Ein Geruch nach Asche
von Cúthalion

Xaviers Schule ist immer schon eine Zuflucht für mich gewesen und ein Zuhause, seit ich zum ersten Mal her gekommen bin. Es war – und es ist – ein Ort, wo Mutantenschüler sein können, was sie sind, ohne Furcht und Scham. Durch die Gärten zu gehen und das Haus mit seinen efeubewachsenen Mauern zu betreten, fühlte sich für mich immer so an, als würde ich aus dem Strom der Zeit heraustreten, in ein anderes, friedlicheres Universum.

Aber natürlich war mir klar, dass das selbstlose Projekt des Professors auch als glänzend polierte Deckung für all diese anderen Aktivitäten diente... heimliche Flüge mitten in der Nacht und gnadenlose Trainingsrunden im Danger Room. Die, die unsere Lehrer zu unfehlbaren Waffen machten, bereit für die Schlacht, darauf vorbereitet, einen heimlichen Krieg zu kämpfen und die von unserer Art zu retten, die sich nicht selbst helfen konnten.

Ich wusste über die Labore Bescheid – teilweise, weil ich durch das, was von Logans lückenhaften Erinnerungen noch in meinem Geist übrig geblieben war, mehr als nur einen kurzen Einblick in ihr keimfreies Entsetzen mitbekommen hatte. Doch selbst diese drastischen Bilder hatten mich nicht auf den Einfall vorbereitet, dass man das, was man ihm angetan hatte, auch anderen antun konnte.

Xaviers geheime Quellen flüsterten von einem Laboratorium südlich von Philadelphia, wo Mutantenkinder zusammen gepfercht worden waren, für Experimente, die weit jenseits jeder Vorstellung lagen, die ich mir vielleicht über die Grausamkeit gewissenloser Wissenschaftler gemacht hatte. Und was er da hörte, war offensichtlich furchtbar genug, um ohne Aufschub zu handeln.

Sie kamen an einem wolkigen Montagmorgen im September von dieser Mission zurück – zwei Wochen nach der Nacht auf der Freiheitsstatue, eine Woche, nachdem Logan fort gegangen war.

Ich war früh auf an diesem Tag; ich hatte mir einen Becher heißen Kakao aus der Küche geholt, noch im Schlafanzug, und ich sah den Blackbird aus dem Himmel herunter sinken und unter dem Basketballfeld verschwinden. Nur Minuten später glitt das Eisentor unten am Hügel für eine massige Mercedes-Limousine zur Seite. Sie schnurrte die Auffahrt hinauf und blieb vor dem Haupteingang stehen. Ein Riese schälte sich aus dem Auto, faltete vorsichtig die Glieder auseinander und streckte den Rücken. Seine Haut war mit etwas überzogen, das aussah wie ein kurzer Pelz – und der war so blau wie die Hortensien im Garten meiner Oma Eloise.

Er trug einen Trenchcoat, der so groß war wie ein Zirkuszelt, und ich hätte gelächelt, wenn da nicht dieser müde, grimmige Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes gewesen wäre. Ein Teich aus warmem, goldenen Licht ergoss sich auf den Kies, und ich entdeckte Storm, die ihm entgegen rannte, um ihn zu begrüßen. Ihr Hände gingen komplett im Griff des Riesen unter. Sie sprachen ein paar Minuten miteinander, und sein Gesicht verhärtete sich zu einer Grimasse aus Zorn und Ungläubigkeit... und dann gingen sie hinein und waren verschwunden.

Ich sollte an diesem Morgen beim Frühstück mehr herausfinden... oder besser, Jubes hatte es schon getan. Sie war meine brandneue Zimmergenossin,ein hübsches Mädchen mit einem glänzend schwarzen Haarschopf, mandelförmigen Augen und einem Lächeln wie Quecksilber. Anstatt vor meiner verfluchten „Gabe“ zurückzuscheuen, erklärte sie meine ewigen Handschuhe zur „sexiesten Sache der Welt“. Die schlohweißen Strähnen, mit denen ich von Liberty Island zurückgekehrt war, fand sie einfach „cool“ und sie rannte mich mit ihrer offenen, eifrigen Freundschaft über den Haufen, bevor ich auch nur die geringste Chance hatte, mich in mein Schneckenhaus zurück zu flüchten. Abgesehen davon, eine kostbare Freundin zu sein, war Jubilee Lee außerdem die schlimmste Tratschbase der ganzen Schule. Ein Geheimnis vor ihr zu bewahren, war ungefähr so sinnvoll, wie Oma Eloises legendäre Ginflasche vor ihr zu verstecken; sie fand sie sowieso jedes Mal.

An diesem Morgen tauchte das Quecksilberlächeln nicht auf. Sie spielte mit dem Toast auf ihrem Teller herum und ließ ihren Orangensaft unberührt, während sie in gedämpftem Tonfall von einem Dutzend Tragen sprach, die aus dem Blackbird in das Medizinlabor gebracht worden waren. Tragen mit Mutantenkindern... und auch nur die, die man lebend aus diesem Ort hatte herausholen können. Ich fischte ein Taschentuch aus der Tasche und reichte es ihr mit zitternden Fingern über den Tisch. Ihr Gesicht verschwand dahinter, bleich vor Entsetzen.

Stille lastete über dem Haus wie eine Decke aus nasser Wolle, und wenn die Kinder in den Korridoren unterwegs waren, dann nur in Gruppen. Keiner unserer Lehrer sprach über das, was sie gesehen hatten. Das war auch nicht nötig. Wir konnten den Schrecken in der Luft spüren wie Nebel, und die überwältigende Atmosphäre aus Qual und Angst ließ uns beinahe ersticken. Der Unterricht war früh zu Ende. Jubes lud zwei oder drei Mitschüler in den betagten Pickup, den wir für Einkaufstouren benutzen durften – Bobby und Kitty, glaube ich – und weg waren sie zum nächstbesten Einkaufszentrum. Ein neues Top oder ein Paar steiler Lederstiefel waren bestimmt ein schwacher Trost, aber an diesen Tag hätte es jede Art Trost getan.

Ich tat etwas, das ich noch nie zuvor gemacht hatte... ich wartete heimlich in einem leeren Klassenzimmer, bis ich sicher war, dass sie weggefahren waren. So sehr ich es auch genoss, mit ihnen zusammen zu sein, in diesem Moment konnte ich es nicht aushalten. Rasende Kopfschmerzen pressten mir die Schläfen zusammen wie ein eiserner Schraubstock; sie kamen geradewegs aus dem Nichts, ließen mich schwanken und erfüllten mich mit einer hilflosen Panik. Ich schlüpfte hinaus auf den leeren Flur; das Geräusch meiner Füße auf dem Fliesenboden hallte von den Wänden wider. Und da war noch mehr... ein Geräusch wie ein schlecht eingestelltes Radio, das von Programm zu Programm wechselte und langsam deutlicher wurde.

Das ist, was sie uns antun, Kind, was sie uns wieder und wieder antun. Begreifst du es jetzt?

Ich erkannte diese Stimme sofort wieder. Es war die Stimme von Liberty Island, erfüllt von gnadenlosem Mitleid, als er er sagte, es würde ihm Leid tun... bevor er mich an den Wahnsinn der Maschine auslieferte. Die Stimme von Eric Lehnsherr... und sie kam mitten aus meinem Geist.

Einmal bin ich Max gewesen, nicht Eric. Aber das war vor dem Ghetto, vor Warschau und vor Auschwitz. Ehe ich wusste, dass sie Monster sind. Und weißt du was, mein liebes Kind? Das sind sie immer noch.

Er war noch da. Die gequälten Mutantenkinder hatten ihn aus der entfernten Ecke in meinem Hirn hervor gelockt, die er noch immer beherrschte. Die Nachricht über ihr Schicksal war Anstoß genug, seine Erinnerungen zu wecken, und jetzt überschwemmte er meinen Geist mit Bildern von Regen und Schlamm und stolpernden Füßen, mit dem Geräusch von Gewehren und grausamen Stimmen, die in einer Sprache brüllten, die ich nicht kannte, aber trotzdem verstand. Ich rannte den Flur entlang, immer schneller und schneller, beide Hände über den Ohren – als ob das helfen könnte, das unaussprechliche Grauen in Schach zu halten.

Weißt du, was Sonderkommandos sind? Ich werde es dir zeigen. Öffne die Augen, Kind.

Und ich sah. Gott helfe mir, ich sah. Ich sah die Kofferhaufen, Namen und Adressen mit weißer Farbe auf die Seiten gemalt. Mandelbaum. Eisenhardt. Rosenkranz. Ich sah winzige Goldklumpen, aus erschlafften Kiefern gebrochen. Ich sah Hunderte von Brillen, durch die nie wieder jemand schauen würde. Und ich atmete den Gestank brennender Leiber ein, in die Öfen gezerrt mit Haken, die man ihnen durch die Fersen getrieben hatte... Leiber, die einmal menschlich gewesen waren, bis zur Unkenntlichkeit zusammen geschrumpft, wie trockenes Feuerholz.

Jemand schrie, schrill und unerträglich laut. Ich spürte, wie meine Beine einknickten, dann schlug meine Wange auf den Teppich. Ich weiß nicht mehr, ob ich gleich dort das Bewusstsein verlor; es machte sowieso keinen Unterschied. Die schöne, mitleidlose Stimme wütete weiter in meinem Kopf und reihte Bilder und Erinnerungen zu einer Kette aneinander, die sich langsam um meinen Hals zusammen zog. Sie raubte mir den Atem und erfüllte meine Nase mit einem Geruch nach Asche und Tod.

*****

„Oh Gott, lass es aufhören... ich kann nicht mehr, ich will sterben...”

Kühle Hände in Handschuhen, die sich um meine Wangen legten und meinen Kopf sachte vom Teppich hoben, und die neblige Gegenwart einer zweiten Person, die über mir aufragte wie ein gewaltiger Schatten.

„So etwas wie das hier habe ich noch nie gesehen, noch nicht einmal annähernd.“ Eine basstiefe, rumpelnde Stimme, warm und kraftvoll genug, um die Worte von Eric Lehnsherr zu ertränken, wenigstens für ein paar kostbare Augenblicke. „Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich hier um das arme Mädchen handelt, das Magneto in seiner Maschine missbraucht hat?“

„Ja, Hank, das ist Rogue.“ Ich konnte Jeans Finger fühlen, die mit einer zarten Liebkosung durch mein Haar strichen.

„Spricht sie die Sprache, von der ich vermute, dass sie sie spricht?“

„Deutsch? Ich glaube schon... obwohl, ich bin nicht ganz sicher. Die anderen Kinder sind im Moment stabil; würdest du Rogue ins Labor tragen? Ich gehe und hole Charles.“

Ich wurde vom Fußboden aufgehoben, und die raschen Schritte des Mannes wiegten mich sanft in pelzigen Armen. Ich wollte mich in diesem tröstlichen Halt verlieren, endlich taub, endlich gefühllos. Aber Erics Stimme wurde wieder lauter, sie flüsterte von Orten, an denen sein Volk ausgehungert, zu Tode geprügelt und vergast worden war.

Auschwitz.

Majdanek.

Treblinka.

Dachau.

Das ist das, was sie uns angetan haben, Kind... und was sie uns weiter antun werden, wenn wir es zulassen. Denkst du noch immer, dass mein Plan nicht gerechtfertigt war?

„Ihr Untiere! Mörder! MÖRDER!”

Meine Stimme kreischte vor Verzweiflung, und die Bilder waren eine übelkeiterregende Woge, die einmal mehr über mir zusammenbrach und meinen Verstand in Stücke riss.

*****

„Wir müssen dem ein Ende machen, Charles. Er treibt sie geradewegs in einen psychotischen Schub hinein.“

Ich wusste nicht, wieso, aber ich konnte sie reden hören; Jeans weiche Stimme, den britischen Akzent des Professors.

„Ich bin nicht imstande, den Prozess zu blockieren; Eric schließt mich mit voller Absicht aus, indem er ihre Stärke benutzt, und Rogue ist bereits zu erschöpft, um dagegen anzukämpfen, wie es scheint. Vielleicht war es mein Fehler. Ich dachte, es würde nicht so lange dauern, bis er aus ihrem Geist verschwindet.“

Ein paar weitere Sekunden segensreicher Stille. Mein ganzer Körper tat entsetzlich weh, mein Schädel fühlte sich so an, als würde er jeden Moment platzen, und ich wollte die Hände nach ihnen ausstrecken. Helft mir. Bitte. Rettet mich vor dem hier.

„Warte mal, Charles... mein Gott!“

„Jean?”

„Du hast gesagt, Eric wäre nicht rasch genug aus ihrem Geist verschwunden. Aber... er war doch nicht der Einzige, den sie an diesem Tag berührt hat, weißt du noch? Wir...wir brauchen einen Auslöser.“

„Einen Auslöser?“

Von sehr weit weg fühlte ich eine Berührung an meinem Hals.

„Sie trägt sie nicht. Natürlich...ich hätte es wissen sollen. Warte einen Moment. Ich bin gleich wieder da.“

Was...?

Der Augenblick der Klarheit war vorüber und ich wurde wieder zurück gestoßen, hinein ins Feuer.

*****

Ich würde liebend gern sagen, dass ich dagegen ankämpfte, wie Eric Lehnsherr meinen Geist übernahm, bis ich ihn endlich mit einer letzten, gewaltigen Anstrengung austrieb.

Ich wünschte, es wäre so gewesen.

Was er mir zeigte, die Erinnerungen, die er dazu benutzte, meine magere Verteidigung zu erschüttern... sie waren einfach zu überwältigend, um irgend etwas anderes zu tun, als aufzugeben. Bis zum heutigen Tag habe ich keine Ahnung, wie lange dieser Kampf andauerte; das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass an einem gewissen Punkt die Überreste, die von mir und meinem klaren Verstand noch geblieben waren, sich in einen kleinen, abgelegenen Winkel meines Geistes zurückzogen. Ich war zu müde, um mich zu wehren, ich war unfähig, dem unsagbaren Schrecken, mit dem er mich konfrontierte, noch länger entgegen zu treten... alles, was ich wollte, war Dunkelheit und Stille,selbst wenn der Preis, den ich dafür zahlen musste, ein niemals endendes Koma sein würde. Besser in Ewigkeit dahin zu vegetieren als noch mehr davon. Und so lag ich in dieser vergessenen Ecke tief in mir selbst, zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib, schaudernd, verborgen. Ich wartete darauf, mich aufzulösen und zu verschwinden.

Rogue. Eine Frau, die in leisem,beruhigenden Ton zu mir sprach. Rogue? Ich weiß, dass du da bist.

Nein. Zu gefährlich, zuzuhören. Zu gefährlich, zu antworten.

Rogue. Mach die Hand auf.

Nein. Ich kann nicht.

Mach die Hand auf, Rogue.

Irgendwo, in einer anderen Welt, fühlte ich, wie meine Finger sich streckten. Etwas Kaltes wurde in meine Handfläche gedrückt.

Und jetzt... schau.

Ich... ich weiß nicht, ob...

Vertrau mir. Tu es einfach.

Ich hab solche Angst.

He, komm schon, Kleine. Schau mich an.

Eine andere Stimme, schmerzhaft vertraut. Das war...

Ich riss die Augen auf. Die Dunkelheit war verschwunden und einer dämmerigen Helligkeit gewichen. Und im Mittelpunkt dieser Helligkeit sah ich ihn. Er stand da, die Hand nach mir ausgestreckt, den Blick unverwandt auf mein Gesicht gerichtet.

„Bist du... bist du wirklich da?“

Klar bin ich das, Kleine. Jetzt komm schon, lass uns gehen.

Ich schaute auf meine Hand hinunter. Etwas glänzte in meiner Handfläche... eine kräftige Kette, zwei kleine, rechteckige Metallscheiben. Die Hundemarke.

„Willst du sie wiederhaben?“

Nein, Kleine. Noch nicht.Ich brauche sie bloß mal für einen Moment, okay?

Er nahm sie mir ab, machte den Verschluss auf und wickelte sich ein Ende der Kette um das Handgelenk. Die Hundemarke fing an, sich zu bewegen; sie schwang sachte in meine Richtung.Ich spürte, wie sich mein Gesicht in einem Lächeln entspannte; instinktiv beugte ich mich vor, fing sie auf und hielt sie in einem festem Griff. Ganz plötzlich lachte er, und dieses Lachen war Hoffnung, es war Wärme und Freude und Leben.

Gut gemacht, Marie... das ist mein Mädchen. Lass nicht los.

„Wirst du auf mich aufpassen?“

Klar werde ich das. Ich hab's dir versprochen, erinnerst du dich? Der beste Job, den ich je hatte. Wieder lachte er, und dann setzte er sich in Bewegung, einen Schritt, zwei Schritte, drei. Ich folgte ihm, die Hundemarke warm an meiner Haut, und auch das Licht schien ihm zu folgen. Wir gingen ohne jedes Geräusch, und die grauenhaften Bilder, die ich seit Stunden ertragen hatte, waren nichts als ein Traum. Eric... da war ein Mann gewesen, der Eric hieß, aber ich spürte ihn nirgendwo. Weit vor uns bemerkte ich eine Mauer, die nur einen Moment zuvor noch nicht da gewesen war, und genau in der Mitte dieser Mauer befand sich eine Tür.

Stop.

Erics Stimme, erfüllt von kalter Autorität. Ich duckte mich; mein Selbstvertrauen zerbröckelte unter der Gewalt seiner Macht, aber ich ließ die Hundemarke nicht fallen. Meine Finger verkrampften sich darum zu einer Faust, und die Kanten gruben sich schmerzhaft in mein Fleisch. Mein Beschützer drehte sich um, mit hartem Gesicht und flammenden Augen.

Lass sie in Frieden, alter Mann. Du hast schon genug Schaden angerichtet. Seine Hand hob sich und berührte eine der knochenweißen Strähnen, die mein Gesicht einrahmten. Wir beide verschwinden jetzt von hier. Und wenn du weißt, was gut für dich ist, dann gehst du auch. Es wird Zeit.

Wolverine, Wolverine... Erics Stimme war erfüllt von echter Belustigung. Du weißt, dass du nichts anderes bist als ein Killer, nicht wahr? Und für ein schwächliches, kleines Mädchen mit tödlicher Haut die Glucke zu spielen, wird dich auch nicht davon erlösen.

Zorn stieg in mir hoch wie ein Springfeuer, und Stärke ergoss sich in mein Rückgrat.

„Und was sind Sie?“ Meine Stimme war vom stundenlangen Schreien heiser, aber die Worte kamen vollkommen klar und deutlich heraus. „Man hat Sie zur Hölle gezerrt und wieder zurück, und Sie wissen, wie sich das anfühlt – und dann gehen Sie hin und schicken den Rest der Welt auch zur Hölle? Sie haben versucht, mich zu benutzen wie eine Batterie, und mein Leben hat Ihnen nie auch nur einen Scheißdreck bedeutet. Ihm bedeutet es was. Das hat es immer getan. Lassen Sie uns in Ruhe.“

Plötzlich öffnete sich die Tür vor uns, und draußen vor dem merkwürdigen Raum, in dem wir die ganze Zeit gewesen waren, erstreckte sich ein blauer, wolkenloser Himmel. Da waren Rasenflächen und Blumenbeete und Kieswege, und es sah aus wie der Garten des Instituts.

Wir ließen den Raum hinter uns zurück, und ich war nicht überrascht, als ich sah, dass Mauer und Tür blasser wurden und verschwanden. Frische Luft füllte mir die Lungen, und ich wandte mich dem Mann neben mir zu. Die Sonne wärmte meine Wangen: sie verwandelte die Farbe seiner Augen in einen goldschimmernden Haselnusston.

„Danke,“ flüsterte ich. „Ich danke dir so sehr.“

Kein Problem, Kleine. Und du hast Recht gehabt – es bedeutet mir was.

Seine Hände schlossen sich um mein Gesicht; mit jähem Schrecken begriff ich, dass er keine Handschuhe trug, und ich versuchte, vor seiner Berührung zurück zu weichen. Aber es gab überhaupt keinen Sog, und er ließ mich nicht los. Ich starrte ihn in tiefem Staunen an, überwältigt von dem wunderbaren Gefühl seiner Haut an meiner.

Es bedeutet mir was, Marie.

Die Haselnussaugen waren ganz nahe, und ich spürte, wie seine Lippen meine streiften... kurz und flüchtig, aber immer noch intensiv genug, dass ich überrascht aufkeuchte.

Ich muss gehen.

Er nahm sachte die Hundemarke von meiner Handfläche. Dann beugte er sich noch einmal vor, legte mir die Kette um den Hals und machte den Verschluss zu; er trat einen Schritt zurück, lächelte mich an und ließ einen Finger zu der Stelle hinunter gleiten, wo die Marke auf meiner Haut ruhte.

Die hol ich mir wieder ab. Das weißt du doch, oder?

„Ich weiß. Logan...“

Von einer Sekunde zur anderen war er weg.

*****

„...Logan?”

Ich öffnete die Augen. Die Welt war ein verschwommener Nebel, aber da waren Laken und eine weiche Matratze unter meinem Körper, und ein Kissen unter meinem Kopf. Mein Geist war so zerschlagen und erschöpft wie meine Glieder, aber er fühlte sich herrlich leer an. Keine sterbenden Opfer. Kein Rauch, kein Geruch nach Asche. Kein Eric. Kein...

„Logan?”

„Er ist nicht hier, Kind.“

Ich drehte den Kopf und blinzelte. Der Rollstuhl des Professors stand neben dem Bett, und die ruhigen, unergründlichen Augen begegneten meinen mit einem kleinen Lächeln.

„Willkommen, Rogue. Das war eine lange und gefährliche Reise; ich bin froh, dass du es in einem Stück nach Hause geschafft hast.“

„Ich... ich versteh das nicht... wo ist er denn hin?“

„Zum Alkali Lake, möchte ich annehmen, um etwas über einige Einzelheiten aus seiner Vergangenheit herauszufinden. Er ist vor sieben Tagen fort gegangen, erinnerst du dich?“ Er warf einen kurzen Blick auf den Kalender an der Wand. „Nein... vor acht Tagen, um genau zu sein. Er sollte bald wieder her kommen.“

„Aber... in meinem Traum...“

„Das war kein Traum, Kind. Ich glaube, ich schulde dir einige Erklärungen.“

„Darauf können Sie wetten.“ Ich rieb mir die Stirn. „Im Moment blicke ich überhaupt nicht mehr durch.“

„Was absolut begreiflich ist, Kind, das versichere ich dir. Deinen Geist übervölkert und erobert zu finden ist eine grauenvolle Erfahrung...und du hast den guten Kampf so gut gekämpft, wie du es vermocht hast. Das Einzige, was wir dazu beigetragen haben, war ein Kampfgefährte.“

„Ein Kampfgefährte?“

„Ja... den unzerstörbaren Körper und die Adamantiumkrallen inbegriffen, meine Liebe.“ Plötzlich grinste der Professor, und ich betrachtete ihn ehrlich überrascht. Er sah zwanzig Jahre jünger aus, und ich konnte mir leicht vorstellen, wie er damals gewesen war... humorvoll, einfallsreich und mehr als bloß ein bisschen durchtrieben, wenn es nötig wurde. Ein waschechter Held, Rollstuhl oder nicht.

„Dann war Logan also...“

„...in deinem Geist, jawohl. Genau wie Eric. Ein direktes Resultat deiner Begegnung mit seiner Maschine,fürchte ich. Und ein Teil von Eric... vielleicht nur eine Art Echo... blieb bei dir, unentdeckt und in aller Stille. Nach dieser Mission in Philadelphia, als wir all diese misshandelten Kinder aus dem Laboratorium hergebracht haben...“

„Er hat's mir gesagt.“ Ich blickte starr geradeaus. „Eric, meine ich. Das über die Lager. Und was sie dort mit den Leuten gemacht haben. Und mit ihm. Er... er hat's mir gezeigt.“

„Es tut mir sehr Leid, Rogue.“

„Nicht halb so Leid wie mir.“ Ich schluckte.

„Ich vermute, die Nachrichten über diese Kinder weckten seine eigenen Erinnerungen auf. Er hat versucht, dir eine Lektion über seine Motivation zu erteilen. Und da er nun einmal Eric ist, hat es ihn nicht wirklich gekümmert, ob er während dessen irgend einen Schaden anrichtet.“ Xavier seufzte.

„Er hat mich fast in den Wahnsinn getrieben.“ Unsere Augen begegneten sich. „Es war knapp, oder?“

„Ich werde dich nicht anlügen. Es war sehr knapp.“

„Was...was haben Sie gemacht?“

„Es war Jean, die es gemacht hat. Nachdem ich herausfand, dass Eric mich daran hinderte, in deinen Geist hinein zu reichen und ein paar dringend nötige Verteidigungslinien gegen seinen rücksichtslosen Versuch aufzurichten, dich zu übernehmen, da war sie es, die mich an die Tatsache erinnerte, dass du nicht nur Hautkontakt mit Eric hattest, an diesem Tag in der Maschine.“

„Logan,“ flüsterte ich.

„Logan, ja. Ihre Schlussfolgerung war, dass – wenn Eric sich immer noch in deinem Geist befand – Logan auch darin sein musste. Und sie war es auch, die herausfand, wie man ihn in die Schlacht rufen musste, sozusagen.“ Er lächelte. „Sie hat sich an die Hundemarke erinnert, weißt du.“

Kein Wunder. Ich hatte sie jeden Tag in der Klasse um den Hals getragen. Erst gestern hatte ich sie abgenommen, zum allerersten Mal, seit er sie an dem Tag, als er fortging, in meine Hand fallen ließ.

„Die verletzten Kinder aus dem Laboratorium waren der Auslöser, der es Eric möglich machte, dich heimzusuchen. Und Jean dachte, du würdest etwas brauchen, das du tatsächlich anfassen konntest, um nach Logan zu rufen... etwas, das du in der Hand halten konntest. Also ging sie in dein Zimmer und fand mit der großzügigen Hilfe von Jubilee Lee heraus, wo du die Hundemarke gelassen hattest. Sie eilte ins Medizinlabor zurück und gab sie dir.“

„Mach die Hand auf, Rogue.“ Das kühle Metall an meiner Handfläche.

„Wo ist Jean jetzt?“

„Ich habe sie heute morgen sehr früh davon überzeugt, sich auszuruhen. Sie hat gestern den größten Teil des Nachmittags damit zugebracht, sich um die Kinder aus Philadelphia zu kümmern, und dann hat sie mir während der Nacht dabei geholfen, deine Reise zurück zu dir selbst zu überwachen, während ein guter Freund die Aufsicht im Medizinlabor übernommen hat.“

„Hank,“ sagte ich. Ein weiteres Detail dieser verlorenen Stunden machte plötzlich Sinn. „Er ist sehr groß. Und blau.“ Ich grinste triumphierend. „Er fährt einen Mercedes.“

„Ganz genau.“ Xavier nickte, ein Zwinkern in den Augen. „Er ist ein wahrhaft bemerkenswerter Mann; ich hoffe, ihr werdet euch sehr bald kennenlernen, und unter besseren Umständen.“

„Wenn ich nicht total durchgedreht und halb ohnmächtig bin, meinen Sie.“ Ich schloss die Augen.

„Wenn du wieder dein übliches, reizendes Selbst sein wirst, meine Liebe... was im Augenblick fast wieder der Fall ist. Alles, was du brauchst, sind ein paar zusätzliche Stunden Schlaf.“

Schlaf war eine gute Idee. Die Kopfschmerzen waren weg, aber nicht ganz... sie waren ein dumpfes Pochen an meiner Schädelbasis. Ich lehnte mich in das Kissen zurück, die Kette und die Hundemarke ein kleines, beruhigendes Gewicht zwischen meinen Brüsten. Ich hörte das leise Summen des Rollstuhls auf dem Weg in Richtung Tür.

„Ist er weg aus meinem Kopf?“ fragte ich, die Augen noch immer geschlossen. „Ist Er... Magneto... verschwunden?“

Der Rollstuhl blieb stehen. „Ich glaube, ja. Ich bin keinem Widerstand oder etwaigen Barrieren begegnet, als ich vor ein paar Stunden deinen Geist erforscht habe.“ Eine kleine Pause. „Logan ist auch fort... Ich konnte ihn nirgendwo spüren. Es gab nur eine Handvoll neuer Erinnerungen...“

Sein Mund, der über meinen dahin streifte.

„...doch ich habe sie nicht angerührt. Sie gehören dir, und dir allein, und du musst sie nur dann mit jemandem teilen, wenn du es möchtest.“

Vielen Dank auch. Wenigstens muss ich jetzt nicht vor lauter Verlegenheit sterben.

„Professor?”

„Ja, Kind?“

„Wieso tut Magneto all diese Dinge?“ Ich biss mir auf die Lippen, unglaublich dankbar dafür, dass sie die Bilder hatten verschwinden lassen. „Was er mich hat sehen lassen... diese sterbenden Kinder... diese brennenden Leichen... ich dachte immer, Erinnerungen wie die sollten einem Mann Mitleid beibringen. Irgend eine Art Respekt... was auch immer. Wie kann er bloß anderen antun, was diese Monster ihm angetan haben? Wie konnte er sich selbst in ein Monster verwandeln?“

„Er ist kein Monster, Rogue.“ Der Professor wendete seinen Rollstuhl; seine Augen waren sehr traurig. „Nicht mehr, als diese Schergen des Dritten Reiches in Auschwitz Monster waren. Sie waren menschliche Wesen, und Eric – mein Freund Eric – ist ebenfalls ein menschliches Wesen. Ebenso wie diese furchtbar fehlgeleiteten Männer konnte er zwischen Gut und Böse wählen, zwischen Richtig oder Falsch. Ebenso wie diese Männer beschloss er, seine innere Bestie von der Leine zu lassen und erschuf die Hölle... während andere ihr Äußerstes tun, die Finsternis zu bezähmen und verzweifelt dem Licht entgegen streben.“

Mein erschöpftes Hirn arbeitete sich langsam seinen Weg durch das verwickelte Labyrinth dieser kleinen Ansprache. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er mir das aufschreibt. Die Hälfte der Wörter, die er benutzt hat, muss ich sowieso in der Bibliothek nachschlagen. „Was meinen Sie damit?“

Seine Lippen zuckten, und ich fragte mich kurz, wie viele von meinen verwirrten Gedanken er wohl mitbekommen hatte. „Ganz einfach, Rogue. Es bedeutet, dass man immer eine Wahl hat.“

Ich hab's dir versprochen, erinnerst du dich? Der beste Job, den ich je hatte.

„Logan hat auch eine Wahl getroffen, oder?“ Es kam fast gegen meinen Willen heraus.

„Ja... ja. Logan hat tatsächlich eine Wahl getroffen.“ Xavier betrachtete mich gedankenvoll. „Tatsächlich ist Logan ein sehr gutes Beispiel.“

„Für was? Für die richtige Entscheidung?“

„Hmmm... für die erste in einer langen Reihe richtiger Entscheidungen, würde ich sagen. Er mag immer noch den falschen Weg wählen, weißt du?“

„Nicht, wenn er Hilfe hat,“ schoss ich zurück und zuckte bei der Heftigkeit in meiner eigenen Stimme zusammen.

„Ich bin ganz deiner Meinung.“ Ein heller Funke leuchtete in den ruhigen, blauen Augen. „Nicht, wenn er Hilfe hat. - Schlaf jetzt, Kind. Ich schicke Jubilee in ein paar Stunden mit dem Mittagessen vorbei.“

„Nein! Ich meine, bitte...“ Ich räusperte mich. „“Könnten Sie mir vielleicht Jean schicken? Das heißt, wenn sie bis dahin wach ist. Ich würde ihr gern Danke sagen.“

„Das werde ich tun.“

Der Rollstuhl summte davon, und die Tür schloss sich hinter ihm. Ich lehnte mich wieder in die Kissen und meine Hand schloss sich sofort um Logans Unterpfand unter meinem losen Hemd...als ob mich die Kette irgendwie mit dem Mann im Norden verbinden würde, diesem Mann, der auf der niemals endenden Suche war nach seiner Vergangenheit.

Es bedeutet mir was, Marie.

„Mir auch,“ sagte ich leise. Und dann – endlich allein und unbeobachtet – presste ich die Hundemarke gegen meine Lippen.

FINIS

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„Sonderkommandos“- Juden in den Konzentrationslagern, die die Leichen ihrer Leidensgenossen beseitigen mussten, und die dafür geringfügig mehr Freiheiten und eine bessere Behandlung als die Mehrheit der anderen Gefangenen erhielten. Es half ihnen allerdings nicht wirklich – die meisten wurden früher oder später ermordet und durch „frisches“ Material ersetzt.

Eric Lehnsherr war nicht Magnetos wirklicher Name. In den X-Men-Comicbüchern wurde er als Max Eisenhardt geboren, Sohn einer mittelständischen Familie in Deutschland.

Anmerkung der Autorin:

Beim Lesen einer hervorragenden Fanfiction, in der die Mutanten in einer Art Paralleluniversum alle „normalen“ Menschen unterdrücken und in Konzentrationslagern halten, fiel mir ein Besuch ein, den ich vor achtzehn Jahren gemacht habe – in Auschwitz. Heute ist das Vernichtungslager ein Museum, aber viele der Details, die in meiner Geschichte erwähnt werden, werden dort immer noch gezeigt. Beim Gedanken an die unzähligen Koffer mit den Namen darauf wird es mir heute noch kalt.

Danke an NeumeIndil, die mir als Beta und Ratgeberin bisher bei allen X-Men-Geschichten beigestanden hat!


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