Unterwegs mit dem anderen Zauberer - Eine Reise zur Heilung
(Following the other Wizard - A Journey into Healing)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion



Kapitel 35
... und selbst die Neige ist süß

Der November kam mit kaltem Regen und Wind, und Frodo bestellte eine doppelte Ladung Holz bei einem jungen Hobbit im Dorf, der darauf sparte, seinen Schatz am Julfest heiraten zu können. Der Bursche war gerne bereit, das Holz für ein paar Münzen zusätzlich zu spalten und aufzustapeln, und Sam lächelte, als er sie abzählte.

„Ein feines Mädel, deine Dilly! Behandle sie ja gut, Longo, dann wirst du mit ihr so glücklich sein wie ich es mit Frau Rose gewesen bin.“

Longo grinste. „Das hoffe ich, Bürgermeister Samweis,“ sagte er. Es war sechs Jahre her, seit Sam seine letzte Amtszeit als Bürgermeister beendet hatte, aber der Name blieb noch immer hängen.

Sie hatten fast einen ganzen Monat scheußliches Wetter, und wenn es nicht wirklich regnete, dann sah es so aus, als würde bald Regen fallen. Sam und Frodo blieben dicht am Feuer im Studierzimmer; sie lasen oder spielten Schach. Frodo war lange aus der Übung, aber Sam hatte sich zu einem Experten in diesem Spiel entwickelt; er war verlegen und Frodo belustigt, als Sam jede Partie für sich entschied.

„Du musst zugehört haben, als ich es dir vor Jahren beigebracht habe,“ sagte Frodo gutgelaunt, und Sam räusperte sich.

„Du hast wohl nicht viel Gelegenheit zum Spielen gehabt, so wie du herum gereist bist, Herr Frodo. Herr Radagast hatte nicht viel für Schach übrig, oder?“

Frodo grinste. „Nein – wir haben Orks und Tarks gespielt, mehr als irgendetwas anderes. Das und Knöchelchen.

Sam starrte ihn ausdruckslos an, und Frodo gluckste. „Schach, alter Junge – nur dass du einen Orks nicht darum bittest, ein ,Spiel der Könige’ zu spielen, wenn du weise bist! Und Canohando hat abends am Feuer gern Knochen geworfen.“

Aus dem Augenwinkel sah Frodo, wie Sam darum rang, ein ernstes Gesicht zu wahren. Er sah ihn direkt an und hob eine Augenbraue, und Sam gab auf, lehnte sich lachend in seinem Sessel zurück und schüttelte den Kopf.

„Also gut, Herr Frodo! Du hast mir von diesen Orks da erzählen wollen, die ganze Zeit, seit du zu Hause bist, und ich wollte nicht zuhören. Es gab nichts, was ich über Orks wissen wollte, und was ich nicht sowieso schon wusste – aber ein Ork, der Schach spielt, von dem zu hören wär die Sache wert, muss ich zugeben. Du legst besser los und erzählst mir davon.“

Gegen Ende des Monats erschöpften sich die Stürme, und endlich erwachte Frodo eines Morgens zu schrecklicher Helligkeit. Sonnenlicht blendete ihn, als er die Vorhänge zurückzog; er blinzelte und versuchte, die Uhrzeit zu schätzen. Weit über die Frühstückszeit, soviel war sicher; schon mehr mitten am Vormittag. Sam war nicht gekommen, um ihn zu wecken, und deshalb hatte er verschlafen.

Er hatte Angst, und er rannte beinahe den Flur zur Küche hinunter. Sam hätte nicht verschlafen; Sam verschlief nie. Die Küche war von Licht erfüllt und totenstill, und er holte tief Atem, um sich zu beruhigen, bevor er sich umwandte und die Tür zu der kleinen Schlafkammer öffnete. Sam war alt – oh Elbereth, wie alt er war! In Wirklichkeit war er jünger als Frodo, aber er kam ihm älter vor, und Rosie war sogar noch jünger gewesen, als sie starb. All der Mut, den Frodo aufbringen konnte, war nötig, diese stille Schlafkammer zu betreten.

Jetzt bin ich an der Reihe, seine Vorhänge aufzuziehen, nach all den Jahren, in denen er es für mich getan hat, dachte er, sorgsam bemüht, nicht in Richtung des Bettes zu schauen. Aber als er es dann doch tat, lag Sam flach auf dem Rücken, die Augen offen, und er atmete. Beim Klang dieses rasselnden Atems fing Frodo selbst wieder an zu atmen; er hatte nicht bemerkt, dass er die Luft anhielt.

„Sam? Geht es dir gut?“

Es war eine dumme Frage; natürlich ging es Sam nicht gut. Mit einer schmerzhaft langsamen Bewegung wandte er den Kopf, und in seinen Augen wohnte eine schreckliche Gewissheit. „Ich kann meine Beine nicht bewegen, Herr Frodo. Und meine Arme auch nicht. Es ist eine furchtbare Art, zu gehen.“

Frodo setzte sich auf das Bett und glättete das schneeweiße Haar über Sams Stirn; noch während er das tat, dachte er daran, wie oft Sam ihn auf diese Weise geweckt hatte, mit einer sanften Hand, die ihm das Haar aus den Augen strich. „Hast du irgendwo Schmerzen?“

„Nein, ich kann mich bloß nicht rühren. Für Rosie war es leichter; sie ist einfach eingeschlafen. Du schickst besser nach Elanor, Herr Frodo, und nach den anderen Kindern. Es ist ihre Aufgabe, für mich zu sorgen, bis – na, so lange es sein muss. Ich will keine Last sein für dich, und du bist gerade erst ein kleines Weilchen wieder daheim, nach all diesen Jahren weit weg.“

Zorn wallte in Frodo auf, Zorn, dass Sam in solche Hilflosigkeit geraten sollte, und noch mehr, dass er sich selbst für eine Bürde hielt. Er biss sich hart auf die Lippe. Zorn würde nicht helfen. Es würde nichts nützen, sich gegen den Tod und das Alter aufzulehnen, und gegen die Trauer. Er beugte seinen Kopf und seinen Willen, um hinzunehmen, was war.

„Nein, ich werde nicht nach Elanor schicken,“ sagte er , und angesichts Sams Verwirrung lächelte er halb. „Das werde ich nicht, nicht, wenn das bedeutet, dass du mich ausschließt, ausgerechnet jetzt, wo ich endlich ein wenig von dem, was ich dir schulde, an dich zurückzahlen kann.“ Sam versuchte zu protestieren, und Frodo hielt ihn davon ab, in dem er ihm leicht eine Hand auf den Mund legte. „Beantworte mir dieses eine, Samweis Gamdschie: wäre ich heute morgen aufgewacht und könnte mich nicht mehr rühren, hättest du dann nach Merry und Pippin geschickt, nach meiner Sippe, damit sie kommen und für mich sorgen?“

„Da solltest du mich aber besser kennen, Herr Frodo.“

„Das tue ich,“ Frodo nickte. „Du hättest alles für mich getan, bis zum Ende, bis dahin, dass du mir die Münzen auf die Augen legst und Blumen auf mein Grab pflanzt.“ Gehe ich zu weit, fragte er sich, wenn ich das Unaussprechliche sage, das Undenkbare? Aber an was sonst mochte Sam gedacht haben, während er seit dem frühen Morgen dalag, ohne sich regen zu können? An was sonst als an den Tod?

„Du weißt, dass du das getan hättest, Sam, und ich würde nicht weniger tun für dich. Wenn du mich lieb hast, dann verlang nicht von mir, dass ich jetzt beiseite trete, wo ich endlich etwas für dich tun kann. Du würdest mir das Herz brechen.“

Er nahm Sams Hände, die schlaff auf der Decke lagen und hielt sie in festem Griff. Nach einem Moment spürte er eine Antwort, ganz schwach, aber Sam drückte ihm die Hände.

„Ich dank dir, Herr Frodo. Es wird leichter werden, wenn ich dich bei mir hab.“

Es war kalt in der Kammer. Frodo hob Sams Hände an seine Lippen, eine nach der anderen, und legte sie wieder hin. „Ich werde hier erstmal ein Feuer anmachen, und dann koche ich Tee. Denkst du, du könntest etwas essen?“

Sam schüttelte den Kopf, aber als Frodo ihm ein wenig später etwas dünnen Haferschleim brachte, war er imstande, ihn zu schlucken. Frodo half ihm, sich aufzusetzen und packte Kissen rings um ihn herum; er hielt ihm den Becher an die Lippen und fütterte ihn mit dem Haferschleim. Als Sam ihn vor lauter Scham nicht anschauen wollte, neckte er ihn, um ihn abzulenken.

„Also, Sam, du hast das selbe für mich getan, damals, als ich eine ganze Flasche Branntwein auf einen Sitz hinunter gegossen und mich selbst dabei halb vergiftet habe! Erinnerst du dich daran? Du hast mehr getan, als bloß einen Becher für mich zu halten, damals, und ich hatte die ganze Sache selbst über mich gebracht, durch meine eigene Narrheit. Du hast nichts getan, dessen man sich schämen müsste – auch nicht den Teppich in einem Zustand hinterlassen, dass man ihn hinterher eine Woche lüften musste – also mach dir darüber keine Sorgen. Denk einfach daran, du würdest dasselbe für mich tun – und du hast es getan, mehr als einmal!“

Natürlich musste er nach Sams Kinder schicken. Sie hatten das Recht, dort zu sein, und in Wahrheit hätte er auch nicht alles allein tun können. Sie kamen, und sie kochten und schleppten Wasser, wuschen das Bettzeug und hielten die Feuer in Gang. Und sie saßen bei Sam und teilten ihre Erinnerungen daran, wie sie aufgewachsen waren, bis die kleine Schlafkammer von Gelächter widerhallte. Frodo hörte manch eine Geschichte, von Mutwillen und Spaß, von dem ganzen Familienleben, das ihm entging, als er fort war, wovon Sam ihm zu erzählen nicht die Zeit gehabt oder was er vergessen hatte. Und er selbst erzählte ebenfalls Geschichten, von seinen Reisen mit Radagast und der Rückeroberung von Mordor. Frodo hatte den Verdacht, dass die Kinder nicht mehr als die Hälfte davon glaubten, aber Sam hörte diesmal zu. Die Gefahr, die die Orks für sein Leben dargestellt hatten, streifte er nur, aber er glaubte nicht, dass Sam sich täuschen ließ.

„Du bist doch nicht wirklich hingegangen und hast Arwens Edelstein diesem Ork gegeben!“ schalt Sam, als die Kinder den Raum verlassen hatten.

„Ja, das habe ich.“

Sam schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, Herr Frodo. Kommt mir nicht so vor, als ob ihr das gefallen hätte, nicht Königin Arwen Dir hat sie ihn gegeben, und sie hätte ihn niemals nicht einem Ork geschenkt.“

Frodo lächelte; es war der alte Streit über Sméagol, der wieder ganz von vorn begann. „Selbst Arwen hätte ihn Canohando geschenkt, wenn sie ihn gekannt hätte. Er brauchte ihn auf jeden Fall, und ich tat es damals nicht mehr. Siehst du, er hatte keinen Samweis, und auch keine Rosie, um ihm zu helfen.“ Sam schnaubte, aber er sagte nichts mehr.

Es gab Gelächter in Sams Schlafkammer, aber trotz all dem war es eine harte Zeit. Natürlich riefen sie einen Heiler, aber der konnte nur solche Scheußlichkeiten vorschlagen wie Sam zur Ader zu lassen, um „das böse Blut heraus zu lassen“. Frodo nahm in beim Arm und führte ihn aus dem Zimmer; er zahlte ihm das Doppelte der üblichen Gebühr und schloss die Tür hinter ihm mit einem entschiedenen Knall.

„Ich bin ein Heiler,“ erklärte er Sams Kindern, und er setzte all die Fähigkeiten ein, die Radagast ihn gelehrt hatte, wenn auch mit wenig Nutzen. Sam beklagte sich nie, aber seine Hilflosigkeit kam ihn bitter an, und obwohl die Lähmung in seinen Armen ein wenig nachließ, konnte er nicht selbständig essen. Er versuchte es von Zeit zu Zeit, wenn er einen guten Tag hatte, aber es endete immer damit, dass ihm der Löffel aus der Hand rutschte und der Inhalt sich auf die Bettdecke ergoss.

„Eine Gnade wird es sein, wenn ich’s hinter mir hab. Ich wünschte, ich könnte sterben und damit fertig sein!“ murmelte er eines Tages vor sich hin, als er dachte, dass er allein wäre. Aber Frodo stand hinter der Tür und hörte es, und es schnitt ihm ins Herz. Er konnte sich nicht wünschen, dass es vorüber wäre, und dass er zurückbliebe ohne seinen Sam. Und doch war es mühsam, zuzuschauen, wie Sam sich abquälte, nachdem er immer so stark gewesen war; es war herzzerbrechend zu begreifen, dass Sam sein eigenes Leben zur Last geworden war. Er ging hin und kniete sich neben das Bett, seinen Arm quer über Sams Brust und sein Kopf neben ihm auf dem Kissen.

„Du wirst mich bald genug verlassen, liebster Freund, und du solltest mir diese letzten Tage mit dir nicht missgönnen, nachdem ich so viele versäumt habe.“

Sam stöhnte. „Du hättest das gar nicht hören sollen, Herr Frodo.“

„Nein, das weiß ich. Sam, wirst du mich verstehen, wenn ich sage, dass ich wünschte, du müsstest das hier nicht durchmachen – aber dass ich froh bin, hier zu sein, damit ich es mit dir gemeinsam durchmachen kann?“

Sam nickte. „Ich bin auch froh drüber. Ich weiß, es macht keinen Sinn zu sagen, dass ich irgendetwas nicht aushalte, aber ich weiß nicht, wie ich das hier ausgehalten hätte, ohne dass du hier bei mir gewesen wärst.“ Unter Schwierigkeiten hob er einen Arm, um Frodo ungeschickt an sich zu drücken.

Endlich wachte Sam eines Morgens nicht mehr auf, sondern lag den ganzen Tag in einem schweren Schlummer. Seine Kinder schlüpften hinein und hinaus, um sich eine Weile zu ihm zu setzen und ihm Lebewohl zu sagen, aber Frodo rührte sich den ganzen Tag nicht von seiner Seite; er hielt Sams Hand, rieb sie sanft zwischen seinen eigenen und beugte sich ein- oder zweimal vor, um ihn auf die Stirn zu küssen, wenn sie ein paar Minuten allein waren. Er sagte nicht viel: es gab kaum etwas, das sie sich nicht bereits gesagt hatten. Nur ab und zu murmelte er: „Niemand hatte jemals einen Freund wie dich, Sam, lieber Sam. Danke, dass du mein Freund bist.“ Kurz bevor die Sonne unterging, tat Sam einen tiefen, schaudernden Atemzug, und das war das Ende.

Frodo stand auf; er rief Sams Söhne und Töchter, aber er selbst ging hinaus in die Kälte, blicklos und allein. Jetzt werde ich immer allein sein, dachte er. Für Sam bin ich nach Hause gekommen, und Sam ist fort. Er ging hinunter auf die alte Festwiese und lehnte sich gegen den Mallorn, den Sam gepflanzt und auf den er so stolz gewesen war, und dort weinte er, bis er keine Tränen mehr hatte.

Als er endlich wieder hinein ging, hatten Elanor und ihre Schwestern das Regiment übernommen; sie wuschen ihren Vater und zogen ihm seine besten Kleider an. Sams Söhne kamen, um den Leichnam in den Sarg zu legen, aber Frodo wollte es nicht zulassen.

„Wir werden es morgen früh tun; dann wird noch Zeit genug sein, bevor die Leute anfangen, herzukommen,“ sagte er. „Lasst ihn heute Nacht bleiben, wie er ist. Er sieht so friedlich aus, man könnte fast meinen, dass er schläft.“

Sie beugten sich seinen Wünschen – ihr Papa hätte das schließlich auch getan. Und als einige von ihnen die Totenwache halten wollten und Frodo darum bat, die ganze Nacht allein Wache halten zu dürfen, da gaben sie ihm auch darin nach. Aber als sie am Morgen kamen, saß Frodo nicht in seinem Sessel neben dem Bett, und einen Moment standen sie ratlos da. Dann sagte Elanor leise: „Hier ist er.“

Frodo lag auf dem Bett neben Sam, den Arm um ihn gelegt und sein Gesicht an Sams Schulter verborgen. „Herr Frodo, aufwachen... es ist Zeit,“ sagte sie und berührte ihn am Rücken; sie fürchtete halb und halb, er sei auch tot. Aber er öffnete die Augen, setzte sich auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

„Es tut mir Leid,“ sagte er. „Nicht die rechte Art, neben einem Toten zu wachen, ich weiß, nur..."

Elanor nahm seine Hand und half ihm aufstehen. „Papa hätte sich gefreut,“ sagte sie sanft. „In deinem Zimmer steht heißes Wasser bereit, Herr Frodo, damit du dich waschen kannst, und eins der Kinder bringt dir gleich dein Frühstückstablett.“

Sams älteste Tochter war eine gute Hauswalterin, und Frodo ließ es zu, dass sie ihn verwaltete. Der Tag verstrich in einem Nebel, während das halbe Auenland in Heerscharen durch den Smial zog, um Bürgermeister Samweis Lebewohl zu sagen. Er war sehr geliebt worden, und es tröstete Frodo in seinem Schmerz, die Hochachtung zu sehen, die man für seinen Sam empfunden hatte. Am zweiten Morgen begruben sie ihn neben Rosie, und der alte Friedhof war bis zum weißen Staketenzaun vollgepackt mit Hobbits, die gekommen waren, um Sam die letzte Ehre zu erweisen. Danach stand Beutelsend allen offen, und jedem, der vorbeikam, wurde heißer Apfelwein und Gewürzkuchen serviert.

Frodo blieb im Hintergrund, und es gab wenige, die ihn bemerkten. Thain Peregrin war natürlich da, mit Juweline, und der Herr von Bockland war mit Estella gekommen; sie hatten den Thain besucht, als die Nachricht von Sams Tod eintraf. Sie blieben ein paar Tage in Beutelsend, und Frodo saß bis spätabends mit Pippin und Merry am Feuer; sie rauchten und redeten und zeichneten im Gedächtnis die Wege nach, die sie zusammen mit Sam gegangen waren. Diese Abende blieben ihm wie glühende Miniaturen im Gedächtnis, in Licht gebadet inmitten der Wolke aus Trauer, die sich um ihn geschlossen hatte. Pippin war es immer schon gelungen, selbst in früher Kindheit, ihn zum Lachen zu bringen, und das hatte sich nicht geändert.

Auf lange Sicht blieben nur Frodo und die Gärtners in Beutelsend zurück, und plötzlich kam es ihm in den Sinn, dass dies nicht länger sein Zuhause war; es war das Erbteil von Sams Kindern. Wo soll ich hin? fragte er sich, und er lag fast die ganze Nacht wach und dachte über diese Frage nach.

Merry und Pippin würden beide gerne einen Platz für ihn finden, und sie hatten sicher jede Menge Platz. Er dachte an das Schloss seiner Kindheit zurück, warm und geräuschvoll und bevölkert. Selbst als Kind hatte er sich schon nach einem stillen Winkel gesehnt, wo er allein sein konnte, um zu lesen und nachzudenken. Nun, nach Jahren in der Wildnis, und nur mit Radagast als Gesellschaft, glaubte er nicht, dass er das wimmelnde Leben in dem Ameisenhügel vom Brandyschloss würde ertragen können. Und in die Groß-Smials würde es das selbe sein, oder noch schlimmer, sogar ohne das Protokoll und die Förmlichkeit, die komisch gewesen waren, als er dort zu Besuch war. Aber beides würde schwer auszuhalten sein, wenn er nicht mehr davor flüchten konnte.

In Krickloch lebte jetzt eine Familie, oder er wäre dorthin gegangen; aber sicherlich musste es irgendwo einen versteckten, kleinen Smial geben, wo er die Zeit verbringen konnte, die ihm noch blieb. In der Nähe von Hobbingen, wie er hoffte; er würde gern in der Nähe von Hobbingen bleiben, wo Sam sein gesamtes Leben verbracht hatte, abgesehen von dem Jahr auf der Fahrt und dem Besuch in Gondor. Er vergrub sein Gesicht im Kissen, als der Kummer ihn wieder an der Kehle packte.

Nach dem Frühstück fragte er Elanor, ob sie von einem kleinen Plätzchen wusste, das er anmieten konnte; sie schaute ihn mit einem Blick vollständiger Verblüffung an.

„Wieso das, Herr Frodo? Ist es so schwer, mit uns zusammen zu leben?“ Frodo stammelte Entschuldigungen und Erklärungen, und sie lächelte. „Es gibt keinen Grund für dich, irgendwo anders hin zu gehen, Herr. Ich weiß, es ist hier gerade ein bisschen übervölkert, aber in den nächsten paar Tagen gehen wir alle wieder nach Hause; dann wird niemand mehr da sein als Fro und seine Familie, und er hat bloß vier Kinder.“

„Aber vielleicht hätte Jung-Fro sein Heim gern für sich,“ bemerkte Frodo mit trockenem Humor. „Der Smial sollte nicht inklusive eines Besitzers aus lang vergangenen Zeiten an ihn gehen, als hätte er ein Gespenst im hinteren Schlafzimmer.“

Elanor lachte. „Oh, er hätte ganz bestimmt ein Gespenst, aber wirklich, wenn er dich nicht Willkommen heißen würde. Papa würde zurückkommen und ganz sicher bei ihm spuken. Mach dir keine Gedanken, Herr Frodo,“ fügte sie ernsthaft hinzu, „wir denken, dass Frodo das größte Glück von uns allen hat, weil er Beutelsend bekommt und dich gleich mit dazu! Wenn di ihn und Margerite zu anstrengend findest und irgendwann Ferien machen willst, dann kannst du zu jedem von uns kommen, und wir werden überglücklich sein, dich bei uns zu haben.“

„Ich danke dir,“ sagte Frodo tief bewegt.

„Weißt du, was es für Papa bedeutet hat, dass du zurück gekommen bist?“ fragte Elanor leise. „Ich glaube nicht, dass er in all diesen Jahren je von dir geredet hat, ohne zu sagen, du hättest versprochen, dass du heimkommst. Und wir waren so dankbar – wir alle – dass du hier warst, als es ihm schlecht ging. Du bist es gewesen, der ihn hindurchgetragen hat, Herr Frodo; wenn du nicht hier gewesen wärst, wäre er am Ende vielleicht bitter geworden. Du hast ihn davor bewahrt. Frodo würde dir Beutelsend auf der Stelle überlassen, wenn du es haben willst; das hat er mir erst gestern gesagt. Er wird nicht mit seiner Familie einziehen, bevor du es ihm sagst.“

„Wird er das nicht?“ fragte Frodo; plötzlich war er von Reue erfüllt. Er hätte schon vorher mit Jung-Frodo sprechen sollen, da er doch wusste, dass er natürlich Sams Erbe war. „Weißt du, wo er ist, Elanor? Ich muss das sofort klären.“

Also kehrten Fro und Margerite gerade lange genug nach Hause zurück, um ihren Hausstand zusammen zu packen und nach Beutelsend zu ziehen. Der alte Smial hallte von den Possen von vier lebhaften, jungen Hobbits wider, und die Mahlzeiten waren Feste von gutem Essen und guter Laune. Nach einigen Verhandlungen mit Frodo – während denen jeder von beiden versuchten, dem jeweils anderen das große Schlafzimmer zuzuschanzen – blieb Frodo in der Schlafkammer neben seinem alten Studierzimmer. Es war mehr als groß genug für seine Bedürfnisse, wie er leicht verärgert dem jungen Herrn gegenüber anmerkte, abgesehen davon, dass es sehr bequem war, wenn er beschloss, spät aufzubleiben und zu lesen. Sie richteten sich sehr angenehm zusammen ein, und Frodo sagte sich selbst jeden Tag, wie viel Glück er hatte; zurück in seinem alten Zuhause, geehrt und wohlversorgt von Sams eigenen Kindern.

Tagsüber konnte er es glauben. Tagsüber, umgeben von einem wuseligen Familienleben, gelang es ihm gut genug. Er steuerte sein Teil zur Unterhaltung bei, stimmte in die gutgelaunten Neckereien um den Abendessens-Tisch ein, spielte zuweilen mit Fro Schach und brachte das Spiel auch den älteren Kindern bei. Sie trauerten alle um Sam, aber sie hielten eine Fassade der Fröhlichkeit aufrecht, und er fühlte, dass das gesund und richtig war.

Nachts allerdings floh ihn der Schlaf. Er lag im Bett, solange er es ertragen konnte, und starrte die Innenseiten seiner Augenlider an; dann stand er auf und ging ins Studierzimmer. Er wickelte sich in eine dicke Daunendecke, um kein Feuer machen zu müssen. Er versuchte zu lesen, aber er war nicht imstande, sich auf das Buch zu konzentrieren, er wollte schreiben, aber es kam ihm nutzlos vor. Radagast würde sagen, dass ich meinen Sinn und Zweck verloren habe, dachte er, und er hätte Recht.

Er fühlte sich so verbraucht wie eine abgebrannte Kerze. Nach langer Zeit war er unter Schmerzen heil geworden von der Fahrt, und er hatte im Elend von Mordor getan, was er konnte. Die Erinnerung an die Orks stieg vor ihm auf und er fragte sich, ob sie wohl noch lebten; zum tausendsten Mal segnete er sie.

Er hatte sein Versprechen an Sam gehalten, war heimgekommen und hatte ihn durch den letzten Kampf hindurch gestützt. Gibt es noch etwas, das ich zu tun habe? Er öffnete das Fenster des Studierzimmers und stand da, während die kalte Luft ihn umwehte. Er blickte auf zu den Sternen, die in der Winternacht strahlten. Ist es noch nicht genug? fragte er im Stillen. Kann ich nicht nach Hause gehen? Und dann wunderte er sich über seine eigene Frage.

Eines Nachts schneite es. Er blickte aus dem Fenster, und der Boden war bereits zugedeckt, die Luft schwer von fliegenden Schneeflocken. Das Studierzimmer kam ihm plötzlich zu eng vor. Er legte sich seinen Mantel um, den selben Mantel, den die Elben von Lothlórien ihm vor einer ganzen Lebensspanne geschenkt hatten, und trat ins Freie.

Die Sterne waren unsichtbar, aber der Schnee glitzerte auf dem Boden und in der Luft, und es kam ihm so vor, als würde er sich durch Sterne hindurch bewegen, wirbelnde, eisige Lichtflecken in schwärzester Leere. Es war ein wenig beängstigend, aber auch berauschend, und er genoss es; zum ersten Mal seit Sams Tod fühlte er sich wirklich lebendig. Er streckte seine Zunge heraus, um eine Schneeflocke aufzufangen.

Zweite Kindheit, erklärte er einem unsichtbaren Zuschauer. Ich bin alt genug, dass ich Anspruch auf eine zweite Kindheit habe. Das belustigte ihn, und er lachte laut; dann schluckte er das Lachen hinunter, damit er niemanden drinnen im Smial aufweckte. Er wandte sich ab von Hobbingen, hinaus auf das offene Feld und die Wälder dahinter.

Das Feld war eine unberührte, weiße Weite, wie ein neues Blatt Papier, auf dem noch nichts geschrieben stand. Er schrieb seine Fußspuren darauf und stemmte sich gegen den Wind, der versuchte, seinen Mantel zu lösen und ihm Eispartikel gegen die Wangen trieb. Freude stieg in ihm auf, als er darum rang, den Mantel im Griff zu behalten und mit den Augen blinzelte, um die Wimpern von den Schneeflocken zu befreien, die daran hingen. Als er die Wälder erreichte, waren sie verzaubert. Hier gab es keinen Wind und der Schnee fiel schnurgerade herunter, ein reiner Schleier von leuchtendem Glanz. Wie Galadriels Haar, dachte er, halb betäubt von Kälte und Schönheit.

Jemand lehnte an einem Baum weiter links, und er wandte sich in diese Richtung. Wer immer es war, er regte sich nicht, sondern wartete einfach auf ihn, und er hatte die Stelle fast erreicht, als eine stechende Qual aus dem Nichts kam und ihn erstarren ließ. Schmerz explodierte in seiner Kehle und schoss ihm in die Brust und die Arme hinunter. Er rang nach Luft, stolperte und fiel der Länge nach zu Boden, das Gesicht im Schnee.

Dann war da ein Arm um ihn, jemand, der ihm half, aufzustehen. Der Schmerz war so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war, und er rappelte sich ungeschickt auf, während eine kräftige Hand ihn hochzog. Er schaute hin, um zu sehen, wer es war.

„Sam!“ sagte er und spürte das Lächen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Er hatte den vagen Gedanken, dass er überrascht sein sollte, aber er war nur froh; er packte Sam lachend um die Mitte, und Sam grinste und klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Es war, als hätte es die Jahre dazwischen nie gegeben; Sam war wieder der starke, junge Gärtner, der mit ihm von Krickloch aufgebrochen war, damals, als die Finsternis nur eine Bedrohung war, vor der sie davonrannten, bevor sie um ihre entsetzliche Wirklichkeit wussten.

„Bist du soweit, Herr Frodo? Ich bin gekommen, um dich zu holen.“

„Ich bin soweit.“ Sam nahm seine Hand und sie machten sich Seite an Seite auf den Weg; sie wanderten gemeinsam, wie sie es die ganze Zeit während der langen Fahrt getan hatten. Aber diesmal glitten sie über den Schnee hinweg, anstatt hindurch zu stapfen, und jetzt stiegen sie, hinauf in die wirbelnden Flocken aus Licht, höher und höher, bis es nicht länger Schneeflocken waren, die sie umtanzten, sondern wirklich und wahrhaftig die Sterne.

ENDE


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