Bernsteintränen
von Cúthalion


1. Kapitel
Nachmittag

September 1422

Sie hatte das Kommen dieses Tages seit Monaten gefürchtet. Sie fürchtete sich nicht vor dem Schmerz; er war der Preis, den sie zu zahlen bereit gewesen war, als sie ihn gehen ließ. Sie war an das Gefühl der plötzlichen Erinnerung gewöhnt, scharf wie ein eisiger Stich unter ihrer Haut. Es war ein Februarabend wie dieser, als ich nach Beutelsend ging, wütend genug, um alle übrig gebliebene Vorsicht zu vergessen… es war eine Aprilnacht wie diese, als er mich im Regen geliebt hat… ein Mittsommer, warm und duftend wie der Mittsommer in diesem Jahr, als er meine Hand nahm, um mich auf den Tanzboden hinauf zu ziehen…

Nur dass all diese kleinen, stechenden Erinnerungen nichts sein würden verglichen mit dem Schmerz, den dieser besondere Tag brachte; den ersten von Frodo Beutlins Geburtstagen, den sie ohne Hoffnung darauf verbringen musste, dass er in der Nähe war. Es hatte bereits zwei einsame Jahre gegeben, während dieser schicksalhaften Fahrt und kurz danach, aber dieses Mal wusste sie ganz sicher, dass er nicht zu ihnen zurückkehren würde. Zu ihr.

Vorgestern war Sam gekommen. Er hatte in ihrem Studierzimmer gestanden, er hatte ihren Blick gesucht und war ihm dann ausgewichen, als sie versuchte, hinter seine vertraute Maske ruhiger Freundlichkeit zu schauen.

„Bitte komm doch zu uns“, sagte er. „Du solltest nicht hier alleine sein mit... mit deinen Gedanken. Mit deinen Erinnerungen.“

„Mein lieber Sam.“ Lily legte beide Hände flach auf Amaranths Buch. Sie spürte das Pergament unter ihren Handflächen und roch die Tinte der Kräuterzeichnungen. Beides wirkte seltsam beruhigend auf ihre Seele. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre. Du solltest dir mit Rosie einen schönen Tag machen... wie wär’s mit einem Picknick? Bringt Elly hierher oder zu Lily Kattun und habt Spaß miteinander. Ich bin daran gewöhnt, allein zu sein, Ich sollte es ganz sicher bis jetzt gelernt haben... und wenn nicht, dann ist es Zeit, dass ich damit anfange.“

Das Echo dessen, was sie gerade gesagt hatte, ließ sie blinzeln und es weckte die Erinnerung an ihre eigenen Worte, die von einem nebligen, frühen Septembermorgen vor fast einem Jahr in ihr widerhallten. Eines Tages... was heißt das? Ein Jahr? Zwei Jahre? Zwanzig?

„Ich habe eine Entscheidung getroffen, Sam“, sagte sie endlich. „Es war eine schwere Entscheidung, die härteste in meinem ganzen Leben, und jetzt muss ich die Folgen ertragen, so gut ich kann. Ich schätze es, dass du mir helfen möchtest, aber ich muss versuchen, allein damit zurecht zu kommen.“ Ihre Augen begegneten sich; Kummer wurde von Kummer gespiegelt, und da war noch etwas anderes in seinem Blick, das sie nicht völlig verstand.

Er holte tief Luft.

„Du vergisst“, erwiderte er mit einer Stimme, die ein wenig heiser war, „du wusstest, was kommt – ihr alle beide – aber ich hab keine Wahl gehabt, keine Möglichkeit, meine Meinung zu sagen. Er hat sich’s in den Kopf gesetzt, uns zu verlassen, und du hast nicht mal versucht, ihn dran zu hindern... ohne mich jemals zu fragen, wie es mir dabei geht.“

Er senkte den Kopf, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Sie blieb zurück, einen Augenblick lang atemlos und von schmerzhafter Verblüffung erfüllt.

Er ist immer noch wütend, dachte sie, und in gewisser Weise hat er Recht. Er ist nie gefragt worden... er konnte ihn nie bitten zu bleiben.

Sie starrte blind auf ihre Hände hinunter.

Armer Sam. Ich konnte ihn genauso wenig bitten zu bleiben. Ich frage mich, ob er jemals imstande sein wird, mir das zu verzeihen.

*****

Der gefürchtete Tag dämmerte mit einem durchscheinenden, wolkenlosen Himmel, und Lily begegnete ihm mit offenen Augen; sie saß hellwach an ihrem Schlafzimmerfenster. Es war kalt, und sie trug das Kastanienschultertuch über ihrem Nachthemd. Ihre Fingerspitzen verfolgen müßig das Muster aus gestickten Blumen und Früchten auf dem Saum.

Es versprach ein wunderschöner Herbstmorgen zu werden, und ein stiller noch dazu. In nächster Zeit waren keine Babys fällig, und die Leute spürten noch immer die Wärme eines goldenen Sommers in ihren Knochen. Sie freuten sich auf eine gute, reiche Ernte und niemand war krank. So eine Schande, dachte sie und unterdrückte ein kleines, ironisches Grinsen. Ich könnte jetzt eine ausgewachsene Grippeepidemie brauchen, um mich abzulenken. Oder drei Zwillingsgeburten in den nächsten zwei Tagen.

Sie stand auf, ging in die Küche und füllte den Kessel mit frischem Wasser aus der Pumpe. Sie entfachte ein Feuer im Herd, um es zu erhitzen. Sie schnitt Scheiben von dem Brot, das sie gestern Abend gebacken hatte und warf eine Handvoll Krümel auf das Fensterbrett, um den Spatzen zuzusehen, die herunterkamen, um das Frühstück mit ihr zu teilen.

Das Brot war schmackhaft, die Butter frisch (sie hatte sie erst gestern von Lily Kattun geholt), aber sie stellte fest, dass sie keinen Hunger hatte. Schließlich nahm sie den Becher mit Pfefferminztee und ging ins Studierzimmer.

Amaranths Buch lag offen auf dem Tisch. Lily hatte gestern Abend die Skizze einer Mädesüß-Dolde angefangen, bis die Kerzen nieder gebrannt und sie zu müde gewesen war, um sie zu ersetzen. Ihr Vorrat an Mädesüß nahm Besorgnis erregend ab. Plötzlich erinnerte sie sich an den langen Abhang hinter dem Kattunhof, gegen Wind und Wetter abgeschirmt durch zwei große Scheunen und fast das ganze Jahr über von der Sonne gewärmt. Mädesuß wuchs dort sehr gut. Sie konnte einen großen Teil dieses schicksalhaften Tages mit einem Korb in den Händen und den Füßen im Gras verbringen, anstatt in ihrem Smial herum zu sitzen und auf die schlimmsten Erinnerungen zu warten.

Sie merkte, dass aus einer schmalen Schublade unter der Schreibtischplatte, die nicht ganz geschlossen war, ein schwarzes Stoffeckchen hervorschaute. Als sie die Schublade öffnete, begriff sie, dass es der alte Samtbeutel war, der Frodos letztes Geschenk an sie enthielt. Lily zog an der weichen, alten Kordel, und Primulas Ring und ihr Halsband rutschten heraus und landeten auf der ledernen Schreibtischunterlage; ein Teich aus glitzerndem Bernstein und Gold im blassen Morgenlicht.

Er hätte sie nach Bockland zurückschicken sollen, dachte sie, ohne die kühlen, schimmernden Edelsteine zu berühren. Da gib es bestimmt genügend reizende kleine Basen, die sie tragen könnten... anstelle einer erschöpften Hebamme in Hobbingen, die nie offen zugeben würde, dass sie sie besitzt.

Sie verließ ihren Smial mit einem großen Korb, gegen die Kälte in einen alten Mantel gehüllt. Ein paar Minuten später kam Sam Gamdschie den Gartenweg des Stolzfuß-Smials hinunter, um sie noch einmal zum Abendessen einzuladen (und sich für die Dinge zu entschuldigen, die er zu ihr gesagt hatte). Er klopfte an die dunkelblaue Tür, aber niemand öffnete ihm.

*****

Lily kam mitten am Nachmittag zurück. Ihr Korb war bis zum Rand mit frischem Mädesüß gefüllt, und das starke Aroma umgab sie wie eine Wolke aus süßem Honig.

Er saß auf der niedrigen Bank neben der Tür, beide Beine bequem ausgestreckt, den Kopf gegen die grasige Wand gelehnt. Er rauchte eine Pfeife. Als er sie sah, streckte er sich, wedelte den Rauch mit einer lässigen Geste beiseite und lächelte sie an.

„Fräulein Stolzfuß?“

„Herr?“

Er verbeugte sich leicht. Jetzt sah sie, dass er elegante, rehbraune Hosen und eine schöne Weste von der selben Farbe trug; sie war mit kleinen Eichenblättern in Gold, Kupfer und Grün dekoriert. Feine Stickarbeit, dachte sie automatisch, aber ich hätte ein dunkleres Braun für den Stoff genommen. Und dann erkannte sie ihn; er hatte ebenso elegante Kleidung getragen, als sie ihm zum allerersten Mal traf, vor mehr als sechs Jahren. Ein junger Hobbit, der am hölzernen Geländer eines Tanzbodens lehnte und die Flöte spielte, während sein Vetter ihr Herz mit dem Rhythmus einer Trommel erfüllte.

„Meriadoc Brandybock“, sagte er; das Licht der Nachmittagssonne tanzte in seinen graugrünen Augen. „Und ich bin hier mit einer Lieferung von der ausgezeichneten Frau Rose Gamdschie. Es ist ein Zwetschgenkuchen, und Schweinebraten mit eingelegtem Gemüse, wenn ich den Geruch richtig deute.“

Lilys Blick folgte dem seinen und sie sah die hölzerne Kiste, die Rosie dazu benutzte, um Essen warm zu halten. Sam hatte sie für sie gebaut; sie hatte einen dicken Boden mit Aussparungen für zwei Schüsseln mit Deckel und einer Kuchenplatte. In einem seltsam abgetrennten Winkel ihres Geistes registrierte sie, dass er nicht ,zu Euren Diensten’ hinzugefügt hatte, als er ihr seinen Namen nannte. Er war vollkommen höflich, aber da war ein fühlbarer Unterschied in seinem Benehmen zu der natürlichen Freundlichkeit und Wärme, die Frodo ihr gegenüber gezeigt hatte, selbst noch bevor ihre Beziehung sich zu etwas viel Intimerem entwickelte. Sie zwang sich, bei der plötzlichen Erinnerung nicht zusammenzuzucken und nickte ihm kurz zu.

„Würde es dir etwas ausmachen, mir die Kiste hinein zu tragen? Ich fürchte, ich komme nicht gleichzeitig mit dem Korb und der Kiste zurecht.“

„Natürlich, Fräulein Stolzfuß.“

Er sah zu, wie sie die Tür öffnete und folgte ihr hinein. Sie ging in die Küche und stellte den Korb auf den Tisch, dann kam sie zurück und nahm ihm die Kiste aus den Händen.

„Danke, Herr Brandybock.“

Er verbeugte sich, hatte aber offensichtlich noch etwas auf dem Herzen. Sie betrachtete ihn mit milder Überraschung.

„Herr...?“

„Oh... Frau Gamdschie hat mich gebeten, einen Topf mit einer besonderen Salbe mitzubringen, die du machst... irgendwas mit Rosmarin und Schachtelhalm, hat sie gesagt. Könntest du...“

„Nur einen Moment.“ Sie konnte nicht widerstehen und fügte hinzu: „Würdest du im Studierzimmer warten, bis ich sie geholt habe?“Sie wurde mit dem Aufflackern von Verblüffung in seinem Blick belohnt und machte eine anmutige Geste zu der halboffenen Tür auf der anderen Seite des Korridors. Sie sah zu, wie er in dem Zimmer verschwand und wandte sich zu dem kleinen Keller, wo sie ihre Salben und Medikamente aufbewahrte.

*****

Er stand in dem kleinen, makellos sauberen Raum. Sein neugieriger Blick glitt die hohen Regale mit den ledergebundenen Büchern entlang und blieben mit einigem Erstaunen an der eingerahmten Karte des Auenlandes hängen. Er kannte diese Karte; sie hatte in Frodos Studierzimmer gehangen, aber er hatte keine Vorstellung, wie sie hierher gekommen sein mochte. Vielleicht hatte Frodo sie ihr als eine Art Dankeschön für ihre Sorge im Rosie und das Baby gegeben.

Er hatte Lily Stolzfuß während des Frühlings 1421 in Beutelsend gesehen, wie sie frische Wäsche auf eine Leine zwischen zwei alten Eichenbäumen aufhängte, wie sie im Hintergrund still den Tisch deckte, während Frodo ihm ein Glas Wein eingoss, oder wie sie Klein Elanor herumtrug und tonlos vor sich hinsummte. Einmal hatte er gehört, wie sie lachte, und für einen Moment war er erstaunt und angetan gewesen von dem warmen, lebendigen Klang ihrer Stimme... aber er konnte sich an kaum mehr erinnern. Jetzt fühlte er sich eigenartig befremdet von diesem Zimmer, den Büchern, dem Schreibtisch aus poliertem Holz – und dann fiel sein Blick auf den großen Band auf der ledernen Schreibtischunterlage. Es war tatsächlich nicht das Buch, das seinen Blick einfing... es war der verblasste Samtbeutel, der auf der aufgeschlagenen Seite lag. Ein goldenes Halsband hing halb heraus, zarte Kettenglieder, die wunderschöne Blumen mit Blütenblättern aus Bernstein zusammenhielten. Und neben dem Halsband lag ein Ring... eine passende Bernsteinblüte in der Farbe von dunklem Honig.

Er stand stockstill und spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Nicht wegen der seltsamen Tatsache, dass eine schlichte Hebamme etwas so Kostbares besaß, sondern weil er diese Juwelen kannte. Er hatte sie zweimal in seinem Leben gesehen... und zum ersten Mal in den Händen seiner Mutter.

*****

„Wann gehst du nach Hobbingen, Merry?“

Es war kurz vor dem Julfest 1417 und er stand im Schlafzimmer seiner Eltern. Seine Mutter saß auf einem gepolsterten Sessel und hielt ihre Schmuckschatulle auf dem Schoß.

„Morgen, Mama. Soll ich Frodo mit ein paar von deinen Ringen bestechen, damit er den Rest von Bilbos Altem Wingert mit mir teilt?“

Esmeralda Brandybock lachte.

„Du bist unverbesserlich!“ sagte sie. „Und nein, das sollst du nicht. Ich vermute, du und Pippin, ihr werdet seinen Weinkeller sowieso plündern. Nein, Frodo hat mich gebeten, dir etwas mitzugeben. Es gehört ihm, und er möchte es von nun an in Beutelsend aufbewahren.“

Sie öffnete die Schatulle und zog einen kleinen Samtbeutel heraus. Vorsichtig leerte sie den Inhalt in ihre Handfläche, und er sah einen Ring und ein passendes Halsband, beides aus Gold und Bernstein gemacht.

„Wie schön!“ sagte er mit ehrlicher Bewunderung.

„Ja“. Esmeraldas Ton war weich und sie ließ die feine Kette durch ihre Finger gleiten. „Sie waren ein Geschenk von Drogo Beutlin für deine Großtante Primula. Er hat sie ihr an dem Tag gegeben, als Frodo geboren wurde, und es wird gesagt, dass er Bilbo gebeten hat, sie bei den Zwergen von Einsamen Berg zu bestellen.

Sie hob den Kopf und lächelte ihn wehmütig an.

„Oma Gilda sagte, dass es einen ziemlichen Aufstand gab; die Leute dachten, er wäre verrückt, aber Drogo war ganz einfach außer sich vor Entzücken. Sie hatten so lange auf ein Kind gewartet, und dann kam er, ein süßer, gesunder , kleiner Junge. Primula trug die Juwelen an jedem Geburtstag und jedem Julfest, und nach ihrem Tod bewahrte Oma Gilda sie auf. Und jetzt will Frodo sie wiederhaben... ein gutes Zeichen.“

„Ein gutes Zeichen? Wieso?“

„Weil das bedeuten könnte, dass er die schlimmsten Erinnerungen überwunden hat“. Esmeralda ließ Halsband und Ring in den Beutel zurückgleiten. „Und vielleicht gibt es da irgendwo ein hübsches Mädchen, das Primulas Erbstücke von jetzt an tragen wird.“

Merry grinste.

„Du meinst, Frodo ist in eine von den Hobbinger Jungfern verliebt und will heiraten?“ Er schüttelte den Kopf. „Nie im Leben!“

Er nahm den Samtbeutel mit nach Hobbingen und überreichte ihn Frodo am Julabend. Frodo wog Ring und Halsband in den Händen, einen eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht, und dann schloss er beide weg und Merry sah sie nicht wieder – bis heute.

*****

„Herr Brandybock?“

Schweigen.

„Herr Brandybock? Hier ist die Salbe, die du haben wolltest.“

Lily betrat das Studierzimmer und sah ihn mit dem Rücken zu ihr vor dem Schreibtisch stehen.

„Herr Brandyb--- ?“

Plötzlich wirbelte er herum. Sein Gesicht war ohne alle Farbe, seine Augen dunkel und kalt. Sie sah, was er in der Hand hielt, und für einen Moment wurden ihr die Knie weich.

„Wann hast du das gestohlen?“ Sie sah, wie die Bernsteinblüten das Licht auffingen, als er die Hand ausstreckte, Ring und Halsband auf seiner Handfläche wie eine glitzernde Anklage. „In einer der Nächte, wenn er endlich eingeschlafen war? Zwischen den Alpträumen? Du scheinst sehr geschickt zu sein mit dem Gebrauch von Kräutern... hast du ihm etwas in den Tee getan? Ein paar Löffel Mohnsaft? Einen ordentlichen Schluck Baldrian?“

Sie wollte protestieren, erklären, aber die Worte wollten nicht kommen. Sie stand vor ihm, den Topf mit Salbe noch immer in der Hand, unfähig, sich zu verteidigen.

„Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie unaussprechlich infam das ist? Du hast Sams und Rosies Vertrauen missbraucht, du hast dich in Beutelsend eingeschlichen, und ich habe keinen Zweifel, dass du dich am Ende auch in das Bett meines Vetters geschlichen hast. Was hast du gehofft zu finden? Überreste von den Schätzen, die der Verrückte Beutlin von seinen Reisen mitgebracht hat? Hast du Frodos Schwäche ausgenutzt und ihn in der Hoffnung verführt, dass irgendwann ein bisschen Gold in deiner Börse klingelt?“

Sie schüttelte den Kopf, erstarrt und betäubt von der abgrundtiefen, bitteren Abscheu in seinen Augen. In einem merkwürdig nüchternen Winkel ihres Verstandes war ihr völlig bewusst, dass nur die lebenslange Erziehung zum Edelhobbit und ein eiserner Wille ihn davon abhielt, sie zu schlagen.

„Ich werde jetzt gehen“, sagte er, seine Stimme kaum mehr als ein eisiges Flüstern. „Ich werde deine Beute mitnehmen; du wirst sie nie wieder in die Hände bekommen. Und du solltest dich für die Zukunft daran erinnern, dass niemand – und ganz sicher nicht Frodo Beutlin – mit kostbaren Familienerbstücken zahlen würde für die zweifelhaften Dienste einer kleinen Hure.“

Auf seinem Weg nach draußen musste er an ihr vorbei. Er berührte sie nicht, aber sie konnte seine offene Abscheu spüren wie einen scharfen Hieb ins Gesicht. Sie stand da, ohne sich zu regen, bis sie hörte, wie die Tür mit einem Knall zuschlug, und selbst dann brauchte sie eine Weile, bis sie sich umdrehen und das Zimmer verlassen konnte.

Sie schaffte den gesamten Weg bis in die Küche, bevor der Schock voll und ganz über sie hereinbrach, und im nächsten Augenblick rebellierte ihr Magen. Sie stolperte zur Spüle hinüber, klammerte sich an den kühlen Stein und erbrach das wenige Essen, das sie an diesem Tag hatte zu sich nehmen können. Die Luft schien von einem dicken, undurchdringlichen Nebel erfüllt zu sein und ihr Herzschlag donnerte ihr betäubend in den Ohren. Dann gaben die Beine unter ihr nach und sie fand sich auf den Knien wieder, vage dankbar für die Festigkeit des Fußbodens, denn der stille Raum drehte sich um sie, und all ihre sorgsamen Pläne, diesen Tag zu überstehen, waren vor seinem gnadenlosen Gesicht, seinen stechenden Augen und seiner zischenden Stimme zunichte geworden. Das Atmen war eine mühselige Herausforderung und sie wiegte sich unbewusst vor und zurück und gab kleine, wimmernde, schmerzvolle Laute von sich. Nichts würde diesmal helfen. Sie war verloren, jede einzelne Schutzwehr gegen die bodenlose Tiefe ihres Verlustes niedergerissen und zerbrochen.

Lily sank nach vorne, bis ihre Stirn die Fliesen berührte, und ließ die dunklen Wogen eines tränenlosen Kummers über sich hinwegspülen.


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