Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Sechzehn
Von Schmetterlingen

Die, die nicht lügen, werden es schwierig finden, Falschheit zu erspüren.
Das ist ihre Schwäche.
Die, die lügen, werden es schwierig finden, die Wahrheit zu erkennen.
Das ist ihre Schwäche.

(Sprichwort aus Gondor)

Lothíriel genoss das Gefühl der festen Muskeln unter ihren Händen; gebändigte Kraft, die zeitweilig ruhte, doch bereit dazu war, jeden Moment hervor zu brechen. Sie flüsterte Zärtlichkeiten und ließ ihre Finger forschend an dem langen Rücken entlang gleiten. Samtweich und doch von Stärke durchdrungen, strahlte er Hitze aus. Bei der allerersten Berührung vor zwei Tagen war ein Stück von ihrem Herzen angenommen worden, im Austausch für das Versprechen von Freiheit und Gelächter.

Sie streichelte die breite, mächtige Brust. Warmer Atem umschmeichelte ihre Wange, und sie langte hinauf und vergrub ihre Finger in langem Mähnenhaar.

„Du bist so wunderschön,“ seufzte sie.

Winterhauch schnaubte, als wollte sie zustimmen und stupste Lothíriel sanft mit dem Kopf an. An ihre Pflicht erinnert, machte sich Lothíriel wieder daran, die Stute mit langen, gleichmäßigen Strichen zu striegeln.

Rings um sich her hörte sie, wie sich das frühmorgendliche Ritual der Ställe vollzog: Stallburschen, die miteinander sprachen, während sie die Pferdeunterstände reinigten, das Rattern einer Schubkarre auf den Pflastersteinen draußen, das Knirschen der Brunnenkette, während Eimer mit frischem Wasser für die Pferde herauf gezogen wurden. Beruhigende Geräusche, die die Ruhe in ihrem eigenen, kleinen Winkel nicht störten. Sie lehnte sich in ihre Striche hinein, entschlossen, dass Winterhauch das am besten gepflegte Pferd in den Ställen ihres Vaters sein sollte.

Sie genoss ihr Werk durch und durch, und sie wusste, dass es keinen besseren Weg gab, um ihr neues Pferd kennen zu lernen, als für Winterhauchs tägliche Bedürfnisse zu sorgen. Zuerst war Fürst Imrahils Stallmeister entsetzt gewesen, die Tochter seines Herrn mit Bürste und Striegelkamm zu sehen, doch als sie ihm klar machte, dass der König von Rohan höchstpersönlich ihr den Rat gegeben hatte, dies zu tun, kapitulierte er.

Lothíriel begann, eine Rohirric-Melodie zu summen, während sie arbeitete, widerstand jedoch der Versuchung, ein paar Tanzschritte zu machen. Sie war bereits am Abend zuvor mit dem Schienenbein gegen ihrem Nachttisch geprallt, während sie das tat, und hatte sich äußerst schmerzhaft einen Zeh angestoßen. Hareth hatte sie dafür gescholten, dass sie nicht vorsichtiger war, wenn auch nur halbherzig; die glückliche Stimmung ihrer Herrin hatte sie angesteckt. Die Zofe ahnte natürlich nicht, was dafür verantwortlich war, obwohl Lothíriels Bitte, das schönste Reitkleid für diesen Nachmittag bereit zu legen, vielleicht ein Hinweis gewesen sein mochte.

Die Tür zu Winterhauchs Unterstand knarrte, und Lothíriel wandte sich in die Richtung des Geräusches. Sie hatte den Schritten, die sich draußen auf dem Gang hin und her bewegten, keine Aufmerksamkeit gewidmet. Einer der Stallburschen, der frisches Heu brachte? Doch sie wurde von ihrem Vater begrüßt.

Er küsste sie leicht auf die Wange. „Du bist früh auf den Beinen, Tochter.“

Sie nickte zu Winterhauch hinüber. „Ich wollte ein wenig Zeit mit meinem neuen Pferd verbringen.“

Lothíriel konnte hören, wie er der Stute den Hals tätschelte. „Ein sehr großzügiges Geschenk von Frau Éowyn.“

„Sie ist schön,“ sagte Lothíriel zustimmend; die ganze Zeit über fragte sie sich, wieso ihr Vater sie wohl schon so früh aufsuchen mochte. Bei seinem nächsten Satz ging ihr ein Licht auf.

„Lothíriel, ich habe mir gedacht, dass du dir heute Ruhe gönnen solltest.“ Bevor sie protestieren konnte, legte er ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Du weißt, morgen ist die Hochzeit, und du wirst all deine Kraft nötig haben, um dich durch den langen Tag zu bringen.“

„Vater, ich bin keine schwächliche Invalidin!“ Sie hätte hinzufügen können, dass sie auch nicht dumm war und einen Vorwand erkannte, wenn sie ihn hörte.

„Natürlich nicht. Aber es gefällt mir nicht zu sehen, dass du dich mit all diesen Tänzen und Ausflügen verausgabst. Immerhin sind wir nach dem langen Ritt von Osgiliath gestern erst spät nachts nach Hause gekommen. Glaub mir, ich habe nur dein Wohl im Sinn.“

Hatten sie das nicht alle? Manchmal kam es Lothíriel so vor, als sei sie einzig von Leuten umgeben, die samt und sonders „nur ihr Wohl“ im Sinn hatten. Alle dachten, sie wüssten besser als sie selbst, was sie mit ihrem Leben anzufangen hatte, und keiner von ihnen machte sich die Mühe, sie nach ihrer Meinung zu fragen. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater es gut mit ihr meinte. Nebenbei würde eine scharfe Antwort von ihrer Seite für ihn nur sein Recht bestätigen, sie wie ein kleines Kind zu behandeln.

Sie begann wieder, Winterhauch mit langen, gleichmäßigen Strichen zu striegeln. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. „Ich bin überhaupt nicht müde. Ich werde zurecht kommen.“

Tatsächlich fühlte sie sich, als könnte sie den ganzen Tag durchtanzen. Wenigstens mit einem bestimmten Reiter von Rohan. Allerdings würde es wohl besser sein, das ihrem Vater gegenüber nicht zu erwähnen. Die unvernünftige Feindseligkeit, die er Éomer am vergangenen Abend entgegen gebracht hatte, war ihr nicht entgangen.

„Nichtsdestoweniger,“ beharrte ihr Vater, „denke ich, es ist das Beste, das du heute nicht ausgehst.“

Hatte nicht ein großer König geschrieben, dass Angriff die beste Verteidigung war? Lothíriel beschloss, den Ratschlag auszuprobieren. „Ich habe es Éomer versprochen, dass ich heute Nachmittag bei Herrn Girion sein werde.“

„Lothíriel...“ Ihr Vater klang ungewöhnlich zaudernd. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

Sie duckte sich unter Winterhauchs Hals hindurch und fing mit der anderen Seite an. „Das musst du nicht. Ich kann selbst auf mich Acht geben.“

Ihr Vater kam ihr nach. „Ich mache mir Sorgen, dass du dein Herz an etwas gehängt hast, das du nicht haben kannst.“

„Was zum Beispiel?“ forderte sie ihn heraus. Jetzt stießen sie allmählich zum Kern der Sache vor.

Wieder berührte er sie an der Schulter. „Tochter, ich weiß, Éomer ist sehr freundlich zu dir gewesen. Auch ist er anziehend und sieht gut aus. Aber...“

„Aber?“ Ihre kräftigen Striche ließen nicht nach. Es würde auch nicht ein Staubkörnchen in Winterhauchs Fell übrig bleiben, wenn sie mit ihr fertig war.

„Aber er ist wie eine hell brennende Flamme, die die armen Motten anzieht – nur, damit sie sich in sein Feuer stürzen.“

Eine Motte – war es das, wofür ihr Vater sie hielt? Ein eintöniges Geschöpf aus der Finsternis? Sie musste eine zornige Entgegnung hinunter schlucken und wandte das Gesicht ab, damit er den Ausdruck darauf nicht sah.

„Es ist nicht sein Fehler,“ versicherte ihr Vater. „Es geschieht einfach dadurch, wer und was er ist.“

Lothíriel erinnerte sich daran, wie Éomers Hände auf ihrem Rücken geruht hatten, warm und sicher, sie an sich zogen, sie schützend hielten. Es war gewesen, als käme man an einem kalten, windigen Wintertag nach Hause und fände ein loderndes Feuer vor, das einen mit seiner Wärme willkommen hieß. Ein Ort, wo sie hin gehörte. Bittet um den Mond -

„Ich bin keine närrische Motte.“ sagte sie ruhig.

„Liebstes, das habe ich auch nicht gesagt. Für mich bist du wahrhaftig ein lieblicher Schmetterling.“

Ein Schmetterling. Lothíriel war sich nicht sicher, ob sie das im Vergleich zu einer Motte als Verbesserung betrachtete.

Ihrem Vater schien nicht aufzufallen, dass mit ihren Schweigen etwas nicht stimmte. „Du bist so jung und unerfahren. Ich möchte nicht um alles in der Welt, dass du verletzt wirst.“

Lothíriel holte tief Atem. Sie würde nicht gut daran tun, ihren Vater daran zu erinnern, dass es dafür acht Jahre zu spät war. Oder dass sie sich selbst als erwachsene Frau betrachtete, obwohl sie natürlich vor ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr ihre Volljährigkeit nicht erreichen würde.

Sie bemühte sich sehr um einen vernünftigen Ton. „Vater, du machst dir unnötig Sorgen. Éomer würde mir niemals weh tun.“

„Oh, nicht mit Absicht, da bin ich sicher. Doch vielleicht ist ihm nicht einmal klar, dass die Gunst, die er dir erweist – auch wenn das möglicherweise in Rohan nichts Ungewöhnliches ist – hier in Gondor einen schlechtes Licht auf deinen Ruf wirft.“

Lothíriel fragte sich, was ihr Vater bei der Feuerboot-Zeremonie gesehen hatte. Es war doch sicher zu dunkel gewesen, um irgendetwas zu erkennen?

„Es ist gar nichts passiert,“ protestierte sie. Bis jetzt, fügte eine verräterische Stimme in ihrem Geist hinzu. Sie hatte jede Absicht, dem König von Rohan zu gestatten, dass er sich die traditionelle Auslöse für sein Band von ihr holte. Éowyn hatte ihr aus gegebenem Anlass den Brauch erklärt und hinzugefügt, dass keiner der Rohirrim daran denken würde, sie von einer fremden Prinzessin einzufordern. Nun, einer von ihnen würde es tun.

„Lothíriel, du kannst nicht den halben Abend mit einem Mann in den Gärten verschwinden und dann nicht damit rechnen, dass die Hoftratschbasen sich daraus einen großen Tag machen. Und letzte Nacht – ich weiß, die Sitten in Rohan mögen anders sein, aber offen gesagt, die Art, wie er dich angesehen hat, war höchst unziemlich.“

Anstatt entsetzt zu sein, stellte Lothíriel fest, dass sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete. „Wirklich?“

„Wirklich,“ wiederholte ihr Vater, seine Stimme voller Missvergnügen. „Ich habe die Absicht, ihn zur Rede zu stellen.“

Jäher Schrecken durchfuhr Lothíriel. Sie wollte nicht, dass der Fürst von Dol Amroth in ihren Angelegenheiten herum trampelte wie ein wütender Mûmak. „Oh Vater, bitte tu das nicht!“

„Ich bin entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, denn es kann nichts Gutes dabei herauskommen.“ Ihr Vater nahm ihren Arm und drehte sie sanft zu sich herum. „Lothíriel, dir ist doch klar, dass er dich nicht zu seiner Königin machen kann.“

So weit hatte sie nicht gedacht; sie hatte einfach die Erinnerung daran genossen, in seinen Armen gehalten zu werden, an die zärtliche Art, wie er ihr Gesicht berührt hatte, an die Schauder des Vergnügens, die ihr den Rücken hinab gerast waren.

„Wieso denn nicht?“ flüsterte sie.

„Lothíriel...“ Altes und neues Leid lagen in seiner Stimme. „Die Königin von Rohan ist mehr als nur ein schmückendes Beiwerk für den Thron. Von ihr wird erwartet, an ihres Ehemannes Statt zu herrschen, wann immer er abwesend ist. Wie könnte eine blinde Frau wohl darauf hoffen, ein Volk von solch grimmigen Kriegern zu regieren?“

Sie schluckte. „Hat Éomer so etwas zu dir gesagt?“ Hatte er nur mit ihr gespielt? Plötzlich war sie sich schmerzhaft ihres Mangels an Erfahrungen bewusst, was die Dinge des Herzens anging.

„Nein.“

Lothíriel fühlte sich, als könnte sie wieder atmen. Sie rief sich den rauen Klang von Éomers Stimme ins Gedächtnis, und wie widerwillig er ihre Hand losgelassen hatte. Sicherheit erfüllte sie, dass sie sich nicht in ihm geirrt hatte. Doch bevor sie antworten konnte, hörte sie rennenden Schritte draußen auf dem Gang, und die Tür zum Unterstand flog mit einem Knall auf. Winterhauch fuhr zusammen und wieherte heftig, und Lothíriel wirbelte herum, um sie zu besänftigen.

„Alphros!“ schalt ihr Vater.

„Oh Großvater, du bist das! Tut mir Leid, dass ich das Pferd erschreckt hab. Aber Mutter schickt mich her, um Tante Lothíriel zu holen.Wir haben Besucher im Garten.“

Die Stute war wieder zur Ruhe gekommen. Lothíriel murmelte leise ermutigende Worte und streichelte sie sachte, dann wandte sie sich ihrem Neffen zu. „Besucher?“

„Tante Wilwarin und Großmutter Silivren.“

Lothíriel sank das Herz. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

„Na schön,“ nickte sie. „ich komme.“

Doch vorher drehte sie sich zu ihrem Vater um. „Bitte, darf ich heute Nachmittag Herrn Girion besuchen?“

Als er nicht sofort antwortete, streckte sie zögernd die Hand aus und nahm seinen Arm. „Es ist wichtig, und ich weiß, was ich tue. Vertraust du mir... bitte?“

Er seufzte. „Du weißt, wie schwierig ich es finde, dir etwas abzuschlagen. Also gut.“

Sie umarmte ihn rasch. „Dankeschön!“

„Aber ich werde dich begleiten, und deine Brüder ebenfalls.“

Was dachte er denn, wie viele Aufpasser sie nötig hatte? Sie hätte es vorgezogen, nur Amrothos mitzunehmen, aber sie wusste es besser, als Widerspruch einzulegen. „Fein.“

Nachdem sie einem der Stallburschen die Bürsten zurückgegeben und sich rasch Gesicht und Hände gewaschen hatte, ließ sich Lothíriel von Alphros in die Gärten führen. Ihr Neffe hüpfte neben ihr her und schwatzte fröhlich, aber sie stellte fest, dass ihre Gedanken wanderten. Sie hatte nur eine überaus vage Vorstellung davon, was Herr Girion zu ihrer Unterhaltung geplant hatte; allerdings war irgendeine Art Jagd erwähnt worden, und sie konnten doch sicherlich eine Möglichkeit finden, sich davon zu stehlen. Vielleicht konnte man Amrothos dazu überreden, ihnen zu helfen. Die geistige Vorstellung, was Éomer wohl sagen und tun würde, erfüllte sie mit glücklicher Vorfreude.

„... das machst du doch, nicht wahr, Tante Lothíriel?“ Alphros Stimme brach in ihre Tagträume ein.

„Entschuldigung – was mache ich?“

„Hast du denn nicht zugehört?“ fragte er sie anklagend. „Ich sagte: kannst du den König von Rohan fragen, ob ich einen Zahn von dem Warg haben kann, der uns angegriffen hat?“

„Von dem Warg? Ist das dein Ernst?“

„Minardil glaubt nicht, wie groß der war, also hab ich gesagt, ich besorge mir einen Reißzahn, um es ihm zu beweisen.“

Lothíriel erinnerte sich daran, dass sie Minardil an ihrem ersten Abend begegnet war, seinem besten Freund und Sohn von Alphros persönlicher Leibwache.

„Nun, ich kann es versuchen,“ sagte sie.

„Gut! Das wird es ihm zeigen!“ Sie hatte den Eindruck, dass für ihren Neffen der Schrecken des Vorfalles bereits nachgelassen hatte; er war zu einer Geschichte geworden, in der er die Rolle des Helden spielte.

Sie lächelte auf ihn hinunter. „Ich werde fragen, aber wohlgemerkt – ich bin nicht sicher, ob die Reißzähne aufgehoben wurden.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Er klatschte in die Hände. „Danke! Wusstest du, dass Vater gesagt hat, dass ich heute Nachmittag auf die Jagd mitkommen darf? Und Minardil auch!“

Lothíriel musste über seine Begeisterung lächeln, als er ihr eifrig von seinem Plan erzählte, der größte Jäger von Mittelerde zu werden, sobald er groß geworden war. Das hielt ihn beschäftigt, bis sie die Gärten erreichten.

„Hier sind sie!“ verkündete er.

Lothíriel wurde höchst liebenswürdig von den Damen Wilwarin und Silmarien begrüßt.

„Meine liebe Prinzessin Lothíriel,“ rief Annarimas Mutter aus, „wie geht es Euch heute? Setzt Euch doch und plaudert mit uns.“ Ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm sie Lothíriel beim Ellenbogen und führte sie zu einer Bank.

Lothíriel zwang sich, zu ihren Gästen höflich zu sein und unterdrückte den Drang, sie abzuschütteln. Die Herrin Silivren ließ sich neben ihr nieder, von einer übelkeiterregenden Parfumwolke umgeben. „Der Sonnenschein ist Euch nicht zu heiß? Möchtet Ihr gern, dass ein Dienstbote ein Kissen für Euch holt?“

Lothíriel holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Danke. Es geht mir gut.“ Sie war nur allzu gewöhnt daran, dass man sie wie eine Mischung aus einem schwachsinnigen Kind und einer kränklichen Invalidin behandelte.

„Lothíriel, was hast du getan?“ fragte Annarima. „Dein Kleid ist mit grauen Haaren bedeckt.“

„Oh!“ Natürlich hätte sie hingehen und ihre Kleidung wechseln sollen, aber sie war mit den Gedanken woanders gewesen. Obendrein hatte Hareth ihre älteste Tunika für die Arbeit in den Ställen heraus gesucht. Lothíriel beschloss, die Sache eisern durchzustehen. „Ich habe Winterhauch gestriegelt.“

Es war nicht nötig, sehen zu können, um sich die verächtlichen Blicke vorzustellen, die bei ihren Worten hin und her gingen. Nach einer kurzen, angestrengten Stille lenkte Annarima die Unterhaltung glücklicherweise auf den Klatsch über die anderen Mitglieder von König Elessars Hof. Lothíriel lehnte sich zurück und ließ ihre Gedanken zu angenehmeren Dingen hinüber wandern, während sie höfliches Interesse vorschützte. In der Vergangenheit wäre sie tief verlegen gewesen, wenn man sie in alten und schmutzigen Kleidern erwischt hätte. Heute konnte sie das einfach abtun – so, als wäre ihr eine Art unsichtbarer Rüstung gegen solch kleinliche Ärgernisse geschenkt worden.

Der arme Alphros musste auf dem Schoß seiner Großmutter sitzen und sich hätscheln lassen, während alle Einzelheiten des Warg-Angriffes in sämtlichen erschöpfenden Einzelheiten wiedergekäut wurden. Irgendwie schien das Mitgefühl der Herrin Silivren hauptsächlich bei Annarima zu liegen, obwohl die in Ohnmacht gesunken war und den Kampf überhaupt nicht gesehen hatte. Guthláfs Schicksal schien vollkommen vergessen zu sein.

Die Herrin Wilwarin hatte sich auf der anderen Seite neben sie gesetzt. Jetzt beugte sie sich herüber und berührte sie leicht am Arm. „Sagt, würdet Ihr gern mit mir einen Rundgang um den Garten machen?“

Lothíriel zögerte einen Moment, doch das Verlangen, der überheblichen Aufmerksamkeit der Herrin Silivren zu entkommen, wog schwerer als ihr Widerwille, Wilwarins Gesellschaft hinzunehmen, also stimmte sie zu.

Da sie ihren Gehstock mit sich führte, hatte Lothíriel keine Schwierigkeiten, den Weg zu finden; nichtsdestotrotz bestand Wilwarin darauf, sich bei ihr einzuhaken. „Wir können hübsch und gemütlich miteinander plaudern,“ lachte sie.

Sobald sie außer Hörweite der anderen waren, lehnte sie sich dichter heran. „Liebe Lothíriel, Ihr habt keine Vorstellung, wie glücklich ich bin.“

„Seid Ihr das?“ fragte Lothíriel vorsichtig.

„Er hat gesagt, ich soll es Euch sagen, da er Euch als seine liebe Freundin betrachtet.“

„Er?“ Wieso hatte sie so ein übles Gefühl in der Magengrube?

„Éomer.“ Wilwarin verstand es, aus dem Namen eine honigsüße Zärtlichkeit zu machen. „Er ist solch ein liebenswerter Mann, nicht wahr, und so freundlich und ritterlich.“

„Mir was sagen?“ unterbrach Lothíriel sie rüde.

„Éomer hat mich gebeten, ihn zu heiraten.“

Lothíriel blieb abrupt stehen und entriss ihr den Arm. Eine kalte Hand krampfte sich um ihr Herz. „Das kann nicht sein!“

Wilwarin schien ihre Erregung nicht bemerkt zu haben. „Ich konnte es selbst nicht glauben,“ plauderte sie, „doch letzte Nacht begleitete er mich nach Hause, und dann machte er mir einen Antrag. Es war so romantisch, das Mondlicht und die Sterne über uns...“ Sie seufzte. „Er sieht so gut aus! Nun, natürlich könnt Ihr das nicht wissen, aber Ihr dürft mich beim Wort nehmen.“ Sie kicherte.

Lothíriel begann, sie zu hassen.

„Meine Mutter meint, die Hälfte der Frauen von Rohan und Gondor sind heimlich in ihn verliebt,“ fuhr Wilwarin mit einem Lachen fort.

Lothíriel spürte, wie das Fundament ihres Glücks zerbröckelte gleich einer Sandburg, die von der steigenden Flut überspült wurde; die Zerstörung kam rasch und unausweichlich. Nein! Es konnte nicht wahr sein. Wilwarin musste sich irren – oder aber sie log. Verzweifelt versuchte Lothíriel, sich auf die Stimme der anderen Frau zu konzentrieren und durch das Hämmern des Blutes in ihren Ohren Wahrheit von Trug zu unterscheiden. Wenn sie nur ihr Gesicht sehen könnte!

„Natürlich ist es eine schwere Verantwortung, doch Éomer hat mich am Ende überzeugt; er sagte mir, wie lange er nach einer würdigen Königin gesucht hat. Kennt Ihr Marschall Elfhelm?“

Lothíriel, die ihrer Stimme nicht traute, nickte stumm.

„Er hat mir gesagt, dass man von der Königin von Rohan erwartet, an der Seite ihres Gatten zu herrschen, und in seiner Abwesenheit als Vizekönig zu handeln.“

Auf schreckliche Weise knüpfte das daran an, was ihr Vater ihr erzählt hatte. Doch wie konnte Éomer auch nur einen Moment glauben, dass jemand wie Wilwarin eine passende Königin abgeben würde? Passender als ich jedenfalls, denn sie kann sehen, dachte Lothíriel bitter. Sie wandte sich ab und versuchte, ihre chaotischen Empfindungen halbwegs zu ordnen. In diesem Teil des Gartens wurden die Wege von Rosen gesäumt, die in dem warmen Wetter früh blühten. Ihr Duft schwängerte die Luft, so üppig, dass ihr davon beinahe übel wurde.

Sie war eine Närrin! Mehrere Male hatte Éomer ein Bündnis durch Heirat erwähnt, und sie hatte gewusst, dass er sich auf seine Pläne bezog, Wilwarin zu heiraten. Oh ja, sie wusste es, doch seine Berührung hatte sie all das vergessen lassen. Ein Gefühl tiefen Verrates erfüllte sie. Wenn er vorgehabt hatte, Wilwarin zur Frau zu nehmen, wieso hatte er sich am letzten Abend so verhalten, wie er es getan hatte?

Kiesel knirschten, während die anderen Frau auf sie zu trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Ich kann sehen, dass Ihr überrascht seid. Tatsächlich war ich es selbst, als Éomer mich bat, seine Frau zu werden. Ihr versprecht, es niemandem zu erzählen, nicht wahr?“

Noch immer hielt Lothíriel ihr Gesicht abgewandt. „Wieso nicht?“ Es schien ihr eine merkwürdige Bitte zu sein.

„Im Augenblick halten wir es noch geheim. Sehr Ihr, den Rohirrim gefällt die Vorstellung einer Königin aus Gondor nicht. Nur noch ein paar Tage, bis Éowyns Vermählung vorüber ist.“

Lothíriel erinnerte sich schwach daran, dass Éomer etwas Derartiges erwähnt hatte, als er sie mitgenommen hatte, um einen Blick auf Galador zu werfen. Ja, es passte alles zusammen.

An die Stelle des Verratenseins war eine dumpfe Betäubung getreten. Sie zuckte die Achseln. „Wie Ihr wünscht. Ich werde es niemandem erzählen.“

Wilwarins Gewand raschelte, als sie sich dichter zu ihr neigte. „Der liebe Éomer sagt, dass er Euch fast als Teil seiner Familie betrachtet, und dass er die frohe Nachricht mit Euch teilen möchte.“

In Lothíriel keimte ein schrecklicher Verdacht auf. „Er hat gesagt, Ihr sollt es mir mitteilen?“ fragte sie zaudernd.

„Oh ja. Er betrachtet Euch fast als Schwester.“

Eine Schwester? Das war keine brüderliche Berührung gewesen, letzte Nacht. Waren ihre Gefühle so durchsichtig gewesen, und dies war als Warnung von Wilwarin gemeint? Oder noch schlimmer – als freundlicher Hinweis von Éomer? Sie richtete sich auf und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht, bevor sie sich umdrehte.

„Meine Glückwünsche an Euch und König Éomer.“

„Danke. Ich werde Eure guten Wünsche weiterleiten.“

Lothíriel nickte. „Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt... ich muss mich für diesen Nachmittag fertig machen.“

„Natürlich.“ Die Befriedigung in Wilwarins Stimme konnte einem kaum entgehen.

Doch statt wieder ins Haus zu gehen, lenkte Lothíriel ihre Schritte zuerst weiter in den Garten hinein. Sie brauchte ein wenig Zeit für sich allein, bevor sie der Welt wieder ins Gesicht sehen konnte.

*****

„Wo ist Lothíriel?“ fragte Annarima ihre Schwester, als Wilwarin wieder zu ihnen trat.

„Sie ist hinein gegangen, um sich umzuziehen.“

Ihre Mutter lachte. „Nun, das war aber auch Zeit! Sie hat wie ein Stallmädchen ausgesehen, so voller Pferdehaar.“ Sie klopfte auf die Bank neben sich.“Komm und nimm Platz, meine Süße.“

Annarima betrachtete sie ganz genau. „Du siehst aus, als wärst du sehr mit dir zufrieden, Schwester.“

Wilwarin zögerte einen Moment. Ihr Blick fiel auf ihren Neffen, der noch immer mit gelangweiltem Gesichtsausdruck auf dem Schoß seiner Großmutter saß. Sie lächelte ihn an. „Alphros, mein Lieber, wieso rennst du nicht los und holst uns etwas zu Essen aus der Küche?“

Der Junge sprang auf und gehorchte bereitwillig. Wenn sie sich nicht sehr irrte, würden sie ihn einige Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Frau Silivren beugte sich vor. „Hast du uns etwas zu sagen?“

Wilwarin nickte und berichtete rasch, was soeben geschehen war.

„König Éomer hat dir einen Antrag gemacht?“ quietschte ihre Mutter.

„Nicht so laut!“ zischte Wilwarin. „Du weißt ganz genau, dass er das nicht hat.“

„Aber du sagtest doch gerade - “

Wilwarin verdrehte die Augen. „Mutter, manchmal bist du so schwer von Begriff! Siehst du denn nicht, dass ich etwas unternehmen musste? Du hast doch selbst eine Bemerkung über den verliebten Blick gemacht, den König Éomer Lothíriel gestern Abend zugeworfen hat!“

Sie hatte es selbst gesehen und in diesem Moment gewusst, dass – wenn sie nicht rasch handelte – ihre Aussichten, Königin von Rohan zu werden, zum Scheitern verurteilt waren. Während man sich auf Fürst Imrahils Widerspruch dagegen verlassen konnte, dass sein kleines Mädchen in die Fremde heiratete, dachte sie doch nicht, dass irgendetwas König Éomer den Weg versperren würde, wenn er sich wirklich entschieden hatte.

Annarima hatte stirnrunzelnd zugehört. „Also hast du gelogen?“

Wilwarin nickte kühl. „Ja.“ Sie wusste, dass ihre Schwester sie nicht verraten würde. „Oder möchtest du, dass sie Königin von Rohan wird?“

Als sie sah, dass Annarima zögerte, lächelte sie. „Lothíriel würde dich dann im Rang übertreffen, nicht wahr? Wie würde es dir gefallen, vor ihr den Hofknicks machen zu müssen und ihr den Vortritt zu lassen?“

„Es kommt mir trotzdem nicht richtig vor,“ widersprach Annarima. „Und was, wenn sie diese Sache König Éomer gegenüber erwähnt?“

„Das wird sie nicht. Die Prinzessin von Dol Amroth sollte zugeben, dass sie sich in einen Mann vergafft hat, nur damit der eine andere Frau um ihre Hand bittet? Doch selbst wenn sie es täte, würde ich einfach sagen, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Schließlich gab es keinerlei Zeugen.“

Wieder runzelte ihre Schwester besorgt die Stirn. „Es ist immer noch riskant.“

Wilwarin zuckte mit den Schultern. „Wenn man nichts wagt, gewinnt man auch nichts.“

Und sie hatte alles zu gewinnen, denn sie war entschlossen, nicht wie ihre Mutter zu enden – mit einem minderen Edelmann verheiratet und auf die Barmherzigkeit ihrer Tochter angewiesen, wenn sie ein Leben in angemessenem Wohlstand führen wollte.

Die Herrin Silivren klatschte in die Hände. „Wie klug du doch bist!“

Wilwarin lächelte. Sie hatte hoch gespielt und sich etwas Zeit erkauft. Alles, was sie jetzt brauchte, war ein weiterer Mondlicht-Spaziergang mit dem König von Rohan. In jener anderen Nacht hätte sie ihn soweit gehabt, wären diese törichten Edelleute nicht gewesen. Ein Kuss, ein halb gegebenes Versprechen reichte aus, um ihn in ihrer Schlinge zu fangen, denn er würde niemals von seinem Wort zurück treten. Männer und ihr dummes Ehrgefühl.

„Ich tue Lothíriel wirklich einen Gefallen,“ erklärte sie den anderen beiden Frauen, „denn Königin von Rohan kann sie kaum werden, oder?“

„Das ist wahr.“ Ihre Mutter nickte. „Nichts als Unglück würde sie in Rohan erwarten. Sie käme nie und nimmer zurecht.“

Wilwarin schob die Erinnerung an Lothíriels kummervolles Gesicht entschlossen beiseite. Als Prinzessin war sie sowieso nicht auf eine gute Partie angewiesen. Ohne Zweifel hatte ihr Vater bereits einen netten Edelmann aus Gondor für sie im Sinn, und der König von Rohan würde bald vergessen sein.

Ja, sie tat Lothíriel ganz eindeutig einen Gefallen.

*****

Der Garten des Stadthauses von Dol Amroth war nicht sehr groß, trotzdem gab es mehrere verborgene Ecken und Winkel. Lothíriel kannte sie alle. Sie saß zusammen gekauert in einer Nische der großen Mauer, den Stein kühl im Rücken, den Kopf auf die hoch gezogenen Knie gestützt. Geißblatt stand überall verschwenderisch in Blüte und verströmte seinen süßen Duft.

Sie würden mittlerweile fort sein, doch sie konnte sich immer noch nicht dazu überwinden, zum Haus zurück zu gehen. Sicherlich blieb noch ein wenig Zeit, ehe sie sich fertig machen musste, um sich ihrem Vater und ihren Brüdern für den gemeinsamen Ausflug anzuschließen. Wie sie sich wünschte, dass sie zugestimmt hätte, zu Hause zu bleiben! Konnte sie plötzliche Kopfschmerzen vorschützen? Doch das würde feige sein, und zweifellos ging Wilwarin davon aus, dass sie genau das tat. Nein, sie musste Éomer früher oder später gegenüber treten, also brachte sie es wohl besser hinter sich.

Lothíriel pflückte einen Geißblattzweig und fing an, die zarten Blütenblätter methodisch auseinander zu nehmen.

„Du bist eine vollkommene Närrin!“ sagte sie sich.

Sie war wohl kaum das erste Mädchen, das sich in den gut aussehenden König von Rohan verliebte. Zweifellos hatte er viele Fälle von Heldenverehrung zu Gesicht bekommen, und gemeint, ihr einen freundlichen Hinweis geben zu müssen. Nur, dass sie ihn nicht mochte, weil er ein Held war – davon gab es reichlich in ihrer eigenen Familie. Nein, er gefiel ihr seiner unbefangenen Freundlichkeit wegen, für seinen Versuch, zu verstehen, was es hieß, blind zu sein, dafür, dass er sie zum Lachen brachte. Doch sie würde über diese alberne Betörung hinweg kommen. Schließlich hatte sie ihn drei Tage zuvor noch nicht einmal gekannt, und sie war absolut glücklich gewesen. Sicherlich konnte sie in diesen Zustand seliger Ahnungslosigkeit zurückkehren.

Und doch wandte ihr Geist sich immer wieder der Erinnerung an die vergangene Nacht zu. Offenbar hatte sie dem Tonfall von Éomers Stimme zuviel Bedeutung beigemessen, hatte sich mitreißen lassen von dem Gefühl, als er sie in den Armen hielt. Hätte ein Blick in sein Gesicht ihr gesagt, dass er nur eine leichtherzige Tändelei im Sinn hatte? Sie seufzte. Immerhin hatte er nichts getan, als sich ein Band von ihr zu erbitten, so wie viele andere der Rohirrim. Er hatte nicht wissen können, dass sie ihm gleichzeitig ein Stück ihres Herzens geschenkt hatte.

Lothíriel erinnerte sich an eine Geschichte, die Hareth ihr erzählt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Ein König hatte sein Herz gegen einen Stein eingetauscht und Bänder aus Stahl und Eis darum geschlagen, um niemals Liebe oder Kummer zu fühlen. Als Kind hatte sie Mitleid für ihn empfunden.

Nun empfand sie Neid.


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