Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


13. Kapitel
Finstere Jahreszeiten

Eine Woche nach dieser kalten, nassen Nacht im Februar stand die junge Hebamme von Hobbingen vor dem Boffin-Smial. Sie war in den vergangenen sieben Tagen kaum gesehen worden und den Leuten fiel nichts Besonderes auf... abgesehen von der Tatsache, dass sie blass war (was man dem Winter zuschreiben konnte), dass sie sich langsam und mit einer gewissen Steifheit bewegte und dass ihr ruhiges, vertrautes Lächeln nicht erschien, obwohl ihre Stimme immer noch freundlich war und ihre Hände sanft.

Odo Boffin öffnete die Tür und scheuchte sie hinein; es regnete wieder und der Weg hatte sich in eine lange Kette einiger Pfützen verwandelt.

„Setz dich einen Moment hin, Lily und wärm dich auf.” sagte er. „Margerite nimmt ein Bad... das dritte Bad diese Woche, um die Wahrheit zu sagen.” Sein Gesicht war verwirrt und traurig. „Versteh mich nicht falsch... sie ist aus ihrem Zimmer gekommen, sie isst, sie hilft ihrer Mutter aber sie ist so furchtbar still...” Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das graumelierte Haar. „Ich wünschte, ich wüsste, was es ist, das sie abzuwaschen versucht...”

„Ich fürchte, ich weiß es.” sagte Lily sehr leise. „Das ist der Grund, weshalb ich hier bin.”

Er hörte auf, unruhig durch im Raum hin und her zu gehen und starrte sie an.

„Lass mich mit deiner Tochter reden”, sagte sie. „Und ich denke nicht, dass ich warten sollte, bis sie fertig gebadet hat.”

Odo seufzte, und sein Gesicht sah sehr alt aus.

„Sie ist in ihrem Zimmer.” erwiderte er. „Du kennst den Weg.”

Lily öffnete die Tür und sah Margerite; das junge Mädchen saß in einer kleinen Wanne, das Gesicht halb verborgen hinter dem aufsteigenden Dampf, Als sie ihre Besucherin erkannte, ließ sie sich tiefer in das heiße Wasser sinken.

„Hallo, Margerite”, sagte Lily. „Ich dachte, ich schau mal vorbei und sehe, wie es dir geht. Gib mir den Lappen, dann wasch ich dir den Rücken.”

Sie hakte ihr dickes Wintermieder auf, streifte es ab und krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch. Dann nahm sie den Lappen aus Margerites Hand und ließ ihn mit großen, sanften Kreisen über ihre Haut gleiten. Sie sprach nicht; statt dessen fing sie an, leise zu summen. Nach einiger Zeit spürte sie, wie der schlanke Körper unter ihren Händen sich entspannte. Sie fuhr damit fort, Margerite zu waschen und ihre Finger glitten über ihre Schulter und berührten wie zufällig das Mal auf ihrer linken Brust.

„Es heilt sehr gut.” bemerkte sie. „Ich wusste, Engelwurz war eine gute Idee.” Wieder berührte sie das Mal; ihre Fingerspitzen folgten dem leichten Wulst aus vernarbender Haut. Lily ging um die Wanne herum, bis sie Margerite direkt ansehen konnte; das Mädchen saß reglos im seifigen Wasser, den Blick auf Lilys Gesicht gerichtet. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, dass Lily anfing, ihre Bluse aufzuknöpfen.

„Ich habe es nicht erkannt, weil es ein paar Tage alt war, als ich es zum ersten Mal sah.” Lily sprach mit sanfter Stimme, leise und traurig. „Und es war geschwollen und entzündet. Hätte ich es gesehen, gleich nachdem es passiert war, dann hätte ich sofort begriffen.” Die Bluse war offen und Lily fing an, ihr dünnes Unterhemd über den Bauch hochzuschieben. Dann waren auch ihre Brüste entblößt, und Margerite sah, was all das zu bedeuten hatte; sie schnappte nach Luft und fing an zu weinen.

„Ein, zwei Stunden danach konnte man immer noch den Abdruck seiner Zähne sehen.” sagte Lily; ihre Hände zitterten, aber Margerite bemerkte es nicht durch ihre Tränen. „Wie ist es passiert? Haben deine Männer dich nach Beutelsend geschleppt, so wie mich?”

Margerite antwortete nicht; sie schluchzte, das Gesicht hinter den Händen verborgen. Lily kniete sich neben die Wanne. Sie zog das Mädchen an sich und wiegte den nassen Körper in ihren Armen.

„Meine Schuld.” brachte Margerite mit einer dünnen, entsetzten Stimme hervor. „Es ist alles meine Schuld.”

„Red keinen Unsinn, Mädel.” Lily streichelte das zerzauste Haar unter ihrem Kinn. „Du hast doch nichts falsch gemacht.”

„Hab ich doch!” flüsterte Margerite, das Gesicht gegen Lilys nackte Schulter gedrückt. „Ich hätte dich warnen sollen.” Sie drehte sich um und sah die Hebamme an. „Sie haben mich den Bühl hinaufgezerrt, als ich auf dem Heimweg war; ich hatte viel zu viel Angst, um mich zu wehren. Ich dachte, wenn ich mich nicht wehre, dann lassen sie mich vielleicht gehen.” Sie schauderte. „Als ich nach Beutelsend kam, hat Lotho Pickel in der Eingangshalle gewartet. Er hat mich angestarrt, wie ich dastand, während mich zwei von diesen Menschen festhielten, dann hat er den Kopf geschüttelt und gelacht, kurz und zornig. ,Was hab ich euch gesagt, Jungs?’ hat er geschnappt. ,Braune Augen, hab ich gesagt. Das ist die Falsche.’”

Lily fror ein, das Gesicht weiß, die Augen sehr dunkel. Aber Margerite klammerte sich an sie und biss die Zähne zusammen, verzweifelt entschlossen, ihre Geschichte zu Ende zu bringen und ihe Schande zu gestehen.

„Für einen Moment war ich richtig erleichtert... ich hab tatsächlich gedacht, ich darf nach Hause gehen.” Sie rang darum, nicht wieder in Tränen auszubrechen. „Aber dann hat er mich von Kopf bis Fuß angeschaut und gegrinst. ,Macht nichts.’ sagte er. ,Die tut’s für heute... aber das nächste Mal sucht ihr nach der Hebamme, nicht bloß nach irgendeinem Mädel mit kastanienbraunen Haaren.’ Und dann packte er mich am Arm und zerrte mich den Korridor hinunter und... und...” Sie schwieg, heftig zitternd. „Es tut mir so leid,” flüsterte sie, „Ich hätte etwas sagen sollen, ich hätte dich warnen sollen, aber ich konnte nicht, ich konnte nicht...”

Lily zog sie wieder an sich. „Schsch...” murmelte sie. „Es ist nicht deine Schuld. Nichts von alledem. Still, Margerite, bitte.”

Margerite weinte wieder, und Lily hielt und tröstete sie, bis sie keine Tränen mehr hatte. Sie half ihr aus der Wanne und wickelte sie in ein großes Leinentuch, dann half sie ihr, sich anzuziehen und schlüpfte wieder in ihre eigene Kleidung. Endlich flocht sie Margerites feuchtes Haar und brachte sie ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern auf sie warteten.

Sie verließ den Smial und atmete tief die frische Luft ein; sie konnte den ersten Schnee dieses neuen Jahres spüren, so kurz vor dem März, wie er spöttisch das zögernde Versprechen von Frühling zurücknahm. Lily fror, äußerlich wie innerlich; sie hätte viel darum gegeben, wenn sie ihren Schmerz hätte fortweinen können, so wie Margerite (die Odo und Rose zweifellos gerade die Geschichte ihres Unglückes erzählte). Aber ihre Augen waren trocken, und der plötzliche Winter näherte sich nicht nur den sanften Hügeln; er war jetzt ein Teil von ihr, und ihr Herz wurde langsam zu Eis.

*****

Der März kam und mehr und mehr schlechte Nachrichten; Lotho Pickel erließ eine Verordnung, dass all diejenigen, die man aus dem Beutelhaldenweg vertrieben hatte, in neue Häuser ziehen mussten. Diese Häuser waren auf der anderen Seite von Hobbingen errichtet worden, kaum mehr als Holzschuppen, und ganz sicher kein anständiges Heim für einen Hobbit. Bauer Kattun und seine Familie sahen schweren Herzens zu, wie der Ohm und Marigold Gamdschie vom Hof fortzogen, und jede Woche brachte Jolly ein paar Vorräte zu dem kläglichen Ort, wo man die beiden zu leben zwang; Kartoffeln, den letzten Lauch, frisches Brot und Milch.

Aber trotz der dunklen Zeiten verlor die Erde ihre eisige Starre und die zwei Kirschbäume im Stolzfuß-Garten entwickelten ihre ersten, dicken Knospen. Fredegar fing an, sich von seiner bösen Erkältung zu erholen, und Lily entschied, dass es Zeit war, sich um die winterkahlen Beete zu kümmern. An einem Morgen Ende März stand sie auf dem selben flachen Stein, wo Folco und Magnolia sie ein Jahr zuvor gefunden hatten. Magnolia hatte im letzten Oktober nach Buckelstadt geheiratet, und Folco war in Hobbingen geblieben, wo er geboren war, ein hart arbeitender Bauer, noch immer sehr beliebt und noch immer unverheiratet.

Lily sah ihn mit erstaunlicher Klarheit vor ihrem inneren Auge... die helle Haut, die vielen Sommersprossen und das rotblonde Haar... und als ob ihre Erinnerung eine Art Ruf gewesen wäre, hörte sie plötzlich Hufgeklapper und sah den Gutleib-Karren den Weg hinaufkommen. Folco hielt die Zügel eines rotbraunen Ponys und neben ihm saß Rosie, wunderschön und leuchtend, als wäre sie die Verkörperung dieses jungen Frühlings.

Lily blinzelte vor Überraschung; sie sah Rosies Gesicht und plötzlich war es, als ob sich eine innere Tür in ihrem Geist öffnete, eine Tür, die verschlossen gewesen war, seit Frodo fortging. Ihre seltsame Gabe, die Gedanken und Träume von anderen zu sehen, hatte geschlafen, seit sie ihn an jenem letzten Tag Stirn an Stirn hielt und spürte, wie sein Schmerz und seine Unruhe geradewegs von seinem Herzen in das ihre strömte. Aber mit einemmal war sie zurück, diesmal stärker, viel stärker... und es war reine Freude.

Freude strahlte von Rosie aus, so wie das klare Licht des Morgens von der Sonne ausstrahlte; sie berührte Lily und ergoss sich mit überwätigender Wärme in ihre Seele, und plötzlich war ihr Geist erfüllt von

Sam, Sam, er lebt, er kommt nach Hause mein Sam kommt nach Hause

... und Lily öffnete den Mund, um etwas zu sagen, um etwas auf diesen unerwarteten Jubel zu erwidern, aber dann wurde der Eindruck jäh ausgelöscht von einem anderen, diesmal eine Stimme, schwach und aus weiter Ferne, aber sie erkannte sie, sie erkannte sie sofort...

Leb wohl, Sam. Das ist nun das Ende.

... und von einem Augenblick zum anderen erschien es ihr, als würde ihrem Körper alle Kraft entzogen. Jedes Körperteil war so schwer, als hingen Bleigewichte daran, und wie von weit weg bemerkte sie, dass sie auf die Knie fiel. Die Zeit wurde langsamer und stand still, und nun starrte die dem sich nähernden Karren mit Augen entgegen, die nichts mehr sahen... und die Stimme kam wieder, jetzt laut und klar.

Doch jetzt ziehe ich vor, nicht zu tun, wozu ich gekommen bin. Ich will diese Tat nicht tun.

Sie holte tief Atem, und plötzlich war die wohlriechende, kühle Luft des Frühlingsmorgens dahin; erstickender Rauch füllte ihre Nase und raste ihre Kehle hinunter und in ihre Lungen, und er verbreitete...

...Feuer Feuer oh Sterne sie würde zu Asche verbrennen und so sterben wie er wie er oh kommt denn niemand um ihn zu retten oh die Hitze DIE HITZE!

Und die Welt um sie herum ging in Flammen auf.

*****

Rosie hob die Hand, um zu winken, aber ihre Freude verwandelte sich in Ungläubigkeit, als sie sah, dass Lily auf die Knie sank und mit dem Gesicht voraus in die dunkle Erde des Beetes vor sich fiel.

„Hilf mir runter, schnell!” schnappte sie, und Folco gehorchte und folgte ihr auf den Fersen, als sie durch das Gartentor hastete, dort hin, wo Lily lag.

Als sie sie vorsichtig herumdrehte und ihr den Schmutz vom Gesicht wischte, entdeckte Rosie, dass ihre Freundin offensichtlich nicht ohnmächtig war. Ihre Augen waren weit offen und erfüllt von glasigem Entsetzen, ihre Lippen bewegten sich lautlos.

„Oh, Liebchen... hörst du mich? Kannst du mich hören?” Rosie streichte Lily Stirn, und plötzlich erinnerte sie sich an den Tag vor so vielen Jahren, an dem Fredegar vom Kirschbaum fiel... den Tag, an dem in diesem Garten etwas ganz Ähnliches zum ersten Mal passiert war. Was war es gewesen, was Lily damals gesehen hatte? Was sah sie jetzt?

Rosie spürte einen Schauder, der ihr den Rücken hinunter lief, und die Wärme und Freude, die sie seit dem Augenblick erfüllt hatten, seit sie aufgewacht war, wurden durch Angst ersetzt, als Lily sich plötzlich in ihren stützenden Armen zusammenkrümmte und zu husten anfing... ein heiserer, würgender Husten, der tief aus ihrer Brust kam. Sie bäumte sich auf und rang nach Luft, und Rosie tat ihr Bestes, sie aufrecht und ruhig zu halten, aber das war nicht gerade einfach.

„L-Lass mich helfen.” Folcos Stimme kam von irgendwo hinter Rosies Schulter. Er bückte sich und hob Lily aus Rosies Armen – ohne große Anstrengung, wie sie überrascht dachte. Er ging den Gartenweg hinunter, trat beiseite, damit Rosie die Tür öffnen konnte und folgte ihr in Lilys Zimmer, wo er sie auf das Bett legte.

Einmal zugedeckt, schien Lily sich zu beruhigen. Ihr schwerer Atem klang weniger mühsam, und endlich seufzte sie, wandte ihren Kopf in Rosies Richtung, blinzelte und sah ihre Freundin an.

„Was... was ist denn passiert?”

Ihre Stimme war fast unhörbar und wieder fing sie an zu husten. Rosie half Lily rasch, sich aufzusetzen, nahm ein halbvolles Glas Wasser vom Nachttisch und hielt es ihr and die Lippen. Lily schluckte.

„Du bist draußen im Garten zusammengebrochen.” sagte Rosie sanft.„Erst dachte ich, du wärst ohnmächtig geworden, aber du warst wach... wenigstens so was ähnliches.”

Sie strich Lily das zerzauste Haar aus dem Gesicht und entschloss sich, einen ersten, vorsichtigen Schritt auf das Eis hinaus zu tun.

„Liebchen, kannst du mir eine Frage beantworten?” Sie zögerte. „Hast du... hast du irgendwas gesehen?”

Ein langes Schweigen. Rosie spürte Folco neben sich, aber sie nahm die Augen nicht von Lilys Gesicht. Lily runzelte die Stirn und ihr Mund formte eine dünne, feste Linie; langsam schüttelte sie den Kopf. Plötzlich zog sie eine Grimasse, und zum ersten Mal bemerkte Rosie, dass Lily ihre rechte Hand mit der linken bedeckte, als wollte sie nicht, dass man sie berührte. Sie nahm das Handgelenk und untersuchte die Hand Finger für Finger, aber die Haut war unverletzt. Als sie versuchte, die Gelenke zu dehnen, ab Lily ein kleines, schmerzerfülltes Wimmern von sich.

„Bitte tu das nicht”, flüsterte sie. „Es tut weh. Es tut so furchtbar weh.”

*****

Das letzte rote Licht des Sonnenunterganges färbte die Wände, als Lily aus einem langen Schlummer erwachte. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um zu verstehen, dass sie in ihrem Zimmer war, und ihr Kopf tat weh... nicht der zermalmende Schmerz vom Vormittag, sondern ein dumpfer Druck hinter ihren Schläfen. Die Erinnerung drohte zurückzukehren, aber sie scheute vor den Bildern und Geräuschen zurück und schloss wieder die Augen.

Sie hörte leise Geräusche aus dem Korridor, und dann ein sanftes Klopfen.

„Herein.”

Lily drehte ihr Gesicht zur Tür und sah mit schwacher Überraschung, dass es Folco war. Er kam zum Bett herüber und zog sich den Stuhl von ihrem Schreibtisch heran, um sich hinzusetzen.

„F-Fühlst d-du dich besser? R-Rosie hat sich um deinen V-Vater gekümmert und ihm was zu Essen g-gemacht, und sie hat ihm g-gesagt, es geht dir gut. Er war vor einer S-Stunde hier.”

Sein Stottern war nicht halb so schlimm wie sie es bei mehreren früheren Begegnungen gehört hatte; er schien ruhig und entspannt zu sein, aber sie sah die Besorgnis in seinen Augen.

„Es geht mir gut, danke, Folco.” sagte sie. „Danke für alles.”

Er blickte auf seine Hände hinunter.

„W-weißt d-du, ich w-würde d-dir g-gern m-mehr helfen”, sagte er nach einer langen Pause. „I-ich h-hab g-gehört, dass d-du die M-Mütter und V-Väter in H-Hobbingen gewarnt hast, n-nach dem V-Vorfall mit M-Margerite.” Wieder eine lange Pause. „S-sie wurde v-v-v-v-v---“

„Ja,” brachte Lily den Satz, den auszusprechen er sich so mühte, mit leiser Stimme zu Ende. „ja, Folco, sie ist vergewaltigt worden.”

„U-und sie b-behalten ihre Töchter jetzt alle im H-Haus, n-nicht wahr?” Ihre Augen trafen sich. „A-aber was ist m-mit dir?”

„Was meinst du damit?”

„D-du bist d-dauernd allein unterwegs, Lily”, sagte Folco ernst. „D-das ist gefährlich.”

Ich weiß, Und ich fürchte, es ist zu spät, mich vor etwas zu beschützen, das schon geschehen ist.

„Ich w-würde dich g-gern begleiten, wenn du d-deine Runden machst. W-Wir würden den K-Karren nehmen und i-ich passe auf, dass d-du nicht zu Sch-Schaden kommst.” Er hob den Kopf und sie sah die Wärme in seinem Blick. „I-Ich wär gerne d-dein Freund, L-Lily.”

Und du verdienst viel mehr als das, Folco Gutleib... ich wünschte, ich könnte es dir geben, aber ich fürchte, das geht nicht. Aber der Himmel weiß, dass ich einen Freund brauche. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so allein gefühlt.

„Du bist sehr freundlich.” sagte sie. „Aber ich glaube, das könnte ein bisschen schwierig werden. Ich müsste jemanden schicken, der dir jedes Mal Bescheid sagt, wenn ich außerhalb von meinen Runden zu einer Mutter gerufen werde. Wie soll ich denn das machen?”

„Oh, d-das ist leicht.” Er lachte voll und herzlich. „Z-Zum Glück habe ich B-Brieftauben, und morgen f-früh bring ich d-dir meine schnellste, wenn d-du einverstanden b-bist. S-sie heißt Maiblume.”

Als er gegangen war, lehnte sie sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Wieder kamen die Erinnerungen zurück, das Feuer, die Hitze, das brennende Entsetzen, das durch ihre Adern kreiste, aber wieder weigerte sie sich, sich von ihrer brutalen Gewalt überschwemmen zu lassen. Sie wollte nicht daran denken. Sie wollte sich nicht erinnern... die Bilder sprachen vom Tod, und sie wollte den letzten Rest Hoffnung nicht verlieren.

*****

Maiblume traf einen Tag später im Stolzfuß-Smial ein, eine wunderschöne, schlanke Brieftaube mit tiefgrauen Flügeln und Rücken und einer schweeweißen Brust; sie saß in einem geräumigen Käfig. Folco erklärte Lily, wie sie für das Tier sorgen musste und brachte ihr einen kleinen Leinenbeutel mit besonderem Futter mit („damit sie stark und schnell bleibt”, wie er sagte), und er zeigte ihr auch den rechten Gebrauch des kleinen Röhrchens, das an Maiblumes Fuß festgebunden war.

Von diesem Tag an machte Lily ihre Runden nicht mehr allein. Die Bewohner von Hobbingen und Wasserau gewöhnten sich daran, dass sie auf Folcos Karren ankam; die ersten Wochen blieb er draußen von den Smials, wartete geduldig auf seinem Sitz oder fütterte sein Pony mit Karotten; später wurde er eingeladen, hereinzukommen und sich in die Küche zu setzen, während Lily eine Mutter untersuchte, sich um ein krankes Baby kümmerte oder einem anderen in die Welt half. Bald hatten die Leute einen neuen Spitznamen für Folco Gutleib; sie nannten ihn Lilys Schatten. Er fand es bald heraus, aber er lächelte bloß und fühlte sich geehrt. Man hatte ihm weit schlimmere Namen gegeben, als er noch ein Junge war... Stotterkopf und Knotenzunge waren die, an die er sich am deutlichsten erinnerte, obwohl der Kummer darüber längst vergangen war.

Normalerweise hätte es einiges Gerede gegeben; Folco und Lily waren weder verheiratet noch versprochen, und es war leicht, Folcos tiefe Ergebenheit der jungen Hebamme gegenüber unter seiner freundlichen Geduld und seiner natürlichen Fürsorge zu erkennen. Aber beide genossen großen Respekt, und die Zeiten waren hart genug, dass die Leute den Mund hielten. Die Angewohnheit von Lothos Menschen, die Keller auszurauben, war nun keine Ausnahme mehr, sie war die Regel, und der „Baas” hatte so viele Gebote und Verbote erlassen, dass die Hobbits es kaum noch wagten, sich zu rühren. Die Märkte verkamen zu einer freudlosen Angelegenheit mit weniger und weniger Waren, die angeboten und verkauft werden konnten, und nur noch wenigen Kunden; nachdem Lotho alle Wirtshäuser hatte zusperren lassen, gab es kaum noch Möglichkeiten, öffentlich Dampf abzulassen.

„Vielleicht haben wir viel zu lange ungestört und in Frieden gelebt”, sagte Lily nachdenklich, als der Karren an Mittsommer über die Festwiese fuhr. Es war ein klarer, warmer, sonniger Tag, wie geschaffen für eine Feier, für fröhliche Mahlzeiten und flinke Füße, aber dieses Jahr würde es keinen Mittsommer-Tanz geben.

„Was meist du damit?” Folco schreckte aus seiner Träumerei hoch und schaute sie an; sie trug eine weiße Bluse mit kuzen Ärmeln, ein schlichtes braunes Mieder und einen alten, tiefroten Rock, aber auch so war sie für ihn ein wundervoller Anblick.

„Wir sind nicht daran gewöhnt, schlecht behandelt zu werden.” antwortete Lily nach einer langen Pause des Nachdenkens. „Die alten Könige der Elben sind immer darauf vorbereitet gewesen, wachsam zu sein, und sich zu verteidigen. Wir sind von einem Feind unserer eigenen Art überrannt worden, und jetzt wissen wir nicht, was wir tun sollen. Kein Hobbit hat jemals ernstlich gelernt, wie er eine Gefahr abwehrt – jedenfalls nicht hier.”

„Oh... es g-gibt ein paar H-Hobbits, die k-kämpfen.” erwiderte Folco langsam, die Augen geradeaus gerichtet. „Der T-Thain hat die Grenzen d-dicht gemacht, und Lotho’s Menschen k-kommen nicht durch. Und es g-gibt Rebellen..”

Sie kannten beide die Gerüchte, die sich flüsternd von Smial zu Smial verbreiteten; über Fredegar Bolger, Frodo Beutlins Vetter, gutem Essen und guter Gesellschaft gleichermaßen ergeben, der sich jetzt mit seinen Männern vor Lothos Rüpeln versteckte. Er hatte ein paar Transporte überfallen und die erbeuteten Lebensmittel verteilt, und es wurde erzählt, dass der Herr von Bockland ihn heimlich unterstützte, aber es war nichts gewiss, und jeden Tag gab es weniger Nachrichten. Ein paar Burschen aus Hobbingen und Wasserau waren verschwunden, ohne eines albernen Vergehens angeklagt oder verhaftet worden zu sein, und „Ich geh zu den Rebellen” wurde ein geflügeltes Wort unter den Zwanzigern, um ihre Tapferkeit zu zeigen. Aber es gab keinen offenen Widerstand. Es schien, als läge das Auenland unter einer erstickenden Decke aus Angst und Ungläubigkeit.

„Was weißt du über die K-Könige der Elben?” fragte Folco, als der Karren vor dem Stolzfuß-Smial anhielt. Lily kletterte vom Sitz herunter, ohne seine Hilfe anzunehmen, drehte sich um und sah ihn an.

„Es gibt Bücher mit Geschichten”, antwortete sie. „und ich kann lesen.” Und ich hatte einmal einen Geliebten, der mit von Elbenkönigen erzählt hat, und von einem Ring. Aber das war in einer anderen Zeit und scheinbar auch in einer anderen Welt.

„Ich w-wünschte, es g-gäbe dieses Jahr einen M-Mittsommer-Tanz.” sagte Folco. „„Ich h-hab dir vor zwei J-Jahren zugeschaut, und d-du hast w-wunderbar ausgesehen.” Du warst der atemberaubendste Anblick, den ich je hatte, und du hast mir das Herz gebrochen. Ich hab dich mit dem Herrn von Beutelsend tanzen sehen, und ich hab ihn um jede flüchtige Berührung deiner Finger beneidet und um jedes glückliche Lächeln, das du ihm geschenkt hast, während er sich mit dir im Kreis gedreht hat.

„Ich hätte mit dir getanzt, wenn du mich gefragt hättest.” Ich fürchte, ich hätte dich kaum wahrgenommen, mein armer Freund. Alles was ich gesehen habe, war er, seine Augen, seine Hände auf der Trommel, die Art, wie ihm die Locken in die Stirn fielen, während er tanzte.

„Dann f-frag ich d-dich nächstes J-Jahr, Lily. I-ich fahr jetzt n-nach Hause. Schick m-mir Maiblume, w-wenn du m-mich brauchst, so w-wie immer, ja?” Ich wünschte, ich hätte den Mut, dir zu sagen, wie sehr ich dich will. Ich will dich in die Arme nehmen, ich will dich neben mir im Bett haben und ich will diese Dunkelheit tief in deinen Augen verjagen. Ich möchte wissen, ob irgendjemand es sieht außer mir... da ist so viel Zorn in dir, so viel brodelnder Schmerz. Ich möchte dich heilen. Ich möchte dich glücklich machen.

„Ich wünsche dir einen guten Tag, Folco.” Ich wünschte, du würdest mich nicht so ansehen. Ich bin nicht blind, und du machst, dass ich mich schuldig fühle.

Er sah zu, wie die Tür sich hinter ihr schloss und saß ein paar Momente auf dem Bock seines Karrens, ohne sich zu rühren. Dann nahm er die Zügel, und mit einem Kopfschütteln und einem leisen Wiehern setzte sein Pony sich in Bewegung.

*****

Die warmen Monate zogen vorüber und die Erntezeit kam; die Bauern brachten ihre Kartoffeln ein, ihren Weizen und ihre Gerste. Die wenigen, die rechtzeitig Klugheit bewiesen hatten, fingen an, große Säcke mit Getreide , die ersten Kürbisse und ihren besten Kohl in Extra-Kellern einzulagern, die Lothos Menschen nicht entdeckten; während des Sommers hatte es eine Menge heimlicher Grabarbeiten gegeben. Lily Kattun vollbrachte Wunder mit getrockneten Bohnen und dem letzten Speck vom Grund eines geheimnisvollen Fasses hinter der Wand des größten Vorratsraumes, und sie brachte es immer noch fertig, den Ohm zu unterstützen, der die meisten seiner betrüblichen Tage damit verbrachte, vor dem elenden Holzhaus zu sitzen, das der „Baas“ ihm gegeben hatte.

Dann, Ende September, verbreitete sich das Gerücht, das die Dinge in Beutelsend sich wieder einmal geändert hatten, und einmal mehr zum Schlechteren. Ein fremder Mensch war gekommen, eine hochgewachsene Gestalt mit weißem, schwarz gesträhnten Haar und dunklen, stechenden Augen. Er wurde Scharker genannt. Lotho Pickel wurde unsichtbar, und diejenigen, die dachten, sie hätten sich mittlerweile an die traurigen Verhältnisse gewöhnt, wurden sehr bald eines Besseren belehrt.

Am 15. Oktober weigerte sich Andi Braunwald, der Bruder von Margerite Boffins Verlobtem Tom, seine Ladung Gerste einer Bande Grobiane zu überlassen; sie hatten ihn angehalten, als er auf der Straße von Hobbingen nach Wasserau fuhr, und als sie ihn von seinem Sitz herunterzerrten, machte er den Fehler, sich zu verteidigen.

Einer der Männer verstauchte sich dabei den Arm, und nur zwei Stunden später wurde Andi verhaftet. Aber man brachte ihn nicht in die Riegellöcher; auf dem Marktplatz von Hobbingen wurde ein rohes Gerüst errichtet, und ein bleicher, ziemlich unglücklich dreinschauender Büttel verlas vor der zusammenströmenden Menge eine schreckliche Erklärung. Andi war des „schweren Ungehorsams und der Rebellion“ für schuldig befunden worden, und man hatte ihn zum Tode verurteilt. Sie brachten den jungen Hobbit auf den Marktplatz, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, sein Gesicht hinter einem riesigen Knebel aus schmuddeligem Stoff weiß vor Entsetzen. Man zwang ihn, auf das Gerüst zu steigen, und nun verstanden die Leute, was es war, das die Menschen vor dem verwaisten Efeubusch aufgebaut hatten. Es gab keinen Protest; die Menge stand in schockiertem Schweigen, während einer der Grobiane Andi eine Schlinge um den Hals legte. Zwei der großen Menschen zogen an dem Seil, und Andi verlor den Boden unter den Füßen und trat schwach um sich, bis er mit schlaffen Armen und Beinen still hing.

Lily war nicht in Hobbingen, als Andi starb; Folco hatte sie zu einem Smial in der Nähe von Wasserau gebracht, wo eine junge Mutter dabei war, Zwillinge auf die Welt zu bringen. Er hatte versprochen, sie abends nach Hause zu fahren, und als er kam, war sein Gesicht so hart wie Stein. Er erzählte der ganzen Familie, was geschehen war, während sie im gelben, tröstlichen Licht der Lampe um den Tisch saßen, und Lily lauschte auf die entsetzten Ausrufe der brandneuen Großeltern und des jungen Vaters. Sie sagte kein Wort, und das Eis verstärkte seinen Griff um ihr Herz. Sie schwieg weiter, während Folco sie eine Stunde später nach Hause fuhr, sie saß neben dem Bett ihres Vaters, hielt seine Hand und plauderte über den harmlosesten Klatsch, der ihr einfiel, bis er eingeschlafen war. Er hatte sich von der Erkältung erholt, aber richtig gesund war er nicht geworden, und er hatte sich während des Frühlings und Sommers schwach gefühlt. Lily dachte an Folcos Geschichte und jetzt erlaubte sie der Angst ein paar Minuten lang, sie zu überwältigen. Sie fangen an, uns umzubringen, dachte sie. Wir können nicht so weitermachen. Etwas muss passieren, und zwar bald.

Die folgenden Wochen verstrichen in einem betäubenden Nebel; die Leute waren wie gelähmt, und sie sahen in sprachloser Verzweiflung zu, wie Scharkers Menschen Häuser niederbrannten, die letzten übrig gebliebenen Bäume niederhackten und jeden Hobbit verprügelten, der ihnen in die Quere kam. In der Nacht zum 28. Oktober erwachte Lily zwei oder drei Stunden vor der Morgendämmerung. Jemand stand vor ihrem Fenster und rief ihren Namen, leise, aber hartnäckig. Sie stand auf, legte sich das Kastanientuch um und öffnete die Tür. Es war Folco; er war sehr blass, und seine Stimme war nicht mehr als ein drängendes Flüstern.

„Sch-schlechte N-neuigkeiten.“ sagte er. „B-bitte komm m-mit, Lily, schnell. Und b-bring Verbandszeug m-mit, wenn d-du kannst.“

„Ich hol meine Tasche.”

Fünf Minuten später folgte sie ihm hinaus in die Dunkelheit; er führte sie zu dem alten Schuppen im hinteren Garten; sie schlüpften hinein und Folco schloss die Tür.

Es befanden sich drei Hobbits in dem Schuppen; einer von ihnen (Lily kannte ihn nicht) trug einen schmuddeligen Verband um die Stirn. Der Arm des zweiten lag in einer Schlinge und der dritte Hobbit lag bewusstlos im Heu. Und den kannte Lily; es war Tom Braunwald.

Sie kniete sich neben ihn. Ein großer Blutfleck verfärbte sein zerrissenes Hemd, und sein Gesicht unter den kupferroten Locken war weiß und leblos. Als sie die Stoffetzen entfernte, sah sie eine tiefe Wunde quer über seiner Brust. Sie hob den Kopf und sah Folco an.

„Wieso hast du ihn hierher gebracht? Ich bin die Hebamme, nicht der Heiler. Konntest du nicht Dolgo Straffgürtel fragen? Er wüsste besser als ich, was man tun muss.”

„Wir kommen von Dolgo Straffgürtel, Fräulein.” sagte der Hobbit mit der Schlinge und brachte eine müde Verbeugung zuwege. „Robin Spachtler, zu deinen Diensten. Wir... wir haben Tom hier zu Dolgo gebracht, aber Scharkers Menschen sind uns gefolgt und sie haben gesehen, wie wir ihn in Dolgos Smial getragen haben. Herr Straffgürtel bat seine Frau, Tom zu waschen, dann ging er wieder hinaus.” Robins erschöpftes, verschmiertes Gesicht war grimmig, aber seine Augen standen voller Tränen. „Er hat diesen... diesen Schurken gesagt, sie sollen Tom in Frieden lassen, damit er sich um ihn kümmern kann. Sie haben gelacht, und einer von denen hat ihn zur Seite gestoßen, so wie man nach einer Fliege schlägt. Dolgo stolperte und fiel hin, und er krachte mit dem Kopf gegen einen Stein neben der Tür. Ich glaube, er hat sich das Genick gebrochen.”

Lily holte tief Atem. Ihre Hände waren taub und eisig kalt.

„Also ist er... tot?” fragte sie mit gezwungener Ruhe.

„Ja, das ist er, Fräulein. Und seine Frau... sie rannte aus dem Smial und warf sich über den Körper von ihrem Mann, und sie fing an zu schreien... und wir haben Tom genommen und ihn zur Hintertür hinaus geschmuggelt, bevor sie hereinkamen. Und... und hier sind wir. Tut... tut mir leid, Fräulein.”

Lily seufzte; mit aller Macht drängte sie ihren Zorn beiseite, und die bittere Trauer um den guten, sanftmütigen Hobbit, den sie gemocht und sehr respektiert hatte.

„Lasst mich sehen, was ich tun kann.” sagte sie. „Folco, würdest du hineingehen und Wasser für mich warm machen? Und—“ Ihr Blick ruhte auf Robin und seinem verletzten Gefährten,„da ist ein bisschen Suppe übrig, in dem Topf über dem Feuer. Ich glaube, die zwei hier sollten etwas essen.” ---

Zwei Stunden später war Tom verbunden und mit einer großen Dosis Mohnsirup betäubt; sein Körper war in zwei Decken eingehüllt und neben ihm schliefen seine beiden Retter, in die wärmsten Schlafrollen gewickelt, die Lily hatte finden können. Lily und Folco saßen mit zwei Bechern Glühwein im Smial, und Folco erzählte ihr den Rest der Geschichte.

Tom hatte Hobbingen nach Andis Tod verlassen. Er war schon vorher unglücklich und rastlos gewesen; Margerite hatte ihm gesagt, dass sie nicht länger vorhatte, ihn zu heiraten. Tom wusste, was ihr passiert war, aber er liebte sie trotzdem und nahm es sehr übel auf. Andis furchtbares Ende war der letzte Anstoß; Tom begann zu reden, öffentlich, unvorsichtig und laut. Er hatte allen Ernstes die Absicht, nach Beutelsend hinaufzugehen und Scharker anzuklagen; eines Abends trank er sich genügend Mut an, um sein wahnwitziges Vorhaben durchzuführen, und es brauchte drei kräftige Freude - einer davon Folco - um ihn rechtzeitig aufzuhalten, bevor er den Wachen in die Arme lief. Aber Toms wütende Reden waren an die falschen Ohren gedrungen und der Schaden war geschehen - zwei Tage später hingen Steckbriefe an allen öffentlichen Plätzen um Hobbingen und Wasserau, und jetzt wurde Tom wegen "rebellischen Aufruhrs" gesucht. Irgendwie brachten Toms Freunde es fertig, ihn im Schutz der Dunkelheit unter einer Ladung Kartoffeln aus Hobbingen herauszuschmuggeln. Es gelang ihm, die Höhlen in der Nähe von Schären zu erreichen, wo Fredegar Bolger zuletzt gesehen worden war. Aber Fredegar war schon vor Wochen verhaftet und in die Riegellöcher gebracht worden, und seine Aufständischen mit ihm.

Tom wusste nicht, wohin, und als er endlich beschloss, sich nach Hagsend zu einem Onkel durchzuschlagen, wurde er auf dem Weg von einer Rotte Menschen aufgehalten. Sie erkannten ihn nicht, aber sie stießen ihn herum, und einer von ihnen zog ein langes Messer, weil er „das kleine Ferkel kitzeln wollte, damit es quiekt”. Die Dinge gerieten außer Kontrolle und Tom endete auf der Erde, hilflos und blutend. Glücklicherweise verloren die Männer das Interesse und machten sich davon, und Robin Spachtler und sein Bruder Fastolph fanden ihn ein paar Minuten später.

Auf dem Weg, Tom auf einer improvisierten Trage zwischen sich, rannten sie zu ihrem großen Missgeschick in ein Rudel Hobbits hinein, die vom rechten Wege abgekommen waren (“prahlerische Lümmel, aber wenigstens nicht zu groß” bemerkte Robin mit einem schwachen Lächeln). Sie wurden schwer verprügelt, aber sie brachten es fertig, Tom in einem trockenen Straßengraben zu verstecken, bevor Fastolph sich eine lange Schmarre an der Schläfe einhandelte und Robins Arm ausgekugelt wurde, als er versuchte, seinem Bruder beizustehen. Am Ende zeigten ihre Angreifer, dass ihnen wenigstens eine Spur gesunder Hobbitsinn geblieben war, machten sich aus dem Staub und ließen die beiden in Frieden. Robin und Fastolph versorgten sich gegenseitig mit notdürftigen Verbänden und schleppten sich mit ihrer Bürde weiter nach Wasserau, wo das Pech sie weiterhin verfolgte; eine der offiziellen Patrouillen von Scharkers Männern entdeckte sie, als sie in den Weg zu Dolgos Smial einbogen, und sie erkannten den mittlerweile besinnungslosen Tom auf der Trage an seinem auffällig roten Haar (das auf dem Steckbrief extra erwähnt wurde). Und so kam es, dass Dolgo Straffgürtel sterben musste, weil er das tat, was er immer getan hatte: zu helfen und zu heilen.

„I-ich hab sie g-getroffen, als s-sie auf dem W-Weg nach Hobbingen w-waren.” erklärte Folco mit leiser Stimme. „S-sie wussten n-nicht mehr, wo sie h-hingehen sollen, und ich h-hab ihnen geholfen, T-Tom auf meinen K-Karren zu laden und s-sie hergeb-bracht. Ich w-wollte k-keine Schwierigkeiten m-machen, Lily, aber...”

„Schon gut, Folco.” Lily stand auf und fing an, durch den Raum zu wandern. „Wusstest du, dass es Dolgo war, der meine Eltern davon überzeugt hat, dass ich seine gute Hebamme sein würde?” Ihr Gesicht war bleich und verzweifelt. „Er war freundlich und geduldig, und die Leute haben ihn geliebt. Ich- ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht mehr da ist. Arme Aster... oh Sterne, arme Aster!”

Plötzlich presste sie eine Hand vor den Mund und fing an zu weinen; Folco starrte sie an. Es war das erste Mal, dass Lily in seiner Gegenwart die Fassung verlor.

„Es tut mir leid, Folco”, flüsterte sie. Ihre Stimme war tränenerstickt. „Es ist nur, dass ich... ich kann nicht...”

Folco erhob sich von seinem Stuhl und stellte den Becher auf den Kaminsims. Er kam zu Lily hinüber und nahm sie in die Arme.

Sie stand an ihn gelehnt, ohne sich zu rühren und eigenartig überrascht. Seine Hände glitten in einer sanften Liebkosung ihren Rücken hinauf und hinunter, und ihr Kopf ruhte unterhalb seiner Schulter (er war groß, größer als Frodo, und sein Körper war robust und kräftig). Abwesend registrierte sie, dass er nach Staub, nach Schweiß und Getreide roch; sie atmete tief ein, seufzte und ihr Körper entspannte sich in bittersüßer Erleichterung.

„Lily...“ murmelte er. „Meine liebe Lily.“

Er hob eine Hand, berührte ihr Kinn und hob es an. Sie sah seine Augen sehr dicht vor sich, und dann begegneten sich ihre Lippen.

Er schmeckt gut, dachte sie, und eine winzige Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte: Es ist so lange her, so lange...bin ich seine erste Frau? Und er zog sie dichter an sich heran und ein Geräusch des Vergnügens kam tief aus seiner Brust wie das Schnurren einer großen Katze, und dann öffnete er den Mund und sie spürte seine Zungenspitze auf ihren Lippen, um Einlass schmeichelnd. Ein Teil von ihr wollte ihn zurückstoßen, ein anderer wollte sich seiner Wirklichkeit überlassen, der beruhigenden Stärke seines Körpers und der Wärme seines Verlangens. Sie spürte, wie seine Finger über ihr Mieder irrten und ihre Brüste unter dem Wolltuch berührten, und er zog sich zurück und lächelte sie mit strahlenden Augen an und küsste sie noch einmal, ein tiefer, andauernder Kuss , der ihren Mund mit glühendem Entzücken erforschte. Und dann drückte er sie an die gesamte Länge seines Körpers, und sie spürte, wie er an ihrem Schenkel hart wurde.

Das Entsetzen durchfuhr sie wie ein Blitzschlag.

Grapschende Hände, die sie an einen massigen Körper pressten. Ein keuchender Angreifer, der sich gegen sie drängte, der krachende Schmerz in ihrer Schläfe, der Boden des Studierzimmers, schmerzhafte Härte, die sich ihr gnadenlos aufzwang, eine bittere Demütigung, eine reißende Qual...

Und noch etwas - eine Stimme, leise, aber eindringlich in ihrem Herzen.

„Und wenn ich nicht zurückkomme, dann nicht, weil ich dich nicht wiedersehen will.”

Lily rang nach Luft und wich zurück. Folco stand da, die Hände immer noch nach ihr ausgestreckt, aber sie machte zwei hastige Schritte rückwärts und schüttelte den Kopf.

„Nein, Folco”, flüsterte sie. „Nein. Ich kann das nicht. Es tut mir leid.”

„Aber...” Sie sah die Hilflosigkeit in seinem Blick; er verstand es nicht. Natürlich nicht, wie konnte er auch. „Lily. Lily, du m-musst doch w-wissen, dass ich...”

„Sprich es nicht aus, Folco.” Wieder schüttelte sie den Kopf. „Lass uns die Möglichkeit, Freunde zu bleiben. Ich weiß, du hast mehr verdient, aber ich kann dir nicht geben, was du suchst. Bitte geh jetzt nach Hause.”

Lily konnte sehen, dass er tief verletzt war, aber er widersprach nicht und erhob auch nicht die Stimme. Er nickte knapp, sein Mund eine dünne Linie, und verließ die Küche. Einen Moment später hörte sie, wie sich die Smial-Tür leise hinter ihm schloss. Sie stolperte mit weichen Knien zum Kamin hinüber, sank in den Schaukelstuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.

*****

Sie schlief kaum in dieser Nacht, und als sie endlich etwas Ruhe fand, war sie nur von kurzer Dauer. Wieder erwachte sie von Stimmen vor ihrem Fenster, aber dieses Mal war es eine Gruppe Menschen, die sich stritten und gegen die Vordertür schlugen. Vater! war ihr erster Gedanke, und sie sprang aus dem Bett und in ihre Kleider, ohne Zeit an den Gebrauch von Seife, Wasser oder Kamm zu verschwenden. Als sie den Gang hinaufhastete, sah sie Fredegar im Gegenlicht stehen wie einen scharfen Scherenschnitt; er schwankte auf seinen Krücken. Sie fasste ihn am Arm und starrte in die grinsenden Gesichter dreier Grobiane.

„Oh!“ Einer von ihnen stieß einen langen Pfiff aus. „Schaut euch die gerupfte kleine Gans an! Aus dem Bett gefallen, Schätzchen?“ Brüllendes Gelächter von seinen Kumpanen. „Du bist die Hebamme, oder?“

Lilys Herz sank. Robin, dachte sie. Fastolph und Tom. Die dürfen nicht herausfinden, dass sie hier sind.

„Ja, bin ich.“ sagte sie so gelassen wie möglich. „Was wollt ihr von mir?“

„Scharker beordert dich rauf nach Beutelsend.“ sagte der Mensch. „Sein Diener Schlangenzunge hat einen kleinen... Krach mit dem Baas gehabt, und er hat mit seinem Messer rumgefummelt. Und jetzt hat der Baas ein Loch, wo er keins haben sollte, und er braucht wen, der es stopft.“

„Ich gehe nicht nach Beutelsend.“ sagte Lily fest, die Arme verschränkt.

„Oh doch, tust du.“ Der Mensch grinste wieder. „Wir können ganz schön fies werden, wenn kleine Gänse nicht gehorchen. Willst du, dass wir deinem alten Krüppel da einen Grund zum Tanzen geben? Oder sollen wir dich mit in die nächstbeste Scheune nehmen und ein bisschen Spaß mit dir haben, damit du aufhörst, so stur zu sein?“

Eisiges Entsetzen schlug über ihr zusammen, und sie spürte, wie Fredegar zusammenzuckte. Sie drückte schmerzhaft seinen Arm, um ihn davon abzuhalten, irgendetwas zu sagen und seinen (und ihren) Hals zu riskieren.

„Ihr werdet warten müssen, bis ich meinen Vater hineingebracht habe.“ sagte sie mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte. „Und ich muss meine Tasche holen.“

Sie drehte sich um und führte Fredegar den Gang hinunter; sie sprach leise auf ihn ein.

„Hör zu, Papa, und sei still.“ flüsterte sie. „Es sind drei verletzte Hobbits in dem Schuppen im hinteren Garten. Bitte nimm Maiblume und schick Folco eine Nachricht; er muss sich um sie kümmern. Und sag ihm, dass sie mich den Bühl hinaufgebracht haben.“

Sie brachte ihn zu dem Taubenkäfig, wo dieser Tage immer etwas Papier und ein Bleistift bereit lagen, umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn. Dann nahm sie ihre Tasche und ging wieder den Korridor hinauf, den Rücken sehr gerade, die zitternden Hände zu Fäusten geballt. ---

Beutelsend war ein Alptraum. Das letzte Mal, als Lily dort gewesen war, waren die Anzeichen der Vernachlässigung bereits sichtbar gewesen, aber jetzt war der vertraute, einst so wunderschöne Smial ein Schweinestall, schmutzig und stinkend wie ein Keller voller verfaulter Wintervorräte nach einem unerwartet heißen Tag im Frühling. Lily ging durch den langen Korridor hinter der grünen Tür, die nun fast all ihre Farbe verloren hatte, und sie versuchte so flach zu atmen wie möglich; ihr war bereits übel vor Angst, und sie wollte sich vor ihren rüden Wächtern nicht übergeben. Die ganze Zeit dachte sie an das kleine, scharfe Messer, das sie in der Tasche hatte, um die Nabelschnur der neugeborenen Babys durchzuschneiden. Wenn sie versuchen, über mich herzufallen, dann bringe ich mich um, dachte sie, ihr Geist erstaunlich klar und kalt. Das wird wahrscheinlich der leichtere und weniger schmerzhafte Tod. Sie nahmen einen Seitengang zu der kleinen Tür von einem der kleineren Räume am hinteren Ende der Höhle. Sie schlossen mit einem kleinen Schlüssel auf und stießen Lily hinein.

Eine gebeugte Gestalt saß neben dem Tisch; Lily schaute sich rasch im Rest des Zimmers um und sah das ungemachte Bett und das schmale Tablett mit dem kaum angerührten Essen, das genauso übel roch wie der Rest des verdorbenen Ortes. Der Steinfußboden klebte von Schmutz. Sie schluckte, die Kehle eng und verkrampft.

„Lotho?”

Die Gestalt drehte sich langsam herum, und es war tatsächlich Lotho. Er hatte eine Menge von seinem früheren Gewicht verloren, sein Gesicht war eingesunken und teigig fahl. Der rechte Ärmel seines zerknitterten, schmutzigen Hemdes war zerrissen und dunkel von halb eingetrocknetem Blut. Als er sah, wer gekommen war, weiteten sich seine Augen.

„Du...?“ krächzte er. „Was tust du denn hier? Warum haben sie nicht Dolgo geholt?“

„Weil Dolgo letzte Nacht umgebracht worden ist“, erwiderte Lily ätzend scharf, „letzte Nacht, als er versuchte, einem verletzten jungen Hobbit zu helfen. Du hast keine Wahl, als dich mit meinen Diensten zufrieden zu geben, Lotho Pickel.“

Sie schloss die Tür hinter sich, stellte die Tasche auf die sauberste Stelle des Tisches und machte sie auf.

„Du bist hoch geachtet, wie ich sehe“. sagte sie, die Stimme gedämpft und bitter. „Sag mir, Baas... war das den ganzen Schaden wert, den du angerichtet hast?“

Er fuhr zusammen, einen bockigen, verzweifelten Ausdruck im Gesicht. „Dies geschieht zu meinem Schutz“, murmelte er. „Scharker sagt, er muss mich vor meinen eigenen Leuten beschützen, bis der letzte Widerstand gebrochen ist.“

„Der letzte...“ Lily brach ab und starrte ihn in völligem Unglauben an... und für einen schwindelerregenden Augenblick musste sie ihr Herz gegen einen plötzlichen Stich des Mitleides stählen. Mitleid für den Hobbit, der sich als Schande seines Volkes erwiesen hatte, der sie auf dem Boden des Studierzimmers genommen hatte wie ein Tier... Mitleid für seine Schwäche, seine verlorenen Träume und seinen jämmerlichen Zustand. Kein Hobbit sollte jemals so behandelt werden, nicht einmal Lotho.

Und nun war sie plötzlich imstande, ihre Furcht zu vergessen und selbst die Nacht im Studierzimmer, und sie konnte sich um ihn kümmern, wie es von ihr verlangt wurde. Sie lockte den letzten Rest Licht aus der rußigen Lampe, riss die Überreste des Ärmels ab und reinigte Arm und Wunde mit Alkohol, bevor sie ihm einen Mundvoll Mohnsirup verabreichte und anfing, die Verletzung zu nähen. Erstaunlicherweise saß er still und gab keinen Laut von sich, bis sie ihre Aufgabe beendet hatte.

Sie schloss die Tasche und starrte ihn in dem düsteren Licht des engen Zimmers an.

„Du solltest versuchen, hier wegzukommen“, sagte sie. „Das nächste Mal werden sie wahrscheinlich nach niemandem mehr schicken und dir statt dessen den Rest geben.“

Sie sah den hoffnungslosen Blick in seinen Augen. „Ich kann nicht.“ flüsterte er. „Ich kann nicht.“

„Wo ist deine Mutter?“

„Ich weiß es nicht.“

Die Tür wurde geöffnet und Lily drehte sich hastig um. Ein Mann stand vor ihr – nicht einer von denen, die sie hergebracht hatten, sondern jemand anderes, eine eigenartige Kreatur mit einem bleichen, hasserfüllten Gesicht. Langes, fettiges Haar fiel ihm über die Schultern und seine Kleidung war beinahe noch schmutziger als die von Lotho. Sie sah den Blick, den er dem ehemaligen „Baas“ zuwarf und schauderte.

„Scharker will dich sehen“, murmelte der Mann, und bevor sie noch etwas sagen konnte, zog er sie nach draußen. Er schloss die Tür ab und Lothos Gesicht verschwand außer Sicht. Wieder ging sie durch den Korridor, und dann öffnete der Mensch wortlos eine Tür auf der linken Seite, und Lily erkannte Bilbos ehemaliges Empfangszimmer.

„Meister...“ wisperte der Mann und verbeugte sich mit mehr als nur einer Spur von Furcht. „Die Hebamme ist hier.“ Er ging aus dem Zimmer, und sie war scheinbar allein mit Staub und Schatten... aber nicht ganz.

„Ah – ein Gast!“ Eine Stimme von einer Art, wie sie sie noch nie gehört hatte, süß, voll und geschmeidig wie dunkler Honig. Und nun löste sich eine hohe Gestalt aus der Dunkelheit, ein alter Mann mit einem bleichen, strengen Gesicht und sehr langem, weißen Haar. Er hatte schlanke, elegante Hände, aber seine Fingernägel waren schmutzig. Etwas Mächtiges strahlte von ihm aus – eine übelkeiterregende Kraft, die dafür sorgte, dass sie sich schwach fühlte und sehr klein.

„Ich hörte, der Heiler von Wasserau sei tot?“ sagte der Mann. „Das ist wahrhaft ein Unglück. Bitte nimm mein tiefstes Bedauern entgegen.“

Lily starrte ihn an und runzelte die Stirn. Für eine Sekunde war sie vollkommen überzeugt, dass er das ernst meinte – aber dann erinnnerte sie sich an Toms besinnungslose Gestalt, an Asters Lächeln und an Dolgos sanftmütige Geduld, und die Täuschung verging.

„Ja, es ist eine Tragödie.“ erwiderte sie so demütig sie konnte.

„Sag mir, Kind... wie hat dich die Nachricht über sein Hinscheiden erreicht?“ Noch mehr geschmeidige Süße.

Lily spürte, wie die Kälte in ihre Glieder kroch, als sie ihren Fehler erkannte. Sie hatten sie sehr früh am Morgen geholt, und Dolgo war gegen Mitternacht gestorben. Es war unmöglich, dass sie von seiner Ermordung wusste, wenn sie nicht mit einem der Augenzeugen geredet hatte... Tom, Robin oder Fastolph. Und er musste das wissen.

„Neuigkeiten reisen schnell, Herr“, antwortete sie und rang um einen leichten Ton. „Und ich schlafe in diesen Tagen nicht sehr viel.“

„Aber meine braven Männer haben mir gesagt, dass sie dich aufwecken mussten“, fuhr die schmeichelnde Stimme fort. „Wann hast du es erfahren – und von wem?“

Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf und Lily hatte den schrecklichen Verdacht, dass er sich dessen vollkommen bewusst war.

„So gegen sechs heute Morgen.“ antwortete sie und versuchte, überrascht zu klingen. „Von einem der Bauern... sie stehen früh auf hier. Dolgo war überall sehr beliebt, und jetzt bin ich die einzige, die noch übrig ist, um sich um die Kranken und Verletzten zu kümmern.“

Plötzlich beugte er sich vor, legte die Hände um ihre Schultern und hielt sie in einem harten Griff. Lily versuchte, den Kopf abzuwenden, aber sie konnte seinem durchbohrenden Blick nicht ausweichen.

Sie fühlte sich aufgespießt wie ein Schmetterling auf einer langen, scharfen Nadel, völlig der Gnade dieser Hände ausgeliefert. Seine dunklen Augen wurden größer und größer, sie verschlangen ihren Willen und drangen in ihren Geist, und sie wusste, dass er das Bild der Stolzfuß-Scheune finden würde, mit drei verwundeten Hobbits, verborgen im Heu.

Mit einer verzweifelten, qualvollen Anstrengung wandte sie ihre Gedanken von ihnen ab und suchte nach etwas anderem, das sie ihm erlauben könnte zu sehen... und aus einer tiefen Quelle in ihrem Herzen, einen verborgenen Ort, wo die Hoffnung trotz aller ertragenen Schmerzen noch andauerte, spürte sie einen Strom der Erinnerungen an die Oberfläche drängen wie ein Strahl klaren Wassers. Er erfüllte ihren Kopf mit farbenfrohen Bildern, wunderschöne, kleine Juwelen, die sie erzittern ließen. Frodo, der sie zum allerersten Mal in die Armen hielt... sein schönes, geliebtes Gesicht, leuchtendes Silber im mondhellen Wasser, als sie gemeinsam im Fluss schwammen... die Wärme seiner Stimme, als er sie nach Merles Tod getröstet hatte... selbst der Abend, als sie sich im Stolzfuß-Smial geliebt hatten, bevor er fortging, die Erinnerung ein brennender Stachel aus Leidenschaft, Liebe und Angst, alles auf einmal... Sie nahm diese Bilder und hielt sie gegen ihren übermächtigen Feind hoch wie ein Schild; sie ließ zu, dass sie jeden anderen Gedanken vertrieben, jeden anderen flüchtigen Eindruck ihres Lebens, den er zu entdecken versuchte.

Plötzlich ließ er sie los und zog sich aus ihrem Geist zurück; Lily taumelte mit einem würgenden Schrei rückwärts, stolperte und fiel hin. Sie lag auf dem Boden und blickte zu der hohen Gestalt auf, einen zermalmenden Schmerz hinter den Augen; sie konnte kaum klar denken. Dann durchbrach ein Geräusch die Stille... sie brauchte ein paar Augenblicke, um es zu erkennen. Er lachte.

„Frodo Beutlin… du warst die Dirne von Frodo Beutlin?!!? Nun, das ist etwas, das ich nicht erwartet hatte… und das ist es, was er zu Hause vorzufinden hofft?”

Die Maske fiel und sie sah den bodenlosen, schwarzen Abgrund, der dahinter lag. Ihre Furcht und Verblüffung ließen sie beinahe aufschreien, aber sie biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte. Wieder lachte er.

„Oh ja, ich habe ihn gesehen, kleine Dirne… er ist auf dem Weg nach Hause, und er erwartet, dass sein lächerliches kleines Land so blüht und gedeiht wie immer – wie enttäuscht er sein wird!”

Sie schluckte; ihre Kehle war zugeschnürt, in ihrem Kopf drehte sich alles, eine wahnwitzige Mischung aus Entsetzen und einer plötzlichen, unerwarteten Hoffnung.

„Er... Frodo ist am Leben?“

Er beugte sich über sie, ein kaltes Feuer im Blick, und ihr Herz fror ein.

„Das ist er, das ist er in der Tat! Und wie leicht es sein würde, auch noch seine letzte Zuversicht zu zerstören... ein Teil davon ist schon getan. Sein albernes Volk in verängstigte Kaninchen verwandelt, die sich in ihren Löchern verstecken, während ich die grünen Hügel über ihren Köpfen verwüste... Schmutz und Gift, die die Flüsse seines Landes verderben... und das Einzige, was ich jetzt noch tun muss, ist, dir den Hals zu brechen und dich ihm vor die Füße zu werfen wie ein Stück Abfall. Soll ich dich umbringen, kleine Dirne?“

Die langen Hände stießen herab, packten ihre Schultern und zerrten sie in die Höhe, bis sie wie eine Stoffpuppe in seiner Umklammerung hing, Arme und Beine schlaff, das Gesicht kalkweiß. Die Zeit stand still, während sie darauf wartete, dass sich seine Finger um ihren Hals legten. Dann lachte er wieder, ein spöttisches, leises Geräusch, das sie nach Atem ringen ließ, und er ließ sie auf den Boden fallen.

„Aber nein, das ist zu einfach, viel zu einfach... sein Irrsinn war der hauptsächliche Grund für meinen Verlust an Macht und Einfluss – der selbe Irrsinn, der ihn das Erbstück des Feindes fortwerfen ließ, bevor man es richtig einsetzen konnte. Alberner Narr!“

Er starrte sie an.

„Aber er zahlt jetzt einen hohen Preis dafür, und deshalb werde ich mir die Hände nicht mit deinem Blut beschmutzen, sondern dich lieber deinem Elend überlassen... wenn ich dich jetzt töte, dann ist die Qual viel zu rasch vorbei. Er wird zurückkehren, ja, und du wirst ihn an beidem leiden sehen: was ich seinem kostbaren Heimatland zugefügt habe und was der Verlust des Ringes ihm noch zufügen wird. Er ist jetzt eine leere Hülle, ein zerbrochenes Gefäß... und wie könnte ich es wagen, doch der kostbaren Erfahrung zu berauben, dass du siehst, wie seine Wunden von innen heraus schwären, während er zu einem bloßen Schatten des Geschöpfes verkommt, an das du dich erinnerst? Glaub mir – eines Tages wirst du zurückschauen und dir verzweifelt wünschen, ich hätte dich heute erwürgt.“

Er machte eine raschen Bewegung in ihre Richtung und sie krabbelte rückwärts, die Augen in hilfloser Angst weit aufgerissen, die Stimme erstickt in der Kehle.

„Hinaus mit dir, kleine Dirne... hinaus mit dir, bevor ich meine Meinung ändere und meine Schlange mit ihrem schmutzigen Messer hinter dir her schicke. Hinaus!“

Irgendwie schaffte sie es, auf die Füße zu kommen; sie machte ein paar unsichere Schritte, dann drehte sie sich um und rannte zur Tür hinaus, den stinkenden Korridor hinunter; sie erreichte den Eingang und schoss hinaus in den ruinierten Garten. Wenn dort ein paar seiner Männer herumlungerten, so hatte sie keinen Blick dafür. Sie brach durch das Tor, das schief in den Angeln hing und flüchtete den Weg hinunter... und plötzlich wurde sie von zwei Händen aufgehalten. Sie schrie und trat blind um sich, den Geist noch immer erfüllt von dieser grausamen, samtweichen Stimme.

„Schsch... schsch... Lily, Ich b-bin’s. Ich b-bin’s d-doch n-nur. Schsch...“

Sie öffnete die Augen und sah ein ängstliches Gesicht vor sich, sommersprossig und bleich... Folcos Gesicht. Sie öffnete den Mund, noch immer unfähig zu sprechen.

„Ich h-hab m-mich n-nicht d-dichter h-herangetraut,Lily... i-ich h-hatte A-Angst v-vor d-den R-rüpeln d-da oben.“ sagte er; sein Stottern wurde wieder schlimmer, als er den Zustand bemerkte, in dem sie sich befand. „B-besser i-ich b-bring d-dich jetzt n-nach H-Hause.“

Lily holte tief Luft und brach in Tränen aus; das heftige Schluchzen ließ ihren gesamten Körper erzittern wie ein Blatt im Wind. Dann wurden ihr die Knie weich und zum ersten Mal in ihrem Leben fiel sie in Ohnmacht.


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