Aus heiterem Himmel (Out of the Blue)
von Jael, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwei
Mehr Details für das Bild

Eine letzte Biegung der Auffahrt brachte sie vor das Haus. „Oh Mann!“ rief Jane aus.

Bevor sie sie sich wieder in Richtung der Garagen zurückwand, umkreiste die gekieste Auffahrt einen gemauerten Weg aus Feldsteinen, mit vielen abgestuften Ebenen, flankiert von asiatischen Steinlaternen und breit gefächerten Eiben. Der Weg führte hinauf zu einem Haus mit breiten Überhängen, die eine Vielzahl von Fenstern vor der Sommersonne abschirmten. Nebenflügel schwangen sich vom Mittelpunkt des Hauses aus seitlich nach hinten, scheinbar zufällig, und doch in vollkommener Harmonie mit dem Land, das sie umgab. Das Gebäude war keine Beleidigung an die Erde, es schien aus dem Mutterboden selbst herauszuwachsen.

„Also, da soll mich doch dieser und jener!“ flüsterte Jane. Na schön; es gab ein paar Designs von Frank Lloyd Wright, die nie photographiert oder allgemein bekannt geworden waren, aber sie bezweifelte, dass eines von dieser Größe ohne Aufzeichnung geblieben sein konnte. Der Originalbesitzer, der dieses Haus in Auftrag gegeben hatte, musste sowohl eifersüchtig auf seine Privatsphäre bedacht als auch einflussreich genug gewesen sein, um sein Heim aus den Veröffentlichungen herauszuhalten, und dieser Aaron Rivers musste die Tradition fortgesetzt haben.

Was sagt man dazu, dieser Job hat immerhin ein paar Extras zu bieten, dachte Jane.

Galen hüpfte ihr voraus die Feldsteinstufen hinauf. „Kommen Sie, Miss Jan-cow-skee,“ sagte und blickte mit einem Grinsen über seine Schulter zurück.

„Du kannst mich Jane nennen, Galen,“ sagte sie und erwiderte sein Lächeln. Er schien ein glückliches Kind zu sein, und ein Ausbund an guter Gesundheit, trotz seiner kleinen Statur.

Bevor sie die oberste Stufe erreichen konnte, öffnete sich die Vordertür. Ein jugendlicher Mann stand da und wartete, hemdsärmelig und in frisch gebügelten Freizeithosen. Er war eine Variation des allgemeinen Hippie-Kult-Themas bei Rivers; hochgewachsen, gutaussehend, höchstens Ende Zwanzig. Der einzige Unterschied bei diesem hier war sein dunkles Haar, das zu einem sauberen Pferdeschwanz zurückgebunden war. „Ich sehe, du hast uns eine Besucherin mitgebracht, was, Galen?“

„Mein Name ist Jane Jankowski,“ begann sie und hielt ihm die Hand hin, darauf vorbereitet, sich in ihr übliches Spiel zu stürzen.

„Vom Cook County Kinderschutzdienst, und dieser Besuch ist reine Routine,“ beendete der junge Mann den Satz für sie, und schüttelte rasch ihre Hand – mit einem verblüffend festen Griff für jemanden, der so… weichlich aussah. „Hal hat von Tor aus angerufen und uns gesagt, dass Sie auf dem Weg sind.“

„Mein Besuch schien für Mr. Aransen überraschend zu kommen,“ erwiderte Jane. „Gerade eben ist ein Pfeil an meiner Nase vorbei geflogen.“

„Das hat Leif davon, dass er sich weigert, im Wald ein Handy bei sich zu tragen. Wie achtlos von Hal, Sie nicht zu warnen, auf der Straße zu bleiben.“ Jane hätte schwören können, dass sie in den graublauen Augen des Mannes einen Hauch boshafter Belustigung sehen konnte.

Jane seufzte. „Ich fürchte, es ist mein eigener Fehler. Hal hat mich ganz genau davor gewarnt, Mr…?“

„Entschuldigen Sie. Glenn Butler, Aaron Rivers’ persönlicher Assistent und sein Mädchen für alles, zu Ihren Diensten.“

Hinter dem mit Schieferplatten belegten Eingangsbereich konnte Jane ein großes Wohnzimmer sehen, mit einer komplett bodentiefen Fensterwand, die auf Bäume hinausblickte. Französische Türen standen der Herbstluft offen und ließen die Brise ein. Der Raum war leer, abgesehen von einem jungen, blonden Mann in Morgenmantel und Pyjamahosen, der ausgestreckt auf einem Sofa lag und eine eselsohrige Ausgabe des Onion las. Eine schwarze Langhaarkatze lag zusammengerollt auf seiner Brust. (1)

Bei ihrem Anblick sprang die Katze auf, rannte zu ihnen hinüber und strich Galen um die Beine.

„Hör auf damit, Tevildo, das kitzelt,“ lachte Galen und tätschelte der Katze den Kopf. Das Tier stellte sich auf die Hinterbeine und bog seinen Rücken der streichelnden Hand des Kindes entgegen, bevor es wieder ins Wohnzimmer davon trottete, mit Galen auf den Fersen.

Der junge Mann stemmte sich vom Sofa hoch und streckte die Arme aus. „Wie geht’s meinem kleinen Prinzen?“ grinste er, zog Galen in eine Umarmung hinein, schwang ihn in großem Bogen hoch über dem Kopf und warf ihn obendrein noch in die Luft. Jane runzelte die Stirn. Selbst der mehr als drei Meter hohen Decke hätte der Junge Gefahr laufen können, sich den Kopf zu stoßen, denn dieser junge Mann war ebenso groß – wenn nicht größer – als all die anderen, und er schien mehr an ausgelassene Energie und guten Aussehen zu besitzen, als es allgemein üblich war.

„Prima, Derada,“ rief Galen und lachte, als der Mann ihn wieder auf festen Boden stellte. „Ich hab das Ziel dreimal erwischt. Aber dann hab ich es verfehlt und einen Baum getroffen.“

„Schon okay, Kleiner. Ich habe ziemlich oft daneben geschossen, als ich in deinem Alter war. Genau wie dein Daddy, obwohl du ihn wohl nie dazu kriegen wirst, das zuzugeben.“

Was für ein merkwürdiger Name – Derada, dachte Jane. Er klang auf unbestimmte Weise indisch, und sie fragte sich, ob Aaron Rivers’ religiöser Kult wohl östliche Einflüsse hatte. Wer war dieser junge Kerl, mit seiner hellen Haarmähne, nach deren Goldton Jane mit ihrem eigenen Schmutzigblond sich in ihrer Jugend gesehnt hatte, und über den sie seither herausgefunden hatte, dass es ihn kaum je irgendwo gab, es sei denn, er kam aus der Flasche? Er hatte den athletischen Körperbau eines Mannes, der mehr Zeit im Fitnessraum als hinter einem Schreibtisch verbrachte. Wahrscheinlich ein Mitläufer, den ein reicher Mann sich eher wegen seines Aussehens und seiner gefälligen Persönlichkeit hielt als wegen irgendwelcher anderen Talente, entschied sie.

Jane zermarterte sich das Hirn, um herauszufinden, an wen er sie erinnerte, dann kam sie darauf – O.J. Simpsons langjähriger Hausgast, Brian „Kato“ Kaelin. Der hier hatte definitiv das gleiche Benehmen und schien ebenso wenig ein Geistesriese zu sein. Jane schaute diskret auf ihre Uhr. Immerhin war es Samstagmorgen, aber die Tatsache, dass dieser Typ am 11.15 Uhr noch immer im Schlafanzug herumlief, sprach Bände. Großartig, dachte sie, genau die Art Person, die ich gern um meine Kinder herum haben würde. Wenn ich denn irgendwelche Kinder hätte. (2)

“Heute morgen kannst du mich Randy nennen, Galen,” fügte er beiläufig hinzu.

Zu spät, dachte Jane, In ihrem Kopf würde er immer „Kato“ sein. Aber Jane hatte wichtigere Sorgen. Während er die letzten Worte sprach, hatte sie seinen raschen Seitenblick gesehen, flüchtig und wachsam, und sie hatte den Eindruck von einem Geschöpf des Waldes, das sich beobachtet wusste.

“Okay… Randy.“ Galen kicherte, als wäre das eine Art geheimes Spiel zwischen den beiden.

Geheimnisse waren nie etwas Gutes, und Jane seufzte innerlich über die Gleichgültigkeit von Eltern, die ihr Kind, bedenkenlos der Fürsorge eines Hausgastes überließen. Ich behalte dich im Auge, „Kato“, das solltest du besser glauben!

Neben ihr räusperte sich Aaron Rivers Assistent.

„Ich hoffe, ich bin nicht in einem ungünstigen Augenblick gekommen, Mr. Butler.“ sagte Jane.

Er zuckte die Achseln. „Wenn ich Ihnen sagen würde, dass es ein ungünstiger Augenblick ist, dann bin ich sicher, wir würden Sie wiedersehen. Und Sie wären bei dieser Gelegenheit mit noch mehr offiziellen Papieren bewaffnet, habe ich Recht, Mrs. Jankowski?“

Jane lächelte matt.

„Es spielt keine Rolle,“ fuhr Glenn fort. „Das ist ein so guter Zeitpunkt wie jeder andere, und ich habe Ihren Besuch mit Mr. Rivers geklärt. Gibt es irgendetwas, das ich für Sie tun oder für Sie holen kann?“

Jane schüttelte den Kopf und nickte entwaffnend. „Im Moment würde ich Galen gern in seiner natürlichen Umgebung beobachten. Sie machen alle weiter wie immer und ignorieren mich. Wenn es irgendwas gibt, das ich fragen will, dann gebe ich Laut.“

„Wie Sie meinen, Mrs. Jankowski. Dann gehe ich jetzt einfach weiter den Nippes abstauben.“

Während er sich abwandte, gab Jane sich selbst einen kleinen, geistigen Klaps. Natürliche Umgebung, also wirklich! Sie hatte es beinahe so klingen lassen, als wäre sie die Gastgeberin einer Naturshow, die aus einem Geheimversteck gerade einen seltenen Schreikranich beobachtete. Aber was für ein luxuriöses Geheimversteck das war, dachte Jane, während sie die Möblierung des Raumes in sich aufnahm, von den Orientteppichen auf dem Boden über die Gemälde an den Wänden zu dem Zwei-Meter-Siebzig-Flügel, der das andere Ende des Zimmers schmückte. Selbst der „Nippes“, den Glenn gerade bearbeitete - eine Sammlung asiatischer Jadeskulpturen, die das Field Museum beschämt haben würde - sprach von Reichtum und feinem Geschmack. Lass dich nicht ablenken, warnte Jane sich selbst. Du weißt, dass Aaron Rivers mehr Geld hat, als er ausgeben kann. Aber hat er auch genügend Verstand, um seinen Enkel zu beschützen? (2)

„Tu mein Video rein, Randy!“ rief Galen.

„Okay,“ sagte der junge Mann und warf dem Jungen ein geduldiges Lächeln zu. Er drückte einen Knopf in der Sofalehne und ein Flachbildschirm-Fernseher erhob sich aus dem Fußboden. „Kato“ ließ eine DVD in einen Player unter dem Fernseher gleiten, drückte einen anderen Knopf und ließ sich im Schneidersitz neben Galen nieder. Die beiden schauten gebannt zu, wie der vertraute Dialog von Bob der Baumeister aus der Anlage drang.

„Können wir das schaffen?“ fragte der animierte Knetfigur-Bob.

„Ja, wir schaffen das!“ intonierten Galen und „Kato“ einstimmig.

Neben Jane zog Glenn eine gepeinigte Grimasse und legte sein antistatisches Tuch mit einer Haltung steinerner Ruhe beiseite. Er schloss die gläserne Vitrine und ging zu einem Buffet hinüber, wo eine Dekantier-Karaffe mit Rotwein wartete. Er schenkte sich selbst ein Glas großzügig voll und goss den Inhalt mit einem einzigen, langen Zug hinunter. „Jeder verdammte Tag in den letzten drei Monaten,“ sagte er zu Jane; das sollte wohl eine Erklärung sein.

Während er zu seinen Abstaub-Pflichten zurückkehrte, tat Jane ihr Bestes, ein missbilligendes Schnüffeln zu unterdrücken, Sie holte ihren Notizblock heraus und kritzelte rasch: Kind wird Zeuge von Alkoholmissbrauch.

In diesem Moment kam eine dunkelhaarige Frau, die aussah, als wäre sie etwa in Janes Alter, durch eine der französischen Türen hereingeschlendert. Jane erwärmte sich auf der Stelle für sie, denn sie war das erste „normal“ aussehende menschliche Wesen, das sie unter all diesen unmöglich exquisiten Model-Typen auf der Rivers-Besitzung zu Gesicht bekam. Jane fing an, sich zu fragen, ob Aaron Rivers wohl so hässlich wie eine Kröte war, wenn er darauf bestand, sich mit derart gutaussehenden Hausgenossen zu umgeben. Allmählich fand sie es beängstigend.

Zu Janes Überraschung ging die Frau zu Glenn hinüber, kniff ihn leicht in die Wange und verdrehte ganz leicht die Augen, als ihr der Weindunst in die Nase stieg. „Hi, Babe, wo sind Felice und Linda?“

„In der Küche, beim Backen,“ erwiderte er, „Hörst du für heute morgen auf?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Bloß eine schnelle Pause für eine Tasse Tee. Ich komme mit der letzten Landschaft gerade ganz phantastisch voran.“

„Tante Posey!“ rief Galen von seinem Sitzplatz vor dem Fernseher aus. „Malst du immer noch heute Nachmittag Wasserfarben mit mir?“

„Darauf kannst du wetten, Süßer,“ sagte sie. „Gleich als Erstes nach dem Mittagessen.“

Jane schlenderte herüber, um sich vorzustellen; sie bemerkte einen starken Geruch nach Leinöl und Terpentin, der von einem Malerlappen ausging, der aus der Hosentasche von Poseys Jeans heraushing.

Posey schüttelte ihr rasch die Hand und warf Glenn einen Seitenblick zu, der die Achseln zuckte, schräg grinste und sich wieder ans Abstauben machte. „Mariposa Butler. Wie ich sehe, versuchen Angus Duncan und Jim Fitzhugh es wieder einmal. Letztes Jahr schickten sie wegen Tevildos Tollwutimpfungen das Veterinäramt hier heraus, und im Jahr davor war es die Umweltbehörde, wegen einer Sumpfland-Schutzverordnung über den Teich hinter dem Haus. Das wird langsam lächerlich.“

„Ach Liebling… du weißt doch, dass Fitzhugh bloß gern noch eine Chance hätte, dich mit offener Bluse zu erwischen,“ murmelte Glenn, der sich ein Grinsen verkniff.

Posey zog ein Gesicht. „Ich wäre absolut und freudig bereit ihn noch öfter mit meinem Busen anzublitzen, solange das ihn und seinen Partner dazu bringt, Aaron in Ruhe zu lassen.“

Jane tat ihr Bestes, bei der Erwähnung jener „anonymen“ Beschwerdeführer weiter ein neutrales Gesicht zu machen. Sie fand es außerdem leicht verblüffend, dass diese beiden so offensichtlich Mann und Frau waren. Rivers’ Assistent war ihr nicht wie die Art Mann vorgekommen, die heiratet, aber – ehrlich gesagt – der junge Aransen ebenso wenig. Na ja, bei diesen Künstlertypen konnte man nie wissen.

„Mrs. Butler,“ sagte sie ernsthaft, „Ich hoffe, Sie verstehen, dass es nicht gut wäre, den kleinen Galen in die Nähe Ihrer Ölfarben zu lassen. Die können sehr giftig sein, wissen Sie.“

„Nennen Sie mich Mariposa, Jane,“ sagte Posey übertrieben geduldig. „Und lassen Sie mich Ihnen versichern, dass Galen Besseres zu tun hat als mein Titaniumweiß zu essen. Aber selbst wenn er das nicht hätte - mein Studio ist draußen über den alten Stallungen und da geht er nie ohne mich hin. Ich liebe den Jungen, als wäre er mein eigener.“

Jane nickte und lächelte zurücK; sie spürte die Ehrlichkeit hinter Mariposas Blick. Galen hatte hier wenigstens einen Beschützer.

“Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen… ich muss mir meinen Tee holen und zurück ins Studio gehen, ehe meine Pinsel hart werden.“ Posey ging durch eine andere Tür, die in einen Essbereich und – wie Jane annahm – in die Küche führte. Sie kam an dem jungen Aransen vorbei, der gerade aus der anderen Richtung kam.

„He, Glenn,“ sagte er und nickte dem Assistenten zu, der sein Staubtuch wieder hinlegte. „Ich hab Tevildos Katzenklo mal einer Schnellbehandlung mit der Schaufel unterzogen, als ich hereingekommen bin. Ich dachte, du könntest eine Pause gebrauchen.“

„Das ist nett von dir, Leif,“ sagte Glenn und hielt ihm ein Handy hin. „Ich fürchte, den Gefallen kann ich dir nicht erwidern. Gary hat angerufen, während du mit Galen draußen im Wald warst. Großer Notfall mit der Landschafts-Firma.“

„Verdammt,“ murmelte Aransen. „Was ist denn jetzt?“

Glenn zuckte leicht mit den Achseln, als Leif das Telefon aus seiner ausgestreckten Hand nahm und seinen langen Körper auf das Sofa fallen ließ.

Er tippte eine Nummer ein. „Ja, Gary, was gibt’s?“ Er hielt inne und lauschte. “Mrs. Gottrochs? Das passt. Mir ist egal, worauf sie jetzt wieder besteht, sie hat Hemerocallis für ihren Hinterhof bestellt, keine asiatischen Lilien. Überprüf ihre Akte – du wirst ihre Notiz auf den Photos sehen. ,Ich liebe diese Taglilien’, und das ,i’ hat sogar ein Herzchen als I-Punkt. Jawohl, das ist eine charmante Angewohnheit für eine Frau in ihrem Alter.“ Aransen schlug die Beine übereinander und fing an, während er sprach, mit dem Fuß zu wippen.

Mittlerweile war die DVD zu Ende und Kato schaltete den Fernseher aus. „Lass uns wirklich was bauen, Randy,“ schlug Galen vor. Das Kind und der junge Mann zogen eine große Kiste mit Holzklötzen unter einem Seitentisch hervor und kippten sie auf den Fußboden. Galen kniete, während Randy sich bäuchlings auf den Teppich legte. Er ließ ein Fuß in der Luft schwingen und das Hosenbein seines Pyjamas rutschte auf Kniehöhe hinunter und entblößte - wie Jane nicht umhin kam, zu bemerken - eine sehr wohlgeformte, blasse, unbehaarte Wade.

Wieder seufzte sie. Ihr wurde klar, dass ihr letztes Date wirklich zu lange her war, wenn ein Mann, der sich offensichtlich die Beine mit Wachs enthaarte, eine solche Wirkung auf sie ausübte.

„Schau, Gary, es ist Samstag und ich bin bei meinem Kind,“ sagte Leif. „Kümmer dich einfach so gut um die Sache, wie du kannst. Klimper mit den Wimpern. Sag ihr, wir machen die Arbeit umsonst, wenn sie für die neuen Blumenzwiebeln zahlt und die alten, die wir ausgraben, dem Ronald MacDonald-Haus stiftet. Du und ich, wir wissen beide, dass sie sich bloß eine weitere Gelegenheit wünscht, meinen Arbeitern einen Nachmittag lang beim Schwitzen zuzusehen.“

Galen und Randy hatten angefangen, die Klötze aufzustapeln und bauten einen Turm. Die Dinge schienen soweit unter Kontrolle zu sein, vor allem, da der Vater im Zimmer war. „Mr. Butler, ich frage mich, ob ich jetzt wohl Galens Zimmer sehen könnte?“ sagte Jane leise.

Glenn nickte. „Hier entlang.“ Er führte sie am Eingangsbereich vorbei einen langen Flur hinunter und eine halbe Treppenflucht hinauf. Sie schienen sich jetzt in einem neuen Flügel des Hauses zu befinden, der sich nach hinten zog. Glenn öffnete die dritte Tür links und bedeutete Jane, einzutreten.

Jane konnte nur lächeln. Sie wusste nicht, was sie für den Enkel des Mannes erwartet hatte, dem Dale Toy Company gehörte, aber Galens Zimmer stellte sich als angenehme Überraschung heraus. Seine Regale waren mit Spielzeug bestückt, aber nicht übermäßig, so wie sie es schon früher bei anderen Eltern gesehen hatte, die vesuchten, einen Mangel an Zeit und Zuneigung gutzumachen. Er hatte ebenso viele Bücher wie Spielsachen. Das auffallendste Stück - ein fast lebensgroßes, Palomino-Schaukelpferd mit echtem Rosshaar - stand in einer Ecke und seine Beine erhoben sich aus realistisch aussehendem Gras, das an den Schaukelkufen befestigt war.

„Wer hat die Wände bemalt?“

„Meine Frau,“ sagte Glen mit einem liebevollen Lächeln. „Es hat ihr große Freude gemacht.“

„Weiße Hirsche – Mariposa hat eine ziemliche Phantasie,“ sagte Jane. „Ist das Bett antik?“

Seltsam genug biss sich dieses Bett, ein Jugendmöbel mit einem hohen Kopfteil, das in Gestalt einer Frau mit schützend ausgestreckten Armen geschnitzt war, keineswegs mit den geraden Linien des Zimmers von Frank Lloyd Wright. Jane dachte, dass es eine ganz schöne Stange Geld gekostet haben musste.

„Es ist die Kopie von einem Bett aus… Europa,“ sagte Glenn. „Aaron hat es selbst gemacht, als Galen aus seiner Wiege herausgewachsen war. Das war auch eine sehr schöne Arbeit von ihm.“

„Aaron? Wie in.., Mr. Rivers?“ Jane fiel es schwer, sich einen Multi-Milliardär vorzustellen, der seine Zeit mit Schnitzen verbrachte.

„Ja, der stolze Großpapa in Person. Aaron ist höchst unvernünftig in dieses Kind vernarrt.“ Glenn zuckte die Achseln. „Na schön, mit Leif war es genauso schlimm, und Leif ist gut geraten. Tatsächlich ist er sehr gut geraten.“

Jane warf Glenn einen ungläubigen Blick zu. Er schien kaum älter zu sein als Aransen selbst; wohl kaum alt genug, um ihn in seiner Kindheit gekannt zu haben, und noch viel weniger, um sich eine Meinung über die elterlichen Fähigkeiten seines Vaters zu bilden. „Sind Sie so eine Art Jugendfreund?“

„Ein Jugendfreund?“ Glenn lächelte. “Ja, ich nehme an, das könnte man sagen. Wir kennen uns alle schon ein Weilchen.“

Jane seufzte und sah sich ein letztes Mal in Galens Raum um. „Ich denke, ich habe alles gesehen, was ich hier sehen muss.“ Wenn sie erwartet hatte, Schmutz oder Vernachlässigung zu finden – davon hatte sie nichts gesehen. Nur das Zimmer eines vielgeliebten Kindes.

Sie folgte Glenn zurück ins Wohnzimmer. Leif hatte seinen Telefonanruf beendet, las in der zerfledderten Ausgabe des Onion und gluckste leise vor sich hin. Randys und Galens Turm war zu gewaltigen Ausmaßen gewachsen, mehr als einen Meter hoch.

„Wir wollen ihn umschmeißen,“ sagte Galen mit mutwilliger Begeisterung.

„Es gibt zwei Arten, einen Turm einzureißen,“ sagte Randy „Kato“ und grinste zurück. „Wenn du stark genug bist, kannst du ihm einfach einen Schubs geben. Oder du kannst subtil sein und Stück für Stück vorgehen, so zum Beispiel.“ Als wollte er es illustrieren, zog er an einem Klotz an der Basis und löste ihn sachte aus dem Stapel. Der Turm bebte leicht, aber er blieb stehen.

Galen kicherte und zupfte ein Klötzchen aus der anderen Seite heraus. Wieder zitterte der Turm, aber er hielt. Randy rieb sich das Kinn und betrachtete den Stapel genau. „Dicht dran, Galen.“ Es gelang ihm, ein drittes Klötzchen heraus zu bekommen; der Turm schwankte gefährlich, ohne zu fallen. „Ich denke, beim nächsten Mal klappt’s.“

Galen warf ihm ein strahlendes Lächeln zu und pflückte ein weiteres Klötzchen weg. „Und da kommt er!“ riefen die beiden gemeinsam, als die Klötzchen mit gedämpftem Krach auf den Teppich prasselten. Leif blickte von seiner Zeitung auf, verdrehte die Augen und lächelte nachsichtig.

„Erzähl mir noch mal, wie die Türme gefallen sind, Derada,“ sagte Galen; sein Gesicht leuchtete. „Das ist meine Lieblingsgeschichte – nach Bob der Baumeister natürlich.“ Jane hörte Glenn leise lachen. Er war wieder mit Abstauben beschäftigt.

„Dein Daddy war da, als der erste fiel, Galen, und er hat mir gesagt, es wäre ein wunderschöner Anblick gewesen, ihn zusammenstürzen zu sehen. Wir waren alle sehr stolz auf deinen Daddy,“ sagte Randy und warf einen raschen Blick über seine Schulter zurück auf den jungen Aransen. „Ich bin wegen einer Menge Dinge stolz auf deinen Daddy, Galen.“

„Ich werde gleich rot… Randy,“ sagte Leif ruhig und schaute über den Rand seiner Zeitung.

Randy „Kato“ lächelte und wandte den Blick wieder ab. Jane konnte sehen, wieso Rivers und seine Familie ihn bei sich haben wollten. Er war ganz sicher äußerst dekorativ. „Ich stand in den Ruinen des zweiten, zwei Wochen später, und mein Herz sang,“ fuhr er fort. „Der Turm entweihte den Boden, auf dem er stand. Wir hätten ihn eher niederreißen sollen.”

Galen starrte, völlig fasziniert. Jane allerdings spürte, wie ihr das Herz kalt wurde. Irgendetwas war ,faul’ an Aaron Rivers, hatte Doug gesagt. Sie hatte Steuerbetrug und Geldwäsche für das Schlimmste gehalten, aber jetzt, bei einer solch ausdrücklichen Freude über eingestürzte Türme, nahm das Ganze eine entschieden üble Wendung. War Rivers’ Menschenfreundlichkeit eine Bemäntelung für terroristische Kontakte?

Jane wandte den Kopf und sah, dass Glenn Butler aufgehört hatte, abzustauben und sie genau beobachtete. Er vermutet etwas, dachte sie. Ich muss hier raus, aber erst möchte ich diesen Aaron Rivers selbst sehen. Er ist der Schlüssel.

„Das ist eine uralte Geschichte, Mrs. Jankowski,“ sagte Glenn, einen Blick in den Augen, der ihr bestätigte, dass er ihr Unbehagen bemerkt hatte. „Sie verstehen das nicht.“

Ach, wirklich nicht? dachte sie. Aber ehe sie antworten konnte, kamen zwei Frauen aus dem Hintergrund in das Wohnzimmer geschlendert.

Beide waren dunkelhaarig, hochgewachsen und unglaublich gutaussehend. War Glenn Butlers Frau denn die einzige Person im gesamten Haushalt, die älter war als Dreißig? fragte Jane sich ungläubig. Man hätte die beiden mit ihren feinen Gesichtszügen versehentlich für Schwestern halten können, abgesehen davon, dass eine der beiden Augen von einem dunklen Graublau hatte, die aussahen wie die von Glenn, während die andere – die der schützenden Frau auf dem Kopfteil von Galens Bett merkwürdig ähnlich war – graue Augen hatte, so blass, dass sie fast unwirklich wirkten. Diese zweite Frau trug ein Halsband aus Silber und Mondstein, das perfekt zu ihren ungewöhnlichen Augen passte. Während Jane sie noch anstarrte, beugte sie sich hinunter, um einen Mehlschmierer von Saum ihrer schlichten Tunika zu bürsten.

Oh ja, dachte Jane. Hier musste es echtes Geld geben, wenn die Frauen beim Kochen Designerklamotten trugen.

Galen rappelte sich hoch und rannte zu der blauäugigen Frau und warf die Arme mit genügend Kraft um ihre Mitte, dass der Teller mit Gebäck, den sie trug, ins Schwanken geriet. „Mama!“

„Langsam, Galen,“ lachte sie und schwankte anmutig unter seinem Anprall. Sie schenkte Jane ein Lächeln. „Posey hat uns gesagt, wir hätten eine Besucherin. Möchten Sie gern eine Erfrischung, Mrs. Jankowski?“

Jane begann mit ihren üblichen, höflichen Entschuldigungen. Das Erste, was ein Sozialarbeiter lernt, ist, kein Essen von einem Klienten anzunehmen, und diejenigen, die diese Weisheit ignorierten, verbrachten oft eine elende Nacht auf der Toilette. Aber in dem Moment, als das unwiderstehliche Aroma von Backwerk ihre Nase erreichte, hörte sie sich selbst sagen: „Ja, vielen Dank. Das möchte ich wirklich gern.“

Maisbrot, dachte sie, als die ersten Bissen auf ihrer Zunge schmolzen. Aber was für ein Maisbrot! Sie genoss die leichte, luftige Beschaffenheit, süß, aber nicht widerlich überzuckert, und eigenartig befriedigend für etwas mit so wenig Substanz. Ehe sie es merkte, hatte Jane das erste Stück aufgegessen und das zweite angenommen, das ihr angeboten wurde.

„Es ist Zeit für deine Klavierstunde, Galen,“ sagte die andere Frau, die mit den geisterhaft bleichen Augen.

„Ja, geh jetzt mit Felice,“ sagte die erste, Das musste die Mutter sein, Linda Singer, dachte Jane; sie stellte fest, dass sie in einem Blick ertrank, der verblüffend gelassen war für eine Frau, die sich einer Mitarbeiterin von Kinderschutzdienst gegenüber sah.

„Was ist mit den Klötzchen, Mama?“ sagte Galen.

„Randy kann sie für dich aufheben. Er hat dir geholfen, das Durcheinander anzurichten; er kann dir auch beim Aufräumen helfen.“ sagte Linda.

„Und dieses Mal,“ echote die andere Frau – Felice – und warf ein verschmitztes Lächeln in „Kato“’s Richtung. „wird Randy sie tatsächlich alle selbst aufheben und nicht Onkel Glenn die Sache für ihn erledigen lassen.“ Sie nahm Galen bei der Hand und führte ihn zu dem großen Flügel hinüber, wo sie ihn auf ein dickes Telefonbuch setzte. Jane riskierte einen vorsichtigen Blick auf die Inschrift auf der Klaviaturklappe und nickte. Natürlich erhielt Aaron Rivers’ Enkel seinen Unterricht auf einem Zwei-Meter-Siebzig-Boesendorfer.

Felice setzte sich neben den Jungen, und die beiden begannen sofort mit einer Reihe schneller Tonleitern.

„Haben Sie irgendwelche Fragen an mich, Mrs. Jankowski?“

„Hmmmm?“ Jane zuckte zusammen und begriff, dass sie ihr drittes Stück Maisbrot schon halb verspeist hatte. Galens erstaunliches Geschick am Klavier hatte sie stärker abgelenkt, als das hätte geschehen dürfen. „Ach nein… Mrs. Singer, nicht wahr? Vielleicht später, aber im Moment hätte ich gern, dass Sie so weitermachen wie üblich, Ignorieren Sie mich einfach.“

„Linda, bitte. Haben Sie Aaron schon getroffen?”

„Mr. Rivers? Nein, habe ich nicht, aber das würde ich gern, bevor ich gehe. Ich bin sicher, er ist ein vielbeschäftigter Mann.“

Linda warf Randy einen raschen Seitenblick zu - er kauerte auf allen Vieren und fischte ein verirrtes Klötzchen unter einer Sitzbank hervor – und hob eine dunkle Augenbraue. „In der Tat. Ich bin sicher, Aaron wird sich zeigen, wenn die richtige Zeit gekommen ist. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe meinen Ehemann den ganzen Morgen noch nicht gesehen.“

Sie stellte den Teller mit Maisbrot auf der Anrichte in der Nähe ab und gesellte sich zu dem jungen Aransen auf das Sofa. Er legte einen Arm um sie, zog sie dicht an sich und küsste sie auf den Kopf, ehe er sich wieder seiner Zeitung zuwandte.

Jane legte Abstand zwischen sich und die Anrichte, bevor sie versucht wurde, den ganzen Teller leer zu essen. Inzwischen hatte Galen seine Tonleitern beendet und stürzte sich in eine überaus kundig vorgetragene Version von Mozarts Ah vous direz-je, Maman. Er spielte allein, die kleine Stirn konzentriert gerunzelt, während Felice aufmerksam zuschaute.

„Gut gemacht, Galen,“ rief sie aus, als er die zweite Variation beendet hatte.

„Das ist ein Babylied, Dear Nana,“ protestierte er. „Ich will etwas spielen, das schwerer ist. Ich will dein Lied spielen.“

„Eines Tages, Kleiner,“ sagte sie. „Aber deine Hände sind noch nicht groß genug.“

„Wann?“ fragte er. „Wenn ich mit am Genfer See mit Jacob und David spielen gehe, dann sind sie so viel größer als ich. Das ist nicht fair. Ich werde immer klein sein.“

Jane stellte fest, dass Felice ihr einen diskreten Blick zuwarf. „Nein, das bist du nicht, Galen. Du bist groß für dein Alter.“

Jane biss sich auf die Lippen. Lüg das Kind nicht an, dachte sie. Selbst wenn irgendetwas mit ihm nicht stimmt, sollte man ihm die Wahrheit sagen.

„Du wirst wachsen und groß und stark werden,“ fuhr Felice fort. „Du wirst die Hände deines Vaters haben, langfingrig und anmutig. Und du wirst die Hände deines Großvaters haben, klug, freundlich und sanft. Du hast alle Zeit der Welt, mein Kleiner.“

Felice legte ihren Arm um das Kind, zog ihn dicht an sich und umarmte ihn. „Du bist ein Geschenk gewesen für meine Geist, Galen. Ich wünschte, ich könnte dich noch lange Zeit klein halten. Für mich wirst du viel zu schnell groß werden.“

„Spiel dein Lied für mich, Dear Nana, “ sagte Galen. „Mein Lieblingslied, weißt du.“

„In Ordnung, Kleiner“, lachte sie. „Aber du musst meinen Ellbogen ein bisschen Platz lassen.“ Gehorsam rutschte der Junge auf der Bank zur Seite, während Felice ihre Arme lockerte und anfing zu spielen.

Chicagos klassischer Musiksender, WFMT, war Janes ständiger Begleiter im Radio des Kia, während sie ihre Runden machte, und sie hatte eine ordentliches Wissen über diese Art Musik entwickelt, zusätzlich zu der Tatsache, dass sie als junges Mädchen Klavierunterricht gehabt hatte. Nun war sie überrascht und beeindruckt, als sie hörte, dass Felice Franz Liszts Bearbeitung von Robert Schumanns Widmung in Angriff nahm. Dies war ein Stück, das sich nur für erfahrene Pianisten eignete, und Felice spielte es gut. Eine von Janes Lieblingsprogrammen mit Klavierklassik präsentierte alte Aufnahmen aus den 30er und 40er Jahren, und Jane erinnerte sich, dass sie die Werke einer Pianistin namens Felicia Ribeiro gehört hatte, die die Werke der Romantiker ausgezeichnet interpretiert hatte. Felice spielte genauso gut, und Jane fragte sich flüchtig, ob sie wohl nach dieser lang verstorbenen Pianistin genannt worden war.

Bei den ersten Arpeggios stand Randy vom Boden auf und schlenderte zum Flügel hinüber. Er lehnte sich gegen den Musiktisch, fing Felices Blick ein und lächelte bedeutungsvoll. Sie lächelte zurück, hielt inne und wiederholte die ersten Takte; sie kehrte zum Anfang der Komposition zurück, wartete auf ihn.

Er holte Atem und fing an zu singen, mit einem wunderschönen, reichtönenden Bariton: „Du meine Seele, du mein Herz, du meine Wonn', o du mein Schmerz . . . .“

Jane starrte mit offenem Mund. Randy, den sie als bloßes Leichtgewicht und als Mitläufer abgetan hatte, sprach ein makelloses Deutsch und sang wie ein Opernprofi. Was noch überraschender war: er und Felice, die Klasse ausstrahlte wie ein Diamant das Funkeln, waren offenbar ein Herz und eine Seele, denn während er sang, verließen seine Augen nicht einmal ihr Gesicht.

„Du meine Welt, in der ich lebe. Mein Himmel du, darein ich schwebe…“

Jane vergaß beinahe zu atmen; sie war so gebannt vom Zauber der Musik, dass sie Angst hatte, auch nur eine einzelne Note zu verpassen. Ich würde fast alles geben, dass ein Mann mich auf diese Weise anschaut, dachte sie.

„O du mein Grab, in das hinab ich ewig meinen Kummer gab…“

Jane konnte die Worte nicht verstehen, aber der Blick reiner Anbetung auf Randys Gesicht sagte ihr alles, was sie wissen musste. Verschwunden war der hübsche Surferknabe, verwandelt in…. sie wusste nicht, was es war. Der zerknautschte Flanell, der vorher so achtlos ausgesehen hatte, hing jetzt an seinem Körper herunter wie die Gewänder eines Königs aus alter Zeit. Als er beim Singen tief Luft holte, klaffte die linke Seite von seinem Revers ein kleines Stück auf und offenbarte seltsame, blaue Zeichen, die über seinem Herzen eintätowiert waren – Zeichen, die an die „Hühnerkrakel“ erinnerten, die Galen im Staub neben der Einfahrt hinterlassen hatte.

Wer sind diese Leute? fragte sie sich. Was ist es, das ich hier sehe?

„Du bist die Ruh, du bist der Frieden, du bist vom Himmel mir beschieden…“

Aus dem Augenwinkel bemerkte Jane, dass Linda und Leif, die schon dicht beieinander gesessen hatten, ehe der Gesang begann, sich jetzt sogar noch enger aneinander schmiegten. Aransen neigte seiner Frau den Kopf entgegen und liebkoste ihr Ohr. Glenn hatte sein Staubtuch hingelegt und beobachtete Randy mit einem abwesenden Lächeln auf dem Gesicht.

„Daß du mich liebst, macht mich mir wert. Dein Blick hat mich vor mir verklärt…“

Galen hüpfte von der Klavierbank herunter und rannte zu seinen Eltern hinüber. Er kletterte auf die Couch und zwängte sich zwischen sie, wobei er es fertig brachte, seinem Vater quasi im Vorübergehen auf die Weichteile zu steigen. Aransen gab ein schmerzerfülltes „Uff!“ von sich, eher er sich erholte und Frau und Kind in eine enge Umarmung hineinzog. Jane sah, dass er lachte und Linda ins Ohr flüsterte: „Später…“

„Du hebst mich liebend über mich…“

Ach, zum Teufel auch, dachte Jane, ging wieder zur Anrichte hinüber und nahm sich noch ein Stück Maisbrot. Was tat sie eigentlich hier? Ihr Job war es, Kinder aus unglücklichen und gefährlichen, häuslichen Situationen zu retten, und während ihr Kopf ihr sagte, dass diese Leute mehr als nur ein klein wenig merkwürdig waren, sagte ihr das Herz etwas anderes. Sie hatte nichts zu Gesicht bekommen als ein Heim voller Liebe, und ein glückliches Kind, das von jedem Erwachsenen in diesem Haushalt angebetet wurde. Da war natürlich die Sache mit Randys verstörender Bemerkung über fallende Türme, aber darüber würde sie sich später Sorgen machen. Jane war hier fertig.

Nachdem sie sich ein zusätzliches Stück Maisbrot in den Rucksack gesteckt hatte, drehte Jane sich um und sah, wie Randy eine Hand ausstreckte, um die Wange von Felice zu streicheln. Felices bleiche Haut färbte sich bei dieser Zärtlichkeit rosa, aber es gelang ihr weiterzuspielen, ohne eine Note auszulassen.

„Mein guter Geist, mein beßres Ich!“

Während Felice sich in die abschließende Passage stürzte und das Thema spielte, dass dem Ave Maria entlehnt war, verließ Jane leise das Zimmer. Vielleicht war es rüde von ihr, ohne Erklärung zu gehen, aber sie bezweifelte, dass irgendwer sie vermissen würde. Leif und Linda saßen aneinandergekuschelt auf dem Sofa, ihren kleinen Jungen zwischen sich, in ihrer eigenen, weit entfernten Welt verloren. Nach dem die letzte Note verklungen war, zog Randy Felice hoch und in eine heftige Umarmung hinein, und die beiden küssten sich so leidenschaftlich, als wäre es für sie das erste Mal - was nach allem, was Jane wusste, sehr wohl sein mochte.

An der Vordertür drehte sich Jane für einen letzten Blick um. Randy löste sich kurz aus der Umarmung, schaute ihr über Felices Schulter hinweg gerade in die Augen und zwinkerte ihr zu. Er formte mit dem Mund einen kurzen Satz und kehrte zu seinem „Clinch“ zurück.

Jane hätte schwören können, dass er „Le Chaim!“ gesagt hatte.

Am Fuß der Feldsteintreppe holte Glenn Butler sie ein. „Sie gehen so bald? Sie haben noch nicht mit Mr. Rivers gesprochen.”

„Das ist nicht nötig. Ich habe alles gesehen, was ich sehen musste. Zurück in Chicago gibt es Kinder, die tatsächlich meine Hilfe brauchen, also werde ich Ihre Zeit nicht länger verschwenden.“

„Kann ich Sie dann zurück zum Tor fahren, Mrs. Jankowski?“

Jane schüttelte den Kopf. „Nein danke, Mr. Butler. Ich ziehe es vor, zu laufen – ich brauche Bewegung.” Sie hatte den Verdacht, dass sie sich an dem Maisbrot überfressen hatte, und sie fing an, sich ziemlich „voll“ vorzukommen. Aber anstatt sich elend oder schlapp zu fühlen, schien sie geradezu von grenzenloser Energie durchflutet zu sein.

„Gut,“ erwiderte er. „Ich möchte rasch hinaus ins Studio; dort habe ich vor, etwa eine Stunde mit der angenehmen Aufgabe zu verbringen, die Pinsel meiner Frau hart werden zu lassen. Aus irgendeinem Grund hat es immer genau diese Wirkung auf mich, wenn Aaron dieses Lied singt.“

Jane stutzte. „Aaron?“

Glenn lächelte farblos.

„Aaron, so wie in Aaron Rivers?”

„Ja, Mrs. Jankowski, ein und derselbe. Er hat eine schöne Singstimme, nicht wahr?“

„Aber… aber…“ Wie konnte es möglich sein, dass dieser junge Mann, der noch nicht einmal so aussah, als wäre er Dreißig, Aransens Vater war – oder gar Galens Großvater?

„Er hält sich fit. Die Schönheitschirurgie wirkt heutzutage Wunder. Er hat unglaublich gute Gene und eine wirklich großartige Knochenstruktur. Suchen Sie sich etwas aus,“ sagte Galen mit einem rätselhaften Lächeln. „Aber wirklich, Jane, Sie werden besser schlafen, wenn Sie nicht nach einer Erklärung suchen. Akzeptieren Sie es einfach.“

„Ja, Glenn,“ seufzte sie. „Ich glaube, das werde ich tun.” Sie wandte sich zum Gehen.

„Leben Sie wohl, Jane,“ rief Glenn über seine Schulter zurück, während er nach hinten auf die alten Stallungen zueilte. „Und halten Sie sich an den Weg. Sie werden in diesen Wäldern wildere Dinge finden als nur einen Vater, der seinem kleinen Sohn das Bogenschießen beibringt.“

„Aliens, Pod People… Feen?“ murmelte Jane vor sich hin, während sie wieder die Auffahrt hinunterwanderte, sich der Tatsache unangenehm bewusst, dass Selbstgespräche das erste Anzeichen eines beginnenden Nervenzusammenbruchs waren. Vielleicht waren Aaron Rivers und sein Clan Mitglieder irgendeiner exotischen Volksgruppe, von der sie aus unbekannten Gründen noch nie etwas gehört hatte. Da gab es diese unglaublich langlebigen Georgier aus der alten Joghurtwerbung… ja, vielleicht war das die Erklärung. Aber nein, diese Großväterchen und Großmütterchen hatten auch wie Großväterchen und Großmütterchen ausgesehen. Jane entschied, dem Rat von Glenn zu befolgen und im Moment nicht mehr weiter darüber nachzudenken. (3)

Die ganze Zeit, seit sie das Maisbrot gegessen hatte, schien ihr Hörvermögen geschärft zu sein, genauso wie ihre anderen Sinne. Während sie lief, hörte Jane Geräusche aus den Wäldern, zusätzlich zu dem Rascheln der Blätter und dem Knarren der Zweige. Sie hörte silbrige Stimmen, die sich zu Gelächter erhoben und einmal sogar den Klang einer Harfe. Sie sprachen zu ihrem Herzen, aber sie folgte Glenns Rat, ignorierte sie und hielt sich an den Weg. Das bildest du dir alles ein, Jane. sagte sie sich.

Als sie schätzungsweise Dreiviertel des Weges zum Tor zurückgelegt hatte, hörte sie wieder Musik, die von hinter der nächsten Erhebung in der Auffahrt kam.

„My my, hey hey; rock and roll is here to stay. It's better to burn out than to fade away…“

Das konnte sie sich nicht einbilden, und tatsächlich fuhr ein grüner Ford Pickup mit einem Nummernschild aus Wisconsin und einem Aufkleber, auf dem es hieß „Tigerton Junior-Handelskammer“ über die Anhebung; die Fenster waren offen und der CD-Player dröhnte. Die Stoßdämpfer hatten ein bisschen Arbeit nötig, dachte Jane, so, wie der Wagen durch die Spurrillen holperte. Ein junger Mann in olivgrünen Hosen und Camouflage-T-Shirt – natürlich mit langen Haaren – lehnte sich auf der Fahrerseite aus dem Fenster.

„Bin hier, um die Familie zu besuchen.“ sagte er lakonisch und drehte die Anlage leiser, damit sie ihn hören konnte. „Kann ich Sie zum Tor zurückfahren, junge Lady?“

Noch so einer! dachte Jane. Dieser Aaron Rivers hatte anscheinend zwei Söhne, denn der Neuankömmling hätte Aransens Bruder sein können, nach seinem flachshaarigen Kopf und den feien Gesichtszügen zu urteilen. Sie hätte beinahe gelacht; der Yuppie und der Hippie!

„Nein, dankeschön,“ sagte sie laut. „es ist nicht mehr weit. Ich laufe lieber.“

„Sind Sie sicher?“ fragte der junge Mann.

„Sie sind sehr freundlich, aber danke, nein.“

„Ganz sicher?“ grinste er.

Ein hübsches, blondes Mädchen, das auf dem Beifahrersitz saß, ergriff das Wort. „Lass die nette junge Lady in Ruhe ihre Angelegenheiten erledigen, Orrie. Ich hab’s eilig, ich würde gern die Jungs sehen.“ Sie hatte hellgoldenes Haar, genau wie Aaron. Na, solches Haar musste einfach aus der Flasche kommen, sagte sich Jane.

„Also, Süße, ein bisschen Geduld,“ sagte er und tätschelte das hell gemusterte Knie unter ihrem indianisch bedruckten Großmutterkleid. „Eine Lektion, die mir das Leben endlich beigebracht hat, ist Geduld. Wir haben alle Zeit der Welt.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit zu Jane zurück und zuckte die Achseln. „Na dann, wie Sie möchten, Miss. Es ist ein hübscher Tag für einen Spaziergang. Aber bleiben Sie auf der Auffahrt, es ist jetzt nicht mehr weit.“

„Ich weiß – wilde Dinge in den Wäldern,“ lachte Jane, während er den Gang einlegte und die Lautstärke der Anlage wieder aufdrehte.

Der Wagen fuhr los und Musik drang aus den offenen Fenstern. „The king is gone but he's not forgotten…“

Jane sah zu, wie er über die nächste Anhöhe verschwand, ehe sie sich umdrehte und in Richtung Tor weiterlief. „Hey hey, my my; rock and roll can never die. There's more to the picture than meets the eye . . . .”

„Das kannst du laut sagen,“ murmelte sie. Sie fühlte sich, als wäre sie in eines dieser Bilder von M.C. Escher hineingetreten, wo oben sich nach unten verkehrte und die Dinge sich verwandelten, je länger man sie anstarrte. Und doch – wie bei einem Escher-Bild – war ihr ein kurzer Blick in eine magische Welt gestattet worden. Hier gab es keine Monster, oder vielleicht doch?

Binnen kurzem kam das Tor in Sicht. Hal stand da und wartete auf die, die Arme locker vor der Brust verschränkt.

Also, sagte sie sich, das ist der Teil, wo – wenn Aaron Rivers und seine Familie tatsächlich ein Nest von Terroristen sind - ich feststellen muss, das ich in die Mündung der Waffe dieses gutaussehenden Wachmannes schaue, und sechs Monate später finden sie meine Leiche im Kofferraum meines Wagens, versenkt in irgendeinem Tümpel in Beloit.

Sie fing gerade an, über ihren eigenen Witz zu glucksen, als sie sah, dass Hal lächelte und seine Hand langsam in Richtung Hüfte sinken ließ…

____________________________________________________________________

Anmerkung der Autorin: Das ist der zusammenhängende Text des Gedichtes „Widmung“ von Friedrich Rückert, vertont von Robert Schumann und (auf höchst vertrackte Weise) für Piano bearbeitet von Franz Liszt:

Du meine Seele, du mein Herz
Du meine Wonn', o du mein Schmerz
Du meine Welt, in der ich lebe
Mein Himmel du, darein ich schwebe
O du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab

Du bist die Ruh, du bist der Frieden
Du bist vom Himmel mir beschieden.
Daß du mich liebst, macht mich mir wert
Dein Blick hat mich vor mir verklärt
Du hebst mich liebend über mich
Mein guter Geist, mein beßres Ich!

Der Text von „Out of the Black and into the Blue“ stammt von Neil Young.

(1) The Onion – amerikanische Satire-Zeitschrift

(2) Brian “Kato” Kaelin – wohnte im Anwesen von O.J. Simpson, als dessen Frau ermordet wurde. Er sagte auch gegen Simpson aus, galt aber als geistloser Muskelprotz und nicht als zuverlässiger Zeuge, und die Medien machten sich über ihn lustig.

(3) Field Museum – großes Naturkundemuseum in Chicago, mit verschiedenen anthropologischen Abteilungen, unter anderem für China und Tibet.

(4) Pod People – spanischer Science-Fiction-Film über eine Invasion von Aliens von 1983. Vorbild für den Hollywood-Horrostreifen The Body Snatchers.


Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home