Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Fünfzehn
Feuer 

Feuerboot, Feuerboot, schwimm zu mir her
Trag meine Wünsche weit über das Meer
Der Braut und dem Bräutigam ein langes Leben
Gesunde Kinder und Reichtum mög das Schicksal Euch geben
Eine Liebe, die bleibt, sind die Zeiten auch schwer
Feuerboot, Feuerboot, schwimm zu mir her
Trag meine Wünsche weit über das Meer

(Traditioneller gondoreanischer Hochzeitssegen)

Gesprenkelt mit Hunderten von Lichtern erstreckte sich der Anduin vor Éomer wie ein Strom von Sternen. Weit hinter ihnen im Westen zeichneten die letzten, noch andauernden Spuren der Sonne den Himmel in einem helleren Blauton, aber hier in Osgiliath war die Nacht herab gesunken. Ein großer Teil der Stadt lag noch immer in Ruinen, doch selbst im schwachen, orangefarbenen Licht ihrer Fackeln konnten sie überall rings um sich her Anzeichen für die Wiedergeburt der früheren Hauptstadt von Gondor erkennen: frisch geweißte Mauern, wieder aufgebaute Häuser, sorgsam gepflegte Gärten.

An den Flussufern entlang hatten sich die Leute versammelt, um ihre Feuerboote zu Wasser zu lassen, und die Brücken waren mit Zuschauern bevölkert, die sich über die Balustraden beugten. Die Menge war festlich gestimmt; Gelächter, Liedfetzen und Musik wehten durch die stille Nachtluft. Riesige Freudenfeuer waren am Weg errichtet worden; Funken sprühten, Rauchwolken stiegen auf, und ringsherum hatten sich bereits improvisierte Kreistänze gebildet. Das ganze Gebiet war schwarz von Menschen, doch als die drei Banner – der Baum mit den sieben Sternen, das Schiff mit dem Schwanenbug und das weiße Pferd – in Sicht kamen, machten sie bald Platz. Faramir und Éowyn, die vorneweg ritten, überschüttete man mit guten Wünschen. Der Truchsess von Gondor wurde vom gemeinen Volk sehr geliebt.

Als sie einen großen Platz erreicht hatten, der dem Anduin gegenüber lag, stiegen sie ab, ließen ihre Pferde in der Obhut einiger von Aragorns Männern zurück und machten sich auf den Weg zum Ufer. Steinstufen zogen sich über die gesamte Länge hin und führten dorthin hinunter, wo große, flache Felsbrocken halb im Wasser lagen. Faramir hatte sie die Mûmakil-Steine genannt. Die Legende besagte, dass vor vielen Jahren ein Zauberer ein Heer dieser riesigen Kreaturen in Stein verwandelt hatte, als sie versuchten, Gondor anzugreifen.

Sein Knappe hatte daran gedacht, die sorgfältig verpackten Feuerboote mitzubringen, und nun blieb Éomer stehen, um nach Lothíriel Ausschau zu halten. Er entdeckte sie ein wenig abseits: Amrothos, der sich ihnen auf dem Weg nach Osgiliath angeschlossen hatte, half ihr die unebenen Stufen hinunter.

Aber bevor er der Prinzessin etwas zurufen konnte, wurde er von der Herrin Wilwarin begrüßt. Sie schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.

„Oh König Éomer, würdet Ihr mir eine Hand reichen? Diese Stufen sind ein wenig rutschig.“

Selbst hatte er keinerlei Schwierigkeiten mit der Trittsicherheit, aber schließlich trug er feste Reitstiefel. Höflich bot er ihr den Arm; fest an ihn geklammert, bewältigte sie den Abstieg ohne irgendwelche Missgeschicke.

Ihr Blick blieb an seinen leeren Händen hängen. „Ihr habt kein eigenes Boot?“ fragte sie und bot ihm das ihre an.

Éomer brauchte einen Moment, um die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen, denn er war durch den Anblick von Lothíriel und ihrem Bruder abgelenkt, die ihre Stiefel nahmen und sie sorgfältig auf der untersten Stufe der Steintreppen abstellten. Was hatten die beiden vor?

Die Herrin Wilwarin hielt ihm noch immer ihr Feuerboot entgegen. Verschwenderisch mit Flitter dekoriert, wies es nicht weniger als drei Masten auf, die mit kleinen Leinensegeln bespannt waren.

Éomer deutete dorthin, wo Oswyn geduldig wartend stand und die beiden Pakete hielt. „Ich danke Euch. Aber mein Knappe führt meine mit sich.“

„Oh!“ Für einen Augenblick schien sie aus der Fassung geraten zu sein, aber Éomer hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ein Stück weiter flussabwärts sah er, wie Lothíriel und Amrothos auf einen der Felsbrocken traten, die in den Fluss hinaus ragten. Er wackelte ein wenig, und obwohl die beiden lachten, konnte er nicht anders als sich um Lothíriels Sicherheit Sorgen zu machen. Irgendwie kam ihm ihr Bruder nicht wie der verlässlichste aller Männer vor; zum Glück zeigte ein Blick das Ufer hinauf ihm die vertraute Gestalt seines Marschalls.

„Elfhelm!“ rief er. Seine Stimme trug leicht über den Lärm der Menge hinweg; eine Fähigkeit, die er sich auf dem Schlachtfeld erworben hatte.

Der Marschall kam mit zwei Schritten auf einmal die Stufen hinunter. „Éomer König?“

„Elfhelm, würdet Ihr euch für mich um die Herrin Wilwarin kümmern?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, holte er sich seine Pakete von Oswyn und machte sich rasch auf den Weg zum Fluss hinunter. Amrothos und Lothíriel war es gelungen, von einem Felsbrocken zum nächsten zu klettern, bis sie ziemlich weit draußen auf dem Wasser waren. Er bedeutete seinen Wachen, zurückzubleiben und folgte ihnen; an einer Stelle hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren. Der Felsen, der am weitesten im Fluss lag, war leicht zur Seite gekippt und nicht sehr groß. Als er darauf sprang, bewegte er sich ein wenig, und Lothíriel ruderte überrascht mit den Armen. Er streckte eine Hand aus, nahm sie beim Ellbogen und stützte sie.

Sie packte ihn am Arm. „Éomer, seid Ihr das?“

Er fühlte sich wie ein Narr, dass er sie erschreckt hatte, wo er ihr doch in Wahrheit hatte zu Hilfe eilen wollen. „Ich habe Euer Feuerboot mitgebracht.“

Amrothos hielt eine Fackel in der Hand und hockte über sein eigenes Boot gebeugt; eine winzige Meerjungfrau war in den Bug geschnitzt. Er blickte auf und begrüßte Éomers Ankunft mit einem Grinsen. „Gut! Wir waren gerade dabei, das hier los zu schicken. Nun muss es nur meine Wünsche über das Meer tragen.“

Éomer sah stirnrunzelnd auf ihn hinunter. „Was tut ihr eigentlich so weit hier draußen?“

„Es ist der beste Platz, um Feuerboote zu Wasser zu lassen,“ sagte Amrothos und griente flegelhaft. „Traut einem erfahrenen Seemann, wie ich einer bin.“

Verärgert über seinen prahlerischen Ton antwortete Éomer schärfer, als er es beabsichtigt hatte. „Das mag sein, aber auch ausgesprochen gefährlich. Was, wenn Eure Schwester ins Wasser fällt?“

Lothíriel zupfte ihn am Ärmel. „Éomer, ich kann ausgezeichnet schwimmen, und das Wasser geht mir hier ohnehin nur bis zur Mitte.“

„Oh!”

Das Wasser wirkte im Fackelschein so tintenschwarz, dass er es für viel tiefer gehalten hatte. Amrothos bückte sich, um die dünnen Fäden zu überprüfen, die vom Deck seines Bootes zur Mastspitze liefen, aber Éomer war sich ziemlich sicher, dass er ein Lächeln auf seinem Gesicht gesehen hatte.

Er versuchte, etwas Boden zurück zu gewinnen. „Nun, um diese Zeit in der Nacht wäre selbst ein kurzes Bad keine sehr nette Sache.“

„Nein, natürlich nicht,“ stimmte sie beruhigend zu.

Wieso hatte er den Eindruck, dass sie sich nur seiner Meinung anschloss, um ihn nicht zu kränken? Éomer beschloss, das Thema zu wechseln.

„Es tut mir Leid, dass ich Euch Euer Boot nicht eher geben konnte,“ entschuldigte er sich.

Sie zuckte die Achseln. „Ich verstehe das schon. Amrothos sagte, Ihr musstet der Herrin Wilwarin zuerst mit ihrem Boot helfen.“

„Nun...“ Er warf einen schuldbewussten Blick über seine Schulter zurück. Elfhelm schien mit der Aufgabe, die ihm sein König zugewiesen hatte, glücklich zu sein, aber die Herrin Wilwarin hatte nicht allzu erfreut ausgesehen, als er sich entschuldigt hatte. Dann entdeckte er oben auf der Treppe Hereswyth, Elfhelms Frau, die die Szene mit verschränkten Armen beobachtete. Hatte er seinen alten Freund in Schwierigkeiten gebracht?

„Gefallen Euch die Feuerboote?“ unterbrach Lothíriel seine Gedanken.

Er nickte. Der Anblick des Anduin wetteiferte mit dem Himmel über ihnen. „Es sieht zauberhaft aus – ganz, wie Ihr gesagt habt.“

Sie lächelte zu ihm auf. „Ja. Ich denke, es ist ein großartiger Brauch.“

Boote, die flussaufwärts zu Wasser gelassen worden waren, trieben vorüber, von der trägen, doch unwiderstehlichen Strömung getragen. Während einige so aussahen, als wären sie an Ort und Stelle aus ein paar Stöcken und etwas Zwirn zusammengeschustert worden, waren andere offensichtlich das Ergebnis von vielen Stunden Arbeit. Éomer fragte sich, welche Wünsche sie wohl mit sich trugen, als er plötzlich eines erspähte, das ihm deutlich bekannt vorkam. Goldene Verzierungen schimmerten im Fackellicht, während das Boot stolz vorbei rauschte, die Segel von einer leichten Brise gebläht. Dann – gerade, als es an ihnen vorüber glitt – ließ die Strömung es sachte kreiseln und es fing an, sich zur Seite zu neigen. Noch während er zuschaute, begann Wasser über den Rand zu schwappen, ließ die Kerze mit einem Zischen ausgehen und brachte das gesamte Boot zum Kentern

Amrothos lachte. „Ich frage mich, welcher Landratte das wohl gehört hat? Viel zu topplastig!“*

Éomer blickte zurück in Richtung Ufer, und selbst aus dieser Entfernung konnte er den verdrossenen Ausdruck auf dem Gesicht der Herrin Wilwarin erkennen. Was hat sie sich wohl gewünscht? ging es ihm durch den Sinn.

Amrothos flüsterte ein paar Worte vor sich hin und ließ sein eigenes Fahrzeug zu Wasser. Es erlitt nicht das gleiche, schmähliche Schicksal, sondern verschwand rasch außer Sicht, mit Dutzenden seiner Gefährten zum Meer getragen.

„Wir werden sehen, ob ich beim Pferdewetten das nächste Mal mehr Glück habe,“ sagte er mit einem Grinsen.

Dann reichte er Éomer die Fackel. „Wir stehen hier ein wenig gedrängt, also glaube ich, ich lasse Euch allein. Kann ich mich darauf verlassen, dass Ihr meine Schwester sicher wieder zurück bringt?“

„Natürlich,“ erwiderte Éomer automatisch, doch Amrothos hatte ihren unsicheren Außenposten bereits verlassen und sprang auf den Stein neben ihnen.

Lothíriel sah aus, als wäre sie vom plötzlichen Aufbruch ihres Bruders ziemlich überrascht, aber dann zuckte sie bloß die Achseln. „Macht nichts. Vielleicht hat er einen seiner Freunde gesehen.“

Éomer wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Paketen zu, die er bei sich trug und wickelte die Boote sorgsam aus dem Sackleinen, das der Händler mitgeliefert hatte. Die Kerzen hatten sich gelöst, und er musste sie wieder in ihren Halterungen befestigen.

„Möchtet Ihr anfangen?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann warten.“

Éomer kniete sich hin und zündete seine Kerze an, dann gab er Lothíriel die Fackel. Er starrte auf das Boot hinunter. Was sollte er sich wünschen? Liebe und Glück für Éowyn und Faramir – und doch schien das fast überflüssig zu sein. Die hungrigen Blicke, die die beiden heute gewechselt hatten, waren ihm nicht entgangen. Sie hatten eine lange Zeit auf die Erfüllung ihres Bundes gewartet. Übermorgen würde er die Hand seiner Schwester preisgeben, und sie würde Meduseld nicht länger ihr Zuhause nennen.

Friede und Gedeihen für das Volk der Mark, dachte er, und für sich selbst genug Kraft und Weisheit, um ein guter König zu sein. Als er sein zerbrechliches Gefährt ins Wasser gleiten ließ, schickte er ihm einen letztem, selbstsüchtigen Wunsch hinterher: ein wenig Glück für mich selbst.

Er kam sich leicht närrisch vor, während er mit angehaltenem Atem darauf wartete, ob sein Boot sinken oder schwimmen würde. Immerhin hatte er nie viel von Aberglauben gehalten. Doch der Fluss behandelte ihn mit Freundlichkeit; er trug seinen Boten an die Valar in seiner sicheren Umarmung mit sich davon.

Die Prinzessin fragte ihn nicht, was er sich gewünscht hatte, und Éomer erzählte es ihr nicht von sich aus. Statt dessen half er ihr, ihre eigene Kerze anzuzünden und wartete in stiller Kameradschaft, als sie an der Reihe war und am Rand des Wassers nieder kniete.

Für einen Moment ließ sie ihre Finger auf den beiden hölzernen Seeleuten ruhen, die auf das Hauptdeck geleimt waren, dann ließ sie ihr Boot mit einer anmutigen Geste zu Wasser.

„Geh!“ flüsterte sie.

Lothíriel blieb lange reglos, wo sie war, die Augen geschlossen, als könnte sie den Weg ihres Bootes auf diese Weise verfolgen. Das Wasser leckte sachte an dem Stein, auf dem sie standen, und Éomer hieß die Liebkosung der kühlen Nachtluft nach der Hitze des Tages willkommen. Er spürte, wie einiges von der Anspannung dieses unerfreulichen Nachmittages aus ihm heraus sickerte.

Er berührte sie sanft an der Schulter. „Und was habt Ihr euch gewünscht?“

Als er ihr zuerst begegnet war, wäre ihm die Antwort auf diese Frage so offensichtlich vorgekommen, dass er sie gar nicht erst gestellt hätte. Aber dank der Art, wie Lothíriel seinen Erwartungen ständig widersprach, war er sich nicht mehr sicher.

Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. „Heutzutage habe ich nur bescheidene Wünsche.“

Es traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Sie sollte nicht dort sitzen, leicht verloren aussehen und sich bescheidene Dinge wünschen. Sie sollte der Welt ins Gesicht lachen und verlangen, dass sie ihr alles schenkte, was sie haben wollte, denn das war ihr Geburtsrecht.

Mit einem Fluch warf er die Fackel ins Wasser und bückte sich, um sie auf die Beine zu ziehen.

„Tut das nicht,“ sagte er grob.

Sie schwankte und musste sich an ihm festklammern, verblüfft von seinem plötzlichen Betragen. „Was meint Ihr damit?“

Er packte sie an den Schultern. „Lasst nicht zu, dass sie Euch Eure Träume nehmen. Wünscht Euch das ausgefallenste Ding, das Euch einfällt. Bittet um den Mond!“

Ihre Hände ruhten flach auf seiner Brust, und sie schaute zu ihm auf, die Augen blicklos, doch riesig und verlockend. Ein scheues Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus. „Vielleicht werde ich das.“

Éomer starrte auf sie nieder; er fühlte sich, als sähe er sie zum ersten Mal. Zarte, blasse Haut, bodenlos tiefe Augen, von langen Wimpern umkränzt, eine einzelne Haarsträhne, die den Beschränkungen ihrer Frisur entkommen war und sich an ihrer Wange kräuselte. Unwillkürlich glitten seine Hände um ihren Rücken und zur sanften Rundung ihrer Taille hinab. Lothíriel wich nicht zurück.

Sie legte den Kopf schräg. „Und was wünscht Ihr Euch, Éomer?“ Die Worte waren kaum lauter als ein Flüstern. Wie rot und einladend ihre Lippen aussahen.

Wo war dieser Gedanke her gekommen? Plötzlich durchfuhr ihn das Verlangen, sie zu küssen, und es nahm ihm mit seiner Dringlichkeit den Atem. Obwohl er wusste, dass er kein Recht dazu hatte, hielt er sie noch fester. Mit einem zufriedenen kleinen Seufzer lehnte sie sich an ihn. Weich und warm. Geschmeidig und nachgiebig.

Die Tochter eines seiner besten Freunde, erinnerte ihn ein Teil seines Verstandes, und eine Prinzessin von Gondor. Niemand, mit dem man leichtfertig herumtändelte. Er hob eine Hand, legte sie um ihre Wange und strich mit dem Daumen über ihre Lippen. Ihre Haut lag unter seinen Fingern wie die glatteste Seide. Eine blinde Frau, die bedingungslos auf seine Ehre vertraute. Lothíriel.

Er rang darum, seine aufgewühlten Empfindungen zu bemeistern. „Wir sollten zurückgehen. Euer Vater wird schon auf Euch warten.“

„Wahrscheinlich...“ Allerdings machte sie noch immer keinerlei Anstalten, sich ihm zu entziehen. Das Ende ihres Zopfes streifte seinen Handrücken und zog eine feurige Spur. Er konnte sie einfach nicht loslassen. Er konnte nicht.

„Ein Unterpfand,“ hauchte er mit rauer Stimme.

„Ein Unterpfand?“

Seine Hände waren bereits damit beschäftigt, das Band aus ihrem Haar zu winden. „Darf ich später meine Belohnung beanspruchen?“ Der Versuch, es leicht zu nehmen. Völlig umsonst.

„Ja.“

Sie lächelte mit vollkommener Unschuld zu ihm auf, als er seine Beute in die Tasche steckte; er kam sich vor wie ein Räuber, der sich mit unrechtmäßig erworbenem Diebesgut davonmachte. Hatte sie überhaupt begriffen, was zwischen ihnen vorgegangen war?

Lautes Klatschen und Jubel stieg vom Ufer auf, und er zuckte zusammen. Er warf einen Blick über seine Schulter nach hinten. Faramir und Éowyn hatten gerade ihr Boot zu Wasser gelassen.

Er wandte sich wieder der Frau in seinen Armen zu; sein Körper schirmte sie von den neugierigen Blicken der Zuschauer ab. Und doch war er sich ihrer überaus bewusst, und auch seiner Wachen, die am Flussufer auf ihn warteten. In letzter Zeit schien es vor ihnen kein Entkommen zu geben.

Zögernd ließ er sie los; nur noch eine Hand hielt er fest. „Lasst mich Euch zurück ans Ufer helfen.“

Sie nickte, einen Ausdruck kindlichen Zutrauens auf dem Gesicht, während sie ihm von einem Stein zum nächsten folgte und blindlings dorthin trat, wo immer er es ihr sagte. Als sie die Treppe erreichten, stand Imrahil dort und wartete auf sie, einen Umhang über dem einen Arm und Lothíriels Stiefel in der anderen Hand.

Er warf ihnen einen durchbohrenden Blick zu. „Da seid ihr ja!“

Éomer wagte es nicht wirklich, seinen Augen zu begegnen, und er hoffte inbrünstig, dass der ältere Mann nicht imstande war, ihm die unkeuschen Gedanken, die er über seine Tochter hegte, vom Gesicht abzulesen. Einen dieser Tage würden seine verrückten Regungen ihn noch in Schwierigkeiten bringen.

Imrahil reichte Lothíriel die Stiefel und sagte ihr, sie solle sie anziehen. Zögernd gab Éomer ihre Hand frei, damit sie sich auf die Steinstufen setzen konnte. Er konnte nicht umhin zu bemerken, dass sie lange, wohlgeformte Beine hatte. Als er wieder aufschaute, war der Blick in Imrahils Augen nicht länger kühl, sondern ausgesprochen frostig.

Der Fürst half seiner Tochter auf die Beine und hüllte sie in den Mantel. „Es ist spät, Lothíriel. Zeit, nach Hause zu gehen.“

Éomer trat einen Schritt vor. „Werde ich Euch morgen sehen?“ Er erinnerte sich schwach daran, dass irgendein Edelmann aus dem Süden eine Unterhaltung für Faramir und Éowyn plante.

Sie nickte. „Ich werde bei Herrn Girion sein.“

Imrahil zog ihre Hand durch seine Armbeuge. „Wir wollen erst sehen, wie du dich morgen früh fühlst.“

Sie tätschelte ihm liebevoll den Arm. „Ja, natürlich.“ Dann wandte sie sich Éomer zu und streckte ihre Hand aus. „Bis morgen.“

Éomer, dem bewusst war, dass Imrahils intensiver Blick sich in ihn hinein bohrte, drückte ihr einen leichten Kuss auf die Knöchechtung. „Gute Nacht.“

l. Wie zufällig ließ er einen Finger über ihre Handfläche gleiten. Zitterte sie ganz leicht? „Bis morgen, meine Herrin.“

Imrahil zog sie mit sich davon und nickte kühl in Éomers Richtung. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Während die Gruppe aus Dol Amroth sich auf den Weg die Treppe hinauf machte, folgte Éomer ihnen mit den Augen. Auf der obersten Stufe warf Lothíriel einen Blick über die Schulter nach hinten. Éomer hatte keine Ahnung, wie sie das anstellte, aber ihre Augen schienen zielsicher die seinen zu finden. Sie schenkte ihm ein Lächeln.

Und dann erinnerte er sich daran, dass sie ihm ihren Wunsch nicht verraten hatte.

*****

Muzgâsh winkte einen seiner Diener zu sich. Die oberste Stufe der Steintreppen bot einen wunderbaren Aussichtspunkt, auch wenn das einfache Volk von dem Teil des Ufers ferngehalten wurde, wo der König von Gondor und seine Gäste ihre Boote zu Wasser ließen.

Er deutete auf Fürst Imrahil. „Die Frau bei dem Fürsten. Finde heraus, wer sie ist.“

Sein Mann verneigte sich und verschwand in der Menge. Muzgâsh befingerte sein Boot. Eine Weile zuvor hatte er es als Vorwand benutzt, in die Nähe des Königs von Rohan zu gelangen, aber die Wachen hatten ihn abgewiesen. Wachen! Der Mann schien sich ohne sie nirgendwo hin zu bewegen. Wenigstens war Muzgâsh dieses Mal nicht beobachtet worden. Er fragte sich immer noch, was den Mann am Morgen auf dem Jahrmarkt dazu gebracht hatte, sich ausgerechnet in diesem Moment umzudrehen. Eindeutig ein Feind, den man nicht unterschätzen durfte.

Nichtsdestoweniger hatte sich der Abend als lehrreich erwiesen – tatsächlich als sehr lehrreich. Selbst in dem unsicheren Licht, das die Fackeln warfen, war etwas an der Art gewesen, wie der König von Rohan kurz die Frau berührt hatte, das für Muzgâsh von mehr sprach als von bloßer Höflichkeit. Vielleicht hatte er soeben die Schwachstelle in der Rüstung seines Gegners gefunden?

Lautlos tauchte sein Diener wieder neben ihm auf.

„Die Frau?“ fragte Muzgâsh.

„Die Tochter des Fürsten Imrahil von Dol Amroth. Sie ist blind. Ihr Name - “

Muzgâsh schnitt ihm mit einer scharfen Geste der Hand das Wort ab. „Ich kenne ihren Namen.“

Lothíriel. Soviel hatte er sich schon gedacht, als er die schützende Weise gesehen hatte, mit der der Fürst den Umhang um sie legte.

„Wie passend,“ flüsterte er.

„Mein Prinz?“ Der Mann schaute verwirrt drein.

Muzgâsh winkte ihn weg. „Nur ein wenig alte Familiengeschichte.“

So. Das Brett war aufgestellt, die Figuren benannt und an der richtigen Stelle, und das Spiel konnte beginnen. Er würde seine ersten Züge machen, ohne dass sein Gegner auch nur eine Ahnung von der Tatsache hatte, dass er in die Ecke getrieben wurde. Muzgâsh war ein ausgezeichneter Schachspieler.

Langsam machte er sich auf den Weg hinunter zum Anduin, um sein Feuerboot zu Wasser zu lassen. Es hätte verdächtig ausgesehen, wenn er es nicht getan hätte. Ein fetter Händler lieh ihm eine Fackel, damit er seine Kerze anzünden konnte,und Muzgâsh zwang sich, den Mann freundlich anzulächeln. Er kniete sich am Rand der Stufen hin und setzte sein Boot ins Wasser. Seine eigenen Götter waren weit kriegerischer als diese blutlosen Elbengötzen, doch man konnte nie wissen. Tod, dachte er, als der Fluss seine Gabe in seiner sanften Strömung davon trug.

Tod.

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Anmerkung der Übersetzerin:

*topplastig bedeutet, dass der Gewichtsschwerpunkt eines Schiffes zu weit oben liegt, was bedeutet, dass es leichter kentern oder umschlagen kann.


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