen, wenn wir hinunter gehen nach Núrn. Mein Bruder hatte so eins,“ sagte Lokka ein wenig hitzig. „Yargark ist auch ein Mensch, nicht nur ein Ork. Er sollte bekommen, was auch andere Jungen haben.“

„Das wird er, Weib,“ sagte Lash. „Wir gehen zurück, wenn er alt genug ist, und du sollst versuchen, ob du ihm eine Ehe stiften kannst.“

Frodos Augen wandten sich zu Canohando; der Ork saß da und betrachtete Yargark, als würde er seine Gesichtszüge einen nach dem anderen abwägen. „Vielleicht,“ murmelte er. „Wenn seine Mutter die Sache in die Hand nimmt, vielleicht...“

Dann holte Radagast seine Flöte heraus und fing an zu spielen, und Lash stimmte mit ein; aber Canohando gab seine Trommel an Yargark weiter. „Schau, was du damit anfangen kannst,“ sagte er. „Ich habe heute abend etwas anderes für meine Hände zu tun.“ Er saß dicht am Feuer, wo das Licht hell war und schnitzte mit einem kleinen Messer etwas, das Frodo noch nicht gesehen hatte. Er bewegte sich neben Canohando, um einen genaueren Blick darauf zu werfen.

Es war einer der großen, gebogenen Zähne des Bären, den sie getötet hatten, und der Ork hatte ein schmales Loch durch das spitze Ende gebohrt. Jetzt gravierte er den Zahn; er schnitt feine, tiefe Linien in die harte Oberfläche. „Geh mir aus dem Licht, Kümmerling,“ grummelte er. „Du kannst es dir ansehen, wenn es fertig ist.“

Lokka saß auf der anderen Seite der Feuerstelle und nähte. „Machen deine Leute keine Musik, Neunfinger?“ fragte sie. „Du hörst zu, aber einstimmen tust du nie.“

Frodo lächelte. „Oh, wir machen Musik! Ich habe früher gesungen, aber einmal habe ich mich zum Narren gemacht, als ich sang; danach habe ich damit aufgehört.“

Sie legte ihre Näherei hin und starrte ihn an; ihr Lächeln war spöttisch. „Nein! Der Lichtträger hat wenigstens einmal in seinem Leben den Narren gespielt? Du wirst mir die Geschichte erzählen müssen, sonst glaube ich es nicht!“

Seit der Bärenjagd war Lokka freundlich genug gewesen, aber jetzt zerrte ihr Ton Frodo an den Nerven; es schien, als wäre sie froh darüber, etwas zu seinen Ungunsten zu hören, und er sah keinen Grund, Geschichten über sich selbst zu erzählen. Seit der Nacht in Bree war ihm nicht mehr nach Singen zumute gewesen, als sein Lied ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre, aber er hatte nicht den Wunsch, etwas über diesen Vorfall zu sagen.

„Diese Geschichte wirst du nicht von mir hören, Herrin,“ sagte er leichthin, „und da sie niemand sonst hier kennt ...“ Er begegnete Radagasts Augen mit einer Frage, und der Zauberer schüttelte den Kopf.

„Sing für uns, Kümmerling.“ Canohando sprach, ohne den Blick von seiner Schnitzerei zu nehmen. „Ich wusste nicht, dass du singen kannst, und ich würde gern hören, was für Musik ihr in eurem Heimatland macht.“

Das ließ die Sache in einem anderen Licht erscheinen, und Frodo versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, das er für den Ork singen konnte; er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, während er ein Lied nach dem anderen erwog und verwarf. Und würde er sich überhaupt an die Worte erinnern, nach so vielen Jahren? Aber da war eines, das würde er nie vergessen.

„Die Straße gleitet fort und fort, weg von dem Ort, wo sie begann, und ich muss folgen, wo ich kann - “ Seine Stimme war warm und so klar wie ein Sommertag; Radagast schloss die Augen und lauschte, und er fragte sich, wieso er nie daran gedacht hatte, Frodo darum zu bitten, dass er sang.

Als das Lied zu Ende war, schwiegen sie einen Moment, dann: „Sing noch eins,“ sagte Canohando. „Ich kann es beinahe in deiner Stimme sehen, dein Land. Friedlich und sauber, und voll von kleinen Leuten wie dir, mit sanften Augen.“ Da war etwa im Ton des Orks, das in Frodo die Sehnsucht weckte, ihn bei der Hand zu nehmen und ihm das Auenland zu zeigen, ihn an blühenden Wegen entlang und an Kornfeldern vorbei zu führen, von Hobbingen bis nach Waldende...

Und die Leute im Auenland wären entsetzt, erinnerte er sich. Er sang ein altes Wiegenlied, das erste Lied, das er je gekannt hatte, und dann ein Trinklied, das er von seinen Vettern gelernt hatte, und Bilbos Badelied – er sang eines nach dem anderen, bis er aufhören musste, weil er heiser wurde, und die Worte kamen, während er sang, mühelos zu ihm zurück.

Canohando vergaß diese Nacht voller Musik niemals. Frodo, der die Lieder des weit entfernten Auenlandes sang; noch nach Jahren glaubte er, dass die gesamte Richtung seines Lebens in dieser Nacht bestimmt worden war. Aber was Frodo anging, so gab ihm diese Nacht seine Stimme wieder. Jahrelang hatte er nicht gesungen, aber danach sang er oft, und noch lange, nachdem sie die Berge verlassen hatten, segnete er Canohando dafür.


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