Die Äpfel der Hesperiden
von Cúthalion

Ich sah ihn an ihrem Grab stehen.

Ich war aus dem Haus gegangen, für einen Spaziergang, früh an einem frischen Morgen Ende August. Ich hatte mir angewöhnt, alleine zu laufen, weil das die Spinnweben aus meinem Kopf verscheuchte, und weil es mir half, damit klar zu kommen, was ich bin (oder besser, war), bevor ich das Heilmittel nahm. Komischerweise ist das immer noch nötig, sogar jetzt noch, und nicht nur für mich. Nach mehr als einem Jahr hat sich Bobby immer noch nicht daran gewöhnt, dass ich normal bin. Ich kann es in seinen Augen sehen, wenn ich seine bloße Haut anfasse – eine Mixtur aus immer wieder neuer Überraschung und beschämter Freude. Er schafft es nicht, die unbehagliche Überzeugung abzuschütteln, dass ich es für ihn getan habe.

Na ja, hab ich nicht. Wenigstens glaub ich das nicht.

„Ich hoffe, du tust das nicht für irgend einen Jungen,“ sagte Logan zu mir, als ich weg ging, damals an dem Abend kurz nach Professor Xaviers Beerdigung. Ich erinnere mich, wie verblüfft ich war, dass er mich nicht in mein Zimmer zurück jagte und mich zwang, meine Tasche wieder auszupacken, und das sagte ich ihm auch. Ich kann den Ausdruck von offenem Mitgefühl und Zuneigung auf seinem Gesicht immer noch sehen, als er sagte: „Ich bin nicht dein Vater, ich bin dein Freund.“

Er ist der beste Freund, den ich je hatte. Als Mystique mich hereinlegte und ich zum ersten Mal aus Xaviers Schule davonlief – vor diesem Alptraum auf Ellis Island – da war er es, der mir in den Zug nachkam und versprach, auf mich aufzupassen. Es war nicht mehr als eine Bestätigung von dem, was er vorher schon getan hatte... seit dem Moment, als er mich unter dieser Decke auf der Ladefläche von seinem Anhänger entdeckte. Damals schickte er mich weg und ließ mich auf der Straße stehen, aber bloß ein paar Minuten lang. Er konnte mich nicht zurück lassen, ohne Schutz, genauso wenig wie er nicht mit Zähnen und mit diesen Adamantium-Klauen kämpfen konnte, wenn jemand auf ihn los ging. Es war wie ein Reflex, und der sprach Bände über seine wahre Natur. Er hatte seiner eigenen Freundlichkeit eine Ewigkeit lang den Rücken zugekehrt, und trotzdem konnte er, wenn es darauf ankam, nicht anders, als großzügig zu sein.

ooOoo

Ich sah ihn an ihrem Grab stehen, und seine breiten Schultern verdeckten die Inschrift auf dem Gedenkstein. Ich wusste natürlich, was da stand: Jean Grey. In dem Moment sah er selbst aus wie ein Stein, ein Felsen aus Schmerz, in das frische, samtige Grün des Rasens eingesetzt. Ich stand auf dem Weg, drauf und dran, seinen Namen zu rufen und den Bann seiner bitteren Erinnerungen zu brechen, aber ich hielt den Mund. Ich dachte, ich hätte nicht das Recht, seine Dämonen herauszufordern.

Aber kennen tue ich sie; ich hab in seine Seele geschaut, viel tiefer als Jean Grey es je fertig gebracht hat. Es gibt immer noch Nächte, da fahre ich in meinem Bett hoch und kann nicht atmen; ich hab den Geschmack von Blut im Mund, und die scharfe, eisig kalte Qual von rasiermesserscharfem Metall durchbohrt mich bis auf die Knochen... ein Überbleibsel von dem ersten Abend, als ich mich damals in sein Zimmer schlich und versuchte, ihn aus einem Albtraum aufzuwecken.

Wie könnte ich vergessen, wie sich sein Ausdruck veränderte, als ihm klar wurde, dass er auf mich eingestochen hatte? All diese eingemeißelte Härte, dieses tief eingegrabene Misstrauen... sie waren von einem Wimpernschlag zum nächsten verschwunden und ließen nichts zurück als Schock und Entsetzen auf einem Gesicht, das auf einmal so jung und verwundbar aussah wie mein eigenes. Ihn mit der bloßen Hand anzufassen war die einzige Möglichkeit, die ich in diesem Moment hatte; ich wusste, wie unglaublich schnell er heilte, also schluckte ich das Blut und die Galle hinunter, die mir in die Kehle stiegen, legte meine Fingerspitzen an seine Wange und fühlte, wie seine Kraft mir durch den Arm schoss, weißglühend wie ein Blitzschlag.

Und mit dieser Kraft kamen verschwommene Bilder aus Logans verlorenem Gedächtnis; sie versengten mir die Seele mit unerträglicher Trauer und enormer Wut. Wie hält er das bloß aus, dachte ich, ohne den Kontakt abzubrechen, während sich mein zerrissenes Fleisch auf unmögliche Weise durch die Macht wieder zusammenfügte, die ich ihm stahl.

Endlich ließ ich los, und er fiel mir vor die Füße. „Es war ein Unfall,“ stotterte ich, als Storm mich anstarrte, und während sich Jean Grey neben ihn kniete und ihre Hände um sein Gesicht legte. Ich werde ihn nie so berühren können, dachte ich, als ich hinaus auf den Flur flüchtete. Ich darf ihn überhaupt nie wieder berühren.

Am nächsten Tag entschuldigte er sich bei mir. „Tut mir wirklich sehr Leid wegen letzter Nacht,“ sagte er. Ich hab nie begriffen, wieso. Er hatte sich doch bloß selbst verteidigt.

Dass ich ihn mit dem Fluch meiner „Gabe“ fast umgebracht hatte, zahlte er mir dadurch heim, dass er mir auf Ellis Island gleich noch einmal das Leben rettete. Aber diesmal überließ er mir seine Heilkräfte freiwillig. Er hielt mich Haut an Haut, bis er bei dem Versuch, mich vom Rande des Todes zurück zu zerren, beinahe selbst gestorben wäre. Nur Sekunden, ehe er zusammenbrach, kam ich wieder zu Bewusstsein; mein Herz und meine Seele liefen über von seiner Stärke und Nähe, sein Blut rieselte mir über die Finger, lebendiger Beweis seiner starrsinnigen Opferbereitschaft. Es war Scott, der mich damals in jener Nacht weg tragen musste; ich konnte keinen Schritt gehen. Ich war geblendet von der Erinnerung an Logans bleiches, lebloses Gesicht mit den klaffenden Wunden. Ich war gelähmt von dem Wissen, was ich ihm angetan hatte.

ooOoo

Unsere Freundschaft ist immer schon eine Angelegenheit von Leben und Tod gewesen. Ich hab gesehen, wie er mitten in der Luft hing, ans Kreuz geschlagen durch Magnetos Macht über seine Adamantiumknochen. Ich hab ihn auf der Veranda von Bobbys Eltern liegen sehen, das schwarze Einschussloch einer Kugel in der Stirn. Ich hab ihn sterben sehen, wieder auferstehen und heil werden. Und ich hab den Blick in seinen Augen gesehen, mit dem er jeder Bewegung von Jean Grey folgte.

Ich denke, sie hat ihn unheilbar verletzt, einfach indem sie nicht fühlte, was er fühlte – wenigstens nicht genug davon – und dadurch, das sie war, was sie war. Es gibt Wunden, die kann das menschliche Auge nicht sehen, und niemand weiß, wie viele Jahre es dauert, bis sie sich auf der Seele in diesem unzerstörbaren Körper wenigstens in Narben verwandeln. Sein Leben wird wahrscheinlich viel länger dauern als meins – Storm hat mir mal erzählt, dass er sogar noch älter sein könnte als der Professor – aber das wird die Dauer seiner Schmerzen nur noch verlängern. Manchmal hasse ich sie immer noch dafür, dass sie nicht das war, was er nötig hatte. Ich hasse sie sogar noch mehr dafür, dass sie ihn ihren Tod nicht nur einmal, sondern zweimal betrauern ließ. Und ich kann ihr nicht verzeihen, dass sie ihm noch eine weitere Bürde aufgeladen hat, zusätzlich zu der, die er schon auf seinen Schultern mit sich herumschleppt... vielleicht die grausamste von allen.

Sie hat ihn dazu gebracht, sie zu töten.

Und er tat es, wegen seinem verdammten, unerschütterlichen Verantwortungsgefühl, und weil er wusste, dass er der einzige war, der zu ihr durchdringen konnte, als sie sich in ein Monster verwandelt hatte, das mächtig genug war, um die Welt aus den Angeln zu heben. Er tat es, weil es der einzige Weg war, sie zu retten. Er tat es, weil es seine Hände sein sollten, die sie davon abhielten, alles und jeden zu zerschmettern, die er wild entschlossen war, zu beschützen. Er tat es, weil er sie liebte, und weil sie mitten in ihrem Irrsinn trotzdem noch konzentriert und rücksichtslos genug war, um diese Liebe als unfehlbare Waffe einzusetzen, gegen sie beide.

Ich war nicht dabei, als das passierte. Ich hatte die Schule verlassen und das Mutanten-Heilmittel genommen. Ich verkroch mich in New York und verkaufte Lederfummel, in einer Boutique für Kids mit einem morbiden Geschmack an Gothic-Zeug und mit zu vielen Platin-Kreditkarten. Die zahllosen Tode auf Alcatraz waren nichts als ein weit entferntes Donnergrollen, übertragen durch Nachrichten, die anzuschauen ich mich weigerte, durch Zeitungen, die ich nicht lesen wollte. Nicht einmal von Bobby hörte ich etwas... nur, dass er das Chaos der letzten Schlacht lebendig und wohlbehalten überstanden hatte, genau wie Kitty und die anderen. Er sagte mir nicht, ob sie jetzt seine Freundin war, und ich gab mir alle Mühe, so zu tun, als ob mich das nicht interessierte. Ich glaub nicht, dass er sich hereinlegen ließ; Bobby ist viel aufmerksamer und klüger, als man das hinter seinem hübschen Schuljungengesicht erwartet.

Er sagte mir, was aus Jean geworden war, und dass Logan überlebt hatte – auch wenn es ihm ganz bestimmt nicht gut ging. Dann ließ er mich in Frieden, um meine eigenen Schlüsse zu ziehen, und zu entscheiden, was ich tun würde. Ich brauchte fast ein Jahr, um Gut und Böse gegeneinander abzuwägen, und herauszufinden, dass es nur einen Ort gab, wo ich wirklich sein wollte.

Und so kam ich ins Institut zurück, zurück zu dem, was von der Vision des Professors noch übrig war, zurück zu seinem Gedenkstein, und zu den Gräbern von Scott und Jean. Ich kam zu Bobby zurück, und ich sah zu, wie die Verwirrung und die Missbilligung aus seinem Gesicht schmolz, während er zu ersten Mal, seit wir uns kannten, meine bloßen Finger berührte. Da war nichts in seinen Augen als Staunen, und unser erster Kuss war beinahe süß genug, um die Erinnerung an den anderen Kuss zu vertreiben, mit dem alles angefangen hatte, in dem verlorenen Leben eines Mädchens namens Marie in Meridian, Mississippi.

Logan verschwand kurz nach meiner Rückkehr – er versteckte sich in Kanada, denke ich, oder irgendwo anders, wo die Gespenster von denen, die wir verloren hatten, ihn nicht heimsuchen konnten. Er hielt sich bis zum nächsten Sommer vom Institut fern, während ich mich wieder eingewöhnte, eine „normale“ Frau unter lauter Mutanten... und doch wollte niemand, dass ich weg ging. Sie wussten, hier war mein einziges Zuhause, und ich war immer noch von dem Menschen umgeben, die ich am meisten liebte.

Von allen, bis auf einen.

Tatsächlich gab es viele Tage, an denen ich ihn überhaupt nicht vermisste. Ich hatte Bobby und Storm, sogar Kitty (die eine viel bessere Freundin für mich war als ich jemals für sie); die jüngeren Schüler waren nett und witzig, und die efeubewachsenen Mauern der Schule sorgten dafür, dass ich mich sicher fühlte. Und trotzdem ging ich von Zeit zu Zeit durch die Eingangshalle und spürte den geisterhaften Hauch seiner Berührung, als er seine Hundemarke in meine Handfläche fallen ließ. Das hol ich mir wieder ab.

Er war auch schon früher zurück gekommen, mehr als einmal, und ich hatte ihm die Marke zurückgegeben. Aber er kam nie meinetwegen.

ooOoo

An dem Morgen, als ich meinen üblichen Spaziergang machte, sah ich, dass das Schultor offen stand. Ich entdeckte das klobige Motorrad, von einer dicken Schicht aus Staub und Schlamm bedeckt; ein Rad zerquetschte die Rosen in einer blühenden Rabatte. Also war er wieder da, und trotz des Gleichgewichts, das ich während des letzten Jahres neu gefunden hatte, machte mein Herz einen kurzen, aufgeregten Satz.

Ich war nicht mehr von seiner Art, aber das machte mich kein bisschen weniger wertvoll; das Heilmittel hatte mir nur ein sogenanntes „Talent“ weg genommen, das bis dahin mein ganzes Leben verkrüppelt hatte, und jetzt konnte ich mich endlich so aufführen wie ein ganz normales, menschliches Wesen. Ich konnte ihn endlich umarmen, oder seine Hand nehmen. Ich konnte... na ja, wenn ich ihn erst einmal gefunden hatte, natürlich. Weit weg würde er kaum sein.

Ich fand ihn schnell genug. Er stand vor Jean Greys Grabstein, mit starrem Rücken, den Kopf gesenkt. Der Anblick war ernüchternd genug, um mir den Mund zu verschließen. Ich schaute ihn an, zu nervös, um näher zu kommen, und er bemerkte mich erst, als er sich eine stille Ewigkeit später endlich umdrehte.

„Rogue.”

Er warf mir etwas zu, das entfernt an ein Lächeln erinnerte; tiefe Linien zogen sich von seiner Nase zu den Mundwinkeln hinunter, und trotz seiner wettergegerbten Haut war er sehr blass.

„Marie,“ konterte ich automatisch, aber der Bruch in meiner Stimme verdarb die ganze Wirkung. Trotzdem wurde sein Gesichtsausdruck weicher, und für einen Moment ruhten seine Augen auf meinen bloßen Fingern. „Dann hast du es also genommen – Marie.“

„Ja, hab ich.“ Ich starrte ihn an und kam mir dumm und schmerzhaft jung vor. „Jetzt kann ich jeden anfassen, den ich will. Komisch, was?“

„Nein, Kleine.“ Er streckte die Hand aus, und nach einer Sekunde des Zögerns nahm ich sie. „Das wolltest du doch die ganze Zeit, oder nicht? Und ich wette, Bobby ist glücklich.“ Sein Griff war fest und angenehm, genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte, und das Gefühl ließ meine Haut prickeln.

„Sehr glücklich,“ gab ich zu, und die Wangen wurden mir heiß. Jetzt war sein Lächeln ein kleines bisschen echter.

„Gut zu hören.“ Wie gingen weg von den Gräbern, und er ließ meine Hand nicht los. „Wirst du hierbleiben, Kleine? Muss merkwürdig sein für jemanden, der diese ganze Mutantenmagie aufgegeben hat.“

„Ich hab mir ein ,normales' College gesucht, und ein ziemlich feines,“ sagte ich. „Meine Noten sind gut genug. Ein bisschen spät vielleicht, aber Bobby sagt, besser spät als nie. Storm meint das auch.“

„Recht haben sie.“ Logans Blick war abwesend. „Du hast eine Menge aufzuholen.“

„Und das werd ich auch.“ Ich trat vor den Eingang und drehte mich um, damit ich zu ihm aufschauen konnte. Plötzlich hätte ich alles gegeben, um ihm diesen Ausdruck bodenloser Erschöpfung aus dem Gesicht zu wischen. Und dann hatte ich eine Idee... eine waghalsige, ganz bestimmt, aber alles war besser, als ihn so zu sehen.

„Als ich noch jünger war, und viel leichter zu beeindrucken als heute, da war ich in dich verknallt.“ Mein Ton war leicht, beinahe amüsiert. „Hast du das gewusst?“

„Äh...“ Er löste seinen Griff um meine Finger, und ich musste mir einen Protest dagegen verbeißen, dass er mich nicht mehr berührte. „Ich hatte... keine Ahnung.“

„Keine Sorge, alles ganz harmlos,“ sagte ich und fühlte jeden einzelnen Herzschlag in meinem Mund. „Ich hab davon geträumt, deine Hände zu halten, ohne diese dämlichen Handschuhe.“ Unsere Augen begegneten sich. „Weißt du noch, was ich zu dir gesagt hab, ehe ich wegging, um das Heilmittel zu nehmen? Ich möchte Menschen anfassen können. Umarmen...”

„Die Hand schütteln...“ Er sprach sehr leise.

„Küssen.“ Ich starrte auf meine Füße hinunter, er hatte mich ein bisschen aus der Fassung gebracht. „Ich hatte nicht erwartet, dass du das noch weißt. Es... es war albern.“

„Nein.“ Die stille Trauer in seinem Tonfall drückte mir auf das Herz wie ein Gewicht aus Stein. „Nichts davon. Und ich bin froh, dass du das alles endlich gekriegt hast... sogar den Kuss.“

Bobbys Kuss, dachte ich. Aber nicht deinen. Deinen hab ich nie gekriegt. Und dann wich mir das Blut aus dem Gesicht, als mir klar wurde, dass ich die letzten paar Worte laut gesagt hatte.

Lange Zeit passierte überhaupt nichts, und ich fluchte innerlich; ich hatte mich komplett zum Idioten gemacht, und mein Versuch, ihm zu helfen oder ihn wenigstens abzulenken, war viel zu verzweifelt und zu durchsichtig gewesen, um einen Mann mit seinen scharfen Sinnen zum Narren zu halten. Ich hätte es besser wissen sollen.

Aber dann fühlte ich eine federleichte Berührung an der Wange; sie glitt meinen Kiefer entlang und ließ mir eine Gänsehaut über den Nacken rieseln. Sie wurde bestimmter, als die Hand mein Kind anhob, bis ich gezwungen war, seinen Blick zu erwidern.

„Rogue.“ Es war mehr ein Seufzer als irgend etwas anderes. „Ich kann nicht, Kleine. Ich würde mich hinterher beschissen fühlen.“

Ich biss die Zähne zusammen.

„Lass das.“ Schmerz presste mir die Brust zusammen und verwandelte sich rasend schnell in siedende Wut. „Hör auf damit. Willst du auf diesen Berg, den du da mit dir herumschleppst wie Atlas, noch mehr Schuld laden, die gar keine ist?“ Es war der Professor gewesen, der mir irgendwann einmal die Legende von dem Riesen erzählt hatte, der die Erdkugel auf seinem Rücken trug, und ich fragte mich, wieso ich sie mir gemerkt hatte. Griechische Sagen waren nun wirklich nicht mein Ding.

Logan runzelte die Stirn, aber er widersprach nicht, und sein Schweigen gab mir irgendwie Kraft.

„Es gibt überhaupt nichts, weswegen ausgerechnet du dich schlecht fühlen müsstest... und außerdem war es doch meine Idee, oder?“ sagte ich, immer noch ziemlich hitzig. „Soll es doch mir Leid tun... wenn du wirklich denkst, dass es da irgendwas gibt, was mir Leid tun müsste.“

Eine von meinen Händen berührte sein Gesicht, streifte Haut und Haar, das sich dicht und ein bisschen rau anfühlte... beinahe wie ein Pelz. Ich musste mich nicht auf die Zehenspitzen stellen, um seinen Mund zu erreichen, aber er war natürlich größer als Bobby.

Nein. Kein Gedanke an Bobby jetzt.

Im nächsten Moment - und zu meiner größten Überraschung - gab Logan nach. Sein Mund berührte meinen, und was immer ich auch Gedanken im Kopf hatte, flatterte davon.

Seine Lippen waren kühl und weich, viel weicher, als ich erwartet hatte. Ich schmeckte einen scharfen, bitteren Hauch von Tabak und noch etwas anderes, das geradewegs aus seinem tiefsten Inneren zu kommen schien... Holz vielleicht, Farn, und ein Gewürz, das ich nicht kannte, berauschend und intensiv. Gleichzeitig verfolgten meine Daumen eine forschende Linie an seinen Wangenknochen entlang, und ich fühlte, wie sich die Krähenfüße unter meinen Handflächen glätteten, als er die Augen schloss.

Ich schwöre, ich kann mich nicht erinnern, wann genau ich den Mund aufmachte, oder ob wirklich ich es war, die es zuerst tat. Alles, was ich sicher weiß, ist, das ich zittrig versuchte, Luft zu holen, und was ich dann einatmete, das war ganz einfach... er. Mein Finger verließen sein Gesicht und glitten auf seine Schultern hinunter, verzweifelt auf der Suche nach einem festen Halt, als mir die Knie weich wurden. Und gleichzeitig legte er mir die Arme um die Taille und zog mich fest an sich. Ich hörte ein Keuchen und hatte keine Ahnung, ob es meines war oder das von Logan. Ich kümmerte mich nicht mehr darum, wo ich aufhörte und er anfing.

Und doch war ich die, die es beendete.

Ich hab ehrlich keine Ahnung, wie lange es dauerte, von diesem überwältigenden Trip wieder herunter zu kommen, aber nach etwas, das sich anfühlte wie eine fiebrige, wunderbare Ewigkeit, zog ich mich gerade weit genug zurück, dass ich mein Spiegelbild in seinen Augen sehen konnte. Mein ganzer Körper summte wie die Saiten einer riesigen Gitarre, mein Herzschlag galoppierte wie verrückt. Seine Hände lagen immer noch um meine Taille, und ich konnte seine Fingerspitzen deutlich an meinem Rückgrat fühlen.

„Ähm...“ Ich räusperte mich, aber meine Stimme zitterte. „Das.. das hat wohl gereicht, um mich für ein ganzes Leben ohne Küsse zu entschädigen.“

„Wow. Kleine, ich... ich weiß nicht, was... mein Gott.“ Logan schluckte, und ich war merkwürdig erfreut, als ich das fassungslose Staunen auf seinem Gesicht sah. Die Wolken der Trauer hatten sich verzogen, und auch wenn sie nur allzu schnell wieder da sein würden, war da dieser glückliche Funke, der ein kleines Feuer in meinem Herzen entzündete. Er würde heil werden... nicht sofort, aber irgendwann schon.

Plötzlich lachte er und schüttelte den Kopf. „Scheiße. Bobby wird nach meinem Kopf schreien, wenn er von dem hier Wind bekommt,“ stellte er fest. „Oder er macht den größten Eiszapfen aus mir, den du je gesehen hast.“

„Wieso sollte er?“ gab ich zurück. „Hier ging es nicht um Bobby, noch nicht mal um mich. Es ging um dich.“

„Mich?“

„Um das, was du brauchst, Logan.“ Ich trat von ihm zurück und kämpfte dagegen an, wie unvollständig ich mich fühlte, wenn er mich nicht berührte. „Liebe, Freundschaft. Nähe. Bist du nicht deswegen zurück gekommen?“

„Vielleicht.“ Er hatte sich offensichtlich wieder gefangen und betrachtete mich mit leicht ironischem Humor. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du das wirklich gemacht hast, Kleine.“

Ich auch nicht.

„Kleine oder nicht Kleine,“ gab ich zurück. „ich bin nicht deine Tochter, ich bin deine Freundin. Und es heißt Marie.“

„Marie. Ich versuch's mir zu merken.“

Ich schlüpfte ins Haus, und bevor die schwere Eichentür zwischen uns zufiel, konnte ich sehen, dass er mich anlächelte.

ooOoo

Er blieb fast einen Monat im Institut. Wir sahen einander nicht sehr oft; ich ging ans College zurück, als das neue Halbjahr anfing, und ich verbrachte nur die Wochenenden in der Mutantenschule. Collegegebühren und die Kosten für die Unterbringung wurden aus Xaviers Stiftung bezahlt; Storm hatte meinen Protest mit einer entschiedenen Geste abgewehrt. „Du bist immer noch eine von uns,“ sagte sie. „Und wir sind dafür da, dir mit deinen ersten Schritten in die ,normale' Menschheit zu helfen.“

Natürlich traf ich ihn von Zeit zu Zeit; wir liefen einander an einem verregneten Samstag beim Mittagessen über den Weg, und an einem Abend sah ich ihn ziellos über das Gelände streifen, den Kopf von einer blauen Rauchwolke aus seiner Zigarre umgeben. Ein- oder zweimal aß er sogar mit den kleineren Kindern zusammen (die ihn mit einer Mischung aus nervöser Ehrfurcht und gewaltiger Heldenverehrung bestaunten). Es war faszinierend zuzusehen, wie er irgendwann unweigerlich die Deckung für sie herunter ließ, mit dem Ergebnis, dass sie nach einer Weile fast übereinander stolperten in ihrem Eifer, ihm ihre Fähigkeiten vorzuführen und ihm ihre kleinen Geheimnisse anzuvertrauen. Sie konnten seine Freundlichkeit wittern – wie ich sie gewittert hatte, vor Jahren, als ich in seinem Wohnmobil saß. Ich tu dir nichts, Kleine, hatte er zu mir gesagt, als ich nicht wollte, dass er meine eisigen Hände auf die Autoheizung legte. Er musste das nicht sagen: ich hatte mit ruhiger Sicherheit gewusst, dass ich ihm trauen konnte, von Anfang an.

Wo wir gerade vom Wittern reden... ich weiß nicht, ob es an der Tatsache lag, dass Logan immer sozusagen in meinem Kopf anwesend war, seit ich ihn zum ersten Mal mit der bloßen Hand angefasst hatte, aber nach diesem ersten Morgen brauchte ich keinen Beweis mehr dafür, dass er in einem Zimmer gewesen war: ich konnte es riechen. Dieselbe Mixtur aus Tabak, aus Holz und Gewürzen, die auf meine Sinne eingestürmt war, als er mich in den Armen hielt, formte eine Spur, die so deutlich und leicht zu verfolgen war, dass ich sie im Schlaf hätte finden können. Ich fragte mich, ob das wohl bloß eine merkwürdige Nebenwirkung des Kusses war, oder ein entferntes Echo meiner verlorenen Fähigkeiten. Aber was es auch immer war, ich behielt es für mich, und ich war ganz bestimmt nicht so dumm, ausgerechnet Logan davon zu erzählen.

Während des vierten Wochenendes, spät am Sonntag Abend, ging ich in die Küche hinunter, um mir ein Glas Milch zu holen: ich hatte mit den Vorbereitungen für einen ganz besonders üblen Aufsatz über amerikanische Geschichte gekämpft, und jetzt war ich total aufgedreht, angespannt und hellwach. Ich war kaum an der Tür, da traf der vertraute Geruch meine Nase: Tabak und Holz, und obendrüber das starke, herbe Aroma von Bier. Für eine Sekunde oder zwei überlegte ich, mich wieder ins Bett zu legen; dann seufzte ich und ging hinein.

„He, Kleine. Wieso bist du auf?“

Er saß hinter der Küchentheke, eine Flasche Beck's vor sich.

„Ich hab Durst,“ sagte ich. „Und mir reicht's. Ich hasse Geschichte. Und Geschichtsaufsätze hasse ich noch mehr. - Wie hast du das Zeug denn hier rein gekriegt?“

„Ich hab's in einem Supermarkt gefunden, dafür bezahlt und es unter meinem Hemd eingeschmuggelt.“ Er grinste wie ein Junge, den man bei einem Streich erwischt hatte. „Das letzte Mal, als ich hier runterkam, weil ich nicht schlafen konnte, da hab ich bloß eine Diätcola gefunden. Es gibt ein paar Dinge, die sollte ein Mann nicht zweimal durchmachen müssen.“

Er sagte nichts darüber, dass er, kurz nachdem er die Diätcola ausgetrunken hatte, gezwungen gewesen war, jemanden in dieser Küche zu töten; er war fast der einzige Verteidiger gewesen in einer Schule voll von schlafenden Kindern. In der Nacht hatte ich ihm die Hundemarke wieder gegeben, während wir auf der Flucht nach Boston waren, mit Bobby und John auf dem Rücksitz.

Ich holte den Krug aus dem Kühlschrank und ein Glas aus dem Regal. Die Milch war sehr kalt, und als ich sie herunter gestürzt hatte, fühlte ich einen scharfen, stechenden Schmerz mitten auf der Stirn. Ich drehte mich zu Logan um und stellte fest, dass er einen der hohen Barhocker auf die andere Seite der Küchentheke gestellt hatte.

„Setz dich.“

Ich kletterte auf den Hocker und wir saßen einander gegenüber. Es hätte alles ein bisschen komisch und ungemütlich sein können, vor allem mit der Erinnerung an meinen... Überfall auf ihn im Hinterkopf, aber merkwürdigerweise war das nicht so. Ich schaute ihm zu, wie er einen Schluck von seinem Bier trank; er sah mich nicht an, und ich entdeckte eine dünne, steile Falte zwischen seinen Augenbrauen.

„Wer ist Atlas?“

„Wer ist...“ Ich starrte ihn an. „Wieso?“

„Du sagst, dass ich herumlaufe und schweres Zeug mit mir herumschleppe, wie Atlas. Wer zur Hölle ist das?“

„Er... oh.“ Ich rieb mir die Stirn; der Schmerz ließ langsam nach. „Er kommt aus den griechischen Sagen. Professor Xavier hat mir mal von ihm erzählt. Er war... ein Riese, glaube ich, und er hat es sich mit den griechischen Göttern versaut, weil er gegen sie gekämpft hat, zusammen mit den Titanen.“

„Den Titanen?“

„Die haben das Universum beherrscht, ehe die anderen Götter auftauchten. Und sie mochten die Idee gar nicht, ihre Macht aufzugeben. Aber sie verloren den Kampf, und Atlas wurde dazu verurteilt, die Welt auf seinen Schultern zu tragen, und damit gleich den ganzen Himmel.“

„Weil er sich für die falsche Seite entschieden hatte.“ Logans Lächeln war grimmig.

„Genau. Und dann kam so eine Art Superheld zu ihm – Herakles. In der Nähe von da, wo Atlas lebte, gab es einen Garten mit einem Baum voll goldener Äpfel. Drei Frauen hielten dort Wache – in den griechischen Sagen heißen sie die Hesperiden – und keiner durfte die Äpfel pflücken... aber Herakles wollte sie haben, und die Frauen hätten ihn nie in den Garten gelassen. Also ließ er sich einen Trick einfallen.“

Ich staunte, wie gut ich mich an dieses uralte Märchen erinnerte... es kam mühelos zu mir zurück, und zusammen mit ihm kam das warme Licht der Lampen in der Bibliothek, der satte Geruch der Ledersessel... und Xavier mit seinem feinen, britischen Akzent. Plötzlich schluckte ich an einem Kloß in der Kehle.

„Gute Geschichte.“ Logans Stimme war leise. „Mach weiter, Kleine.“

Ich holte tief Luft und gleichzeitig fühlte ich, wie sich seine Finger um meine schlossen. Ich machte nicht den Versuch, meine Hand zurück zu ziehen.

„Er... er machte einen Deal mit Atlas. Er bat den Riesen, für ihn in den Garten zu gehen. Die Hesperiden konnten ihn gut leiden, und sie würden ihn problemlos hinein lassen. Herakles versprach ihm, die Erdkugel zu tragen, bis er wieder da wäre, und Atlas beschloss, ihm zu vertrauen.“

Logans Daumen bewegte sich in langsamen, zärtlichen Kreisen über meine Handfläche, und ich schloss die Augen.

„Also nahm Herakles Atlas die Erdkugel von den Schultern, und der Riese zog los, um die Äpfel zu holen. Plötzlich wurde ihm klar, dass er seine schwere Last losgeworden war... er war frei, einfach wegzugehen, wenn er wollte, und das fühlte sich großartig an. Er kam mit den Äpfeln zurück, aber er wollte Erde und Himmel nicht wieder auf seine Schultern laden.“

„Aha.“ Ich hörte, wie Logans Hocker knarrte, als er sich vorbeugte, und sein Duft wurde stärker. „Dieser Herakles war bestimmt ganz schön angepisst deswegen.“

„Darauf kannst du wetten. Er musste sich etwas ausdenken, und zwar schnell. Er sagte Atlas, er sollte die Kugel nur noch ganz kurz übernehmen, damit er seine Muskeln entspannen könnte oder sowas.“

Ich hörte ihn glucksen. „Und ein paar Superhelden-Situps machen?“

„Kann sein.“ Ich grinste. „Atlas gab ihm die goldenen Äpfel, nahm die Welt wieder auf seine Schultern und das war's. Herakles hatte gekriegt, was er wollte, und in der allernächsten Sekunde verschwand er auf Nimmerwiedersehen.“

Es war lange still, und als Logan endlich etwas sagte, war seine Stimme hart, fast wütend.

„Eins ist mal sicher: dein Riese war ein riesiger Schwachkopf.“ Ich öffnete die Augen und stellte fest, dass er mich mit zusammen gekniffenen Augen beobachtete. „Erklär mir was, Marie: sollte ich jetzt angepisst sein, dass du mich mit so einem Deppen vergleichst?“

Meine Finger zuckten, aber ich ließ seine Hand immer noch nicht los, und er meine auch nicht.

„Nein,“ sagte ich und hielt seinen Blick fest. „Versuch, rauszukriegen, wann du wirklich etwas Schweres auf dem Rücken tragen musst, und wann du es abwerfen kannst. Und wenn du einen Garten mit goldenen Äpfeln findest, dann solltest du die Chance nutzen... und sie behalten.“

ooOoo

Sehr früh am nächsten Morgen saß ich im Zug zurück ins College und fing an mit meine Woche. Ich musste drei Aufsätze schreiben (darunter den, der mich die halbe Nacht wach gehalten hatte), vier Kurse für Fortgeschrittene kamen neu dazu und ein Mädchen in meinem Schlafquartier bekam täglich Wutanfälle – wenn ihr Freund nicht anrief, wenn ihr Freund doch anrief, aber die falschen Sachen sagte, weil ihre Mutter sie hasste und die anderen in der Klasse gemein zu ihr waren. Diese Sorte Ärger hatten wir im Institut auch gehabt – genug Teenager und Hormone, um das Dach abzuheben – aber es war nie wirklich so schlimm gewesen. Wahrscheinlich, weil unsere Schüler es gewohnt waren, bedroht zu sein, und weil sie viel zu dankbar waren, um die Chance nicht zu nutzen, die sie hatten.

Der Freitag war da, und ich machte, dass ich nach Hause kam. Der Himmel war klar und von einem blassen, durchsichtigen Blau; ein kräftiger Wind zerzauste die Baumkronen und deckte den Rasen zu, mit einer Schicht aus Rostrot und Gold. Ich blieb vor Xaviers Gedenkstein stehen, machte einen Schritt um das ewige Feuer herum und wischte ihm sachte die Blätter aus dem Metallgesicht. Als ich mich umdrehte und mich bückte, um meine Tasche wieder zu schultern, da sah ich jemanden auf der Bank dicht vor der Hecke sitzen.

Bobby.

Ich ging zu ihm hinüber, und der Kies knirschte unter meinen Füßen. Er ist zwei Jahre älter als ich, aber in diesem Moment sah er viel jünger aus, und sein Gesicht über dem schwarzen Aranpulli verriet nichts. Als ich mich neben ihm niederließ, streckte er langsam die Hand aus und nahm meine; die Geste war zögernd, als versuchte er, eine unsichtbare Grenze nicht zu überschreiten.

„Wie war deine Woche?“

„Zu lang.“ Ich streckte die Beine und betrachtete sein stilles Profil. „Ich hab die Nase voll, und ich bin froh, wieder hier zu sein. Irgendwas Dramatisches, während ich nicht da war?“

„Gar nichts.“ Er wandte den Kopf, und unsere Augen trafen sich. „Bloß Logan ist weg.“

Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

„Er ist weg? Seit wann?“

„Seit Montag, gleich nachdem du weg warst. Hat sich kurz mit Storm getroffen, und ist auf seinem Bike davon gedröhnt, hinein in den Sonnenuntergang.“ Seine Mundwinkel hoben sich zu einem winzigen Lächeln. „Okay... ist wohl doch eher der Sonnenaufgang gewesen.“

Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln, aber in meinem Kopf fühlte sich alles merkwürdig taub an. „Hat er irgendwas... Schriftliches hinterlassen?“

„Ob er dir geschrieben hat, meinst du?“ Er schüttelte langsam den Kopf, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen. „Ich hab keine Ahnung. Aber mir würde er das wohl sowieso nicht erzählen, oder?“

„Bobby...”

„Weißt du was?“ Er sprach sehr ruhig. „Ich mochte dich immer schon, von Anfang an, und ich hätte nie von dir verlangt, dieses Heilmittel zu nehmen, auch wenn es die Dinge viel leichter gemacht hat für dich und mich. Ich hab gehofft, wir würden...“ Er blickte auf unsere verschränkten Finger hinunter. „Es war so gut, dich wiederzuhaben, weißt du.“

„Ich weiß.“ Plötzlich brannten mir die Augen. „Und es war gut, wieder hier zu sein.“

„Ich dachte, du möchtest vielleicht... na ja, erst mal raus finden, wo du hin gehörst. Ich weiß, das hier ist immer noch dein Zuhause, aber du musstest dir trotzdem eine neue Art Leben suchen, ohne die Gefahr in deiner Haut, oder dass sie dich überwachen als wärst du so eine Art Terroristin, bloß, weil du eine Mutantin bist. Ich dachte, ich sollte erst mal schauen, wie die Dinge laufen, ehe...“

Eine lange Pause. Ich beugte mich vor und betrachtete sein Gesicht. „Ehe was?“

Er holte tief Luft, und ich begriff, dass er nicht halb so ruhig war, wie er aussah. „Ehe die Dinge richtig ernst werden zwischen... na, zwischen uns. Mein Vater hat immer gesagt, dass es nie ein Spiel sein sollte, wenn man sich in ein Mädchen verliebt. ,Spiel nie mit ihr herum,' hat er mir erklärt, ,der Preis könnte zu hoch sein, wenn man am Schluss alles zusammen rechnet, und zwar für euch beide.'“

Wieder schwieg er, und als er fortfuhr, kamen die Worte als ein schmerzhaftes Flüstern heraus.

„Er hat mich in die Wüste geschickt, als wäre ich irgend so ein gefährlicher Freak, und ich wünschte, ich könnte ihn hassen... aber ich tu immer noch alles, damit... damit er stolz ist auf mich.“

„Jesus, Bobby.”

Ohne nachzudenken streckte ich die Hände aus, zog ihn herüber zu mir und vergrub mein Gesicht in seinem Pullover. Er sank gegen mich; sein Atem war mühsam und klang beinahe wie ein Schluchzen. Ich fühlte mich ihm sehr nahe, und zu meiner Überraschung war seine Umarmung die von einem Mann, nicht die von dem süßen Jungen, von dem ich gedacht hatte, dass ich ihn besser kannte als irgendjemand sonst. Wieder sprach er, und sein Atem strich mir warm über das Ohr.

„Damals in der Nacht, als sie die Schule angegriffen haben, da hab ich Logan in der Küche getroffen. Wir haben über dich geredet.“

„Ihr habt – was?“ Mein Kopf fuhr hoch.

Bobby grinste plötzlich. „Er fing an, mich auszuquetschen, über meine... Absichten. Nicht das ganze Erstes-Date-mit-meiner-Tochter-Ding, natürlich. Er hat mich ziemlich leicht vom Haken gelassen.“

„Aha?”

„Vielleicht, weil ich ihm gesagt hab, mir wäre aufgefallen, wie er Dr. Grey ansah... Jean.“

„Oh.“ Ich merkte, dass mein Herz schneller schlug. „Hast du das.“

„Ja, hab ich. Und dann kam der Überfall, und da gab es genug andere Männer, gegen die er kämpfen konnte.“ Bobby gluckste in sich hinein. „Das war wahrscheinlich mein Glück.“

„Du warst lebensmüde, würde ich sagen.“ Mein Gesicht entspannte sich zu dem ersten echten Lächeln, seit ich ihn auf dieser Bank gefunden hatte. Jetzt lag mein Kopf an seiner Schulter, und ich konnte spüren, wie seine Brust sich unter meiner Hand hob und senkte. Es wurde langsam kalt; die Sonne war weg und hatte einen fedrigen Streifen aus Rot und Pink quer über dem Himmel hinter den Bäumen zurück gelassen. Wir würden bald hinein gehen müssen.

Bobby seufzte, als wäre er zu einer schwierigen Entscheidung gekommen.

„Weißt du, Logan... ich glaube, als er diesmal zurück gekommen ist, da war es deinetwegen.“

Ich setzte mich gerade hin. „Warte mal... ich habe ihn in den letzten paar Wochen kaum gesehen!“

„Also... er konnte ja wohl kaum wissen, dass du jetzt auf dem College bist, richtig? Und während du weg warst, hat er in der Bibliothek dauernd lange mit Storm geredet; er ist sogar einmal mit ihr nach Washington gefahren, um sich da mit Hank McCoy zu treffen. Und am Wochenende... er hat immer gemerkt, wenn du gleich in ein Zimmer kommen würdest. Es war seltsam, irgendwie sogar witzig... er hob dann immer den Kopf, wie ein Jagdhund, der einen ganz besonderen Duft wittert, und seine Augen haben geleuchtet. Und dann verschwand er durch die nächste Tür. Ich glaube, er wollte dir gar nicht begegnen.“

Ich betrachtete ihn scharf. Wieder einmal wurde mir klar, wie klug er war, und wie unwahrscheinlich geschickt darin, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen. Während ich diese ganze empfindliche Sache verdrängte, aus Angst davor, was ich vielleicht an diesem Morgen im August mit einem Kuss in Gang gesetzt hatte, da sortierte er gleichzeitig diese ganzen gemischten Gefühle für mich auseinander... er beobachtete Logan, er sah zu, wie wir einander aus dem Weg gingen, er sah, dass ich es nicht fertig brachte, die Schlüsse zu ziehen, zu denen er längst gekommen war.

„Und wenn er meinetwegen hier war,“ fragte ich leise, „wieso ist er dann jedes Mal abgehauen, wenn ich ihm in die Nähe kam?“

„Jetzt hör mal... das letzte Mal, als er eine Frau geliebt hat, da wollte sie ihn nicht haben, und am Ende musste er sie töten, weil sie zu einem Monster geworden war. Nicht gerade ein Glückspilz, was? Kein Wunder, dass er die ganze Zeit versucht hat, dich als Kind zu sehen... ich wette, du jagst ihm eine Todesangst ein.“

„Genug, um zu verschwinden?“ Ich schloss die Augen.

„Nicht für lange.“ Bobbys Stimme war ein bisschen traurig. „Glaub mir, nicht für lange.“

ooOoo

Der September ging vorbei und der Oktober bedeckte die nackten Zweige der Bäume mit einer glitzernden Frostschicht. Als ich am dritten Wochenende in diesem Monat nach Hause kam, fand ich ein kleines Päckchen auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer.

Ich streifte die Wollhandschuhe ab und studierte die unbekannte Handschrift auf dem Aufkleber; der Absender war ein Postfach in Alberta, und ich sah ein verschmiertes Ahornblatt im Poststempel. Kanada? Wer um Himmels willen würde mir...

„Oh!”

Ich machte kurzen Prozess mit dem steifen, braunen Papier, während der Herzschlag mir irgendwo hinter den Zähnen hämmerte. Drinnen war eine kleine Schachtel, und als ich den Deckel hoch hob, entdeckte ich einen Samtbeutel. Ich wog ihn in der Hand. Er fühlte sich schwer an, und irgendetwas Kleines rutschte unter dem Stoff hin und her und gab ein leises, metallisches Klirren von sich.

Ich zog an der Kordel. Der Beutel ging auf, und der Inhalt fiel mir in die Handfläche. Es sah aus wie ein breites Schweißband für das Handgelenk, aus dicken, weichen Leder. Kleine Ösen liefen in regelmäßigen Abständen ringsherum, und ein flexibler Reif aus Gold zog sich hindurch wie eine Schlange, glatt und glänzend. Auf der Unterseite sah ich drei winzige Ringe, jeder an dem goldenen Reif befestigt. Der Ring in der Mitte war leer, aber von dem rechten und dem linken baumelten... zwei kleine, goldene Äpfel.

Ich stellte fest, dass ich auf dem Fußboden saß. Mir drehte sich der Kopf, und meine Hände zitterten so heftig, dass ich das Lederband auf den Boden fallen ließ. Ich langte nach der Schachtel, bekam sie zu fassen und hob sie ans Gesicht. Da... der Duft nach Holz und Gewürz, dieses Mal gemischt mit einem starken Lederaroma. Es musste Tage gedauert haben, bis das Päckchen hier war, aber ich konnte ihn noch immer riechen.

Ich durchwühlte die Schachtel; da war eine dicke Schicht Verpackungsmaterial, und unten drunter, ganz auf dem Boden, fand ich einen Streifen Papier.

Die darauf gekritzelten Worte waren in der selben unbekannten Handschrift. Einen Namen gab es nicht. Das war auch nicht nötig, obwohl er mir noch nie geschrieben hatte; ich konnte beinahe seine Stimme hören, gleichzeitig schroff und sanft.

Schick es zurück, wenn du es nicht willst. Aber wenn doch, dann bringe ich den dritten Apfel an Thanksgiving mit. Sie gehören zusammen.

Die Welt schien sich langsamer zu drehen und alles darin fiel sanft an seinen Platz. Ich saß auf dem Teppich vor meinem Bett, Papier und Lederband in beiden Händen; ich lauschte auf meinen Herzschlag und war von einem überwältigenden Gefühl des Friedens erfüllt. Draußen wurde es dunkel, und plötzlich merkte ich, dass der erste Schnee dieses Jahres gegen die Fensterscheibe geweht wurde.

„Ja, Logan,“ flüsterte ich und streichelte einen der goldenen Äpfel sachte mit der Fingerspitze. „Sie gehören zusammen. Und dieses Mal werden wir sie behalten.“

FINIS


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