Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 6
Gewitzte Vettern

“Frodo Beutlin, setz dich hin, oder ich verschnüre dich mit Faramirs Hängematte zu einem Bündel!”

Meriadoc Brandybock, Knappe von Rohan, stand vor seinem Vetter, die Hände auf den Hüften; seine Augen schossen Blitze auf den Ringträger. Frodo starrte mit zusammen gekniffenen Augen zurück.

„Ich schaue dir jetzt seit einer Stunde zu, wie du in diesem Zimmer auf und ab marschierst, und mein Hals wird langsam steif. Was erwartest du von Aragorn – dass er dich an die Spitze eines Heeres setzt, um unseren armen Sam zu befreien? Er weiß ja noch nicht einmal, wo die ihn gefangen halten, und er hat keine Ahnung, was das für ein Lösegeld ist, hinter dem dieses Pack her ist. Glaubt du nicht, er hat schon genug um die Ohren?“

Frodo öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er ging langsam zu einem der üppig gepolsterten Sessel neben dem Fenster hinüber und setzte sich; Meriadoc dachte, dass er überraschend alt aussah, und eine winzige Stimme in seinem Hinterkopf schrie in wütendem, kindischen Protest auf: Das ist nicht gerecht! Er hat doch wirklich schon genug gelitten, oder nicht?

Endlich sagte Frodo etwas; er starrte dabei auf den Marmorfußboden und seine Stimme war so leise, dass Meriadoc näher herantreten musste, um ihn zu verstehen.

„Das Problem ist: ich habe das deutliche Gefühl, dass mir irgend etwas entgangen ist,“ sagte er. „irgend etwas schrecklich Wichtiges, das ich nicht sehe, direkt vor meiner Nase, und ich begreife es einfach nicht. Und weißt du was? Ich glaube, die Zeit wird knapp.“

Er holte tief Luft.

„Ich bin kein Narr; ich weiß, ich wäre keine echte Hilfe, wenn es zum Kampf käme. Aber sobald Aragorn weiß, wo Sam ist und sobald er ihn dort herausholt – und ich weiß, das wird er – dann will ich bei ihm sein. Ich will nicht zurückgelassen werden, ein hilfloser Zuschauer der Taten anderer.“

Merry schnaubte.

„Du hörst dich an wie Éowyn,“ sagte er ein wenig kurz angebunden, „Und ich fürchte, du wirst den König von Gondor kaum zurückhalten können, wenn er sich entschließt, ohne dich auf eine Rettungsmission auszureiten.“

Frodo schüttelte den Kopf.

„Du hast Recht.“ Er hob den Kopf und starrte aus dem Fenster. Der Pelennor lag im Dunst der vollen Mittagshitze, die weit entfernte Bergkette im Osten war kaum mehr als eine dunkel wabernde Linie am Horizont. „Aber ich weiß, dass es etwas gibt, was ich beitragen kann, um zu helfen – wenn ich nur wüsste, was es ist, das mir dauernd entgeht.“

„Wer weiß inzwischen von Sams Entführung?“ fragte Merry. „Abgesehen von uns Hobbits, Aragorn und diesem netten, älteren Knaben aus dem Taubenschlag, meine ich?“

„Arwen,“ erwiderte Frodo abwesend, noch immer in Gedanken verloren. „Und die Hüterin der Juwelen... Artanis war ihr Name...“ Er hielt inne, runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippen. „Artanis... süßer Eru, ich wusste, es gab etwas, das ich übersehen habe!“

Merry starrte ihn an.

„Wer ist Artanis?“

Frodo hob den Kopf; seine Augen brannten, und als er sprach, hatte seine Stimme einen drängenden, erregten Tonfall.

„Die Hüterin der Juwelen, wie ich schon sagte.“ Er erhob sich aus dem Sessel und fing wieder an, im Raum hin- und her zu streichen. Dieses Mal beschloss Merry weise, den Mund zu halten. „Sie ist eine junge Frau... nicht sehr hübsch, niemand, den du bemerken würdest, wenn du auf der Straße an ihr vorüber gehst.“ Ein ironischer Blick in Merrys Richtung. „ich bin ihr gestern Nachmittag begegnet, nach einem ausgewachsenen Streit mit Aragorn. Ich war bei ihm in seinem Empfangszimmer, und als ich hinausstürmte, rannte ich in eine Dame hinein, die vor der Tür stand. Sie trug einen Beutel mit Perlen bei sich – wie sie mir später sagte – und sie fielen auf den Boden. Ich fing an, sie einzusammeln, und als ich sie zurückgab, starrte sie mit einem Gesicht auf mich hinunter, das so grün war wie verdorbene Molke.“

Merry grinste.

„Soviel zu dem berühmten Beutlin-Zauber,“ murmelte er, aber diesmal zeigte sein berüchtigter Humor keinerlei Wirkung. Frodos Blick war nach innen gewendet, als versuchte er, sich eine bestimmte Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen.

„Warte...“ wisperte er, „warte... sie schien vollkommen gelassen zu sein, als wir uns das erste Mal ansahen, ein wenig überrascht vielleicht... aber dann...“ Sein Kopf zuckte hoch; die Augen blitzten in plötzlichem Begreifen auf. „Aragorn rief aus dem Empfangszimmer meinen Namen, und gleichzeitig gab ich ihr den Beutel mit den Perlen... und sie berührte meine verbundene Hand. Dies... dies war der Augenblick, als sie erstarrte und ihr Gesicht sich grün verfärbte.“

„Hmmm...“ Merry zuckte die Achseln; er verstand nicht. „Was heißt das?“

„Als Aragorn meinen Namen rief – und als sie sah, dass mir ein Finger fehlte – da begriff die Dame, wer ich war,“ erwiderte Frodo mit triumphierender Stimme. „Und ich verwette meine heile Hand darauf, dass sie nicht erwartet hatte, mich dort zu sehen.“

„Also gut...“ Merry rieb sich das Kinn. „Lass mich mal sehen, ob ich dich richtig verstehe. Du glaubst, dass sie in Sams Entführung verwickelt ist?“

„Ich weiß, das klingt verrückt.“ Frodo schaute ihn an, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst. „Aber was immer die Fahrt mir genommen haben mag, sie hat mir auch eine eigenartige Gabe hinterlassen: ich kann in die Herzen anderer sehen, ich kann ihre Gedanken, ihre Freude und ihre Ängste spüren. Und als die Dame meine Hand berührte, konnte ich ihren Schrecken und ihre Schuld wie einen plötzlichen Feuerausbruch in meinem Geist fühlen.“

Merry schüttelte langsam den Kopf. „Hör mal, Frodo...“

„Soll ich dir sagen, was jetzt gerade in deinem Kopf vorgeht?“ Der Ringträger kam näher, und dann berührte seine Hand Merrys Schulter und ihre Augen trafen sich. Merry sah Verständnis und Trauer, und einen Kummer, tief genug, um ihn vor Angst erbeben zu lassen.

„Du versuchst verzweifelt, den Frodo zu finden, den du kennst, seit du ein Kind warst,“ sagte sein Vetter; die vertraute Stimme war wie eine warme Liebkosung. „Und es gibt Nächte, da liegst du hellwach und fürchtest dich davor, dass ich den dunklen Pfad schon zu weit gegangen bin und niemals zurückkehren werde, um der Hobbit zu sein, der ich war, ehe Bilbo mir den Ring hinterließ. Und so wartest du heimlich und ständig darauf, dass du statt meiner nur noch eine leere Hülle vorfindest, wenn du von einer deiner Pflichten zurückkommst... was der Grund ist, warum du es dieser Tage kaum noch wagst, mich allein zu lassen. Ist das so?“

Merry schloss die Augen. Seine Hände zitterten und er ballte sie zu Fäusten, krampfhaft bemüht, den schmerzenden Kloß in seiner Kehle herunterzuschlucken. Er wusste, er würde in Tränen ausbrechen, wenn er den Versuch machte, etwas zu sagen, also nickte er nur wortlos.

„Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber ich bitte dich, mir in dieser Sache zu vertrauen,“ sagte Frodo; er drückte tröstend seine Schulter und reichte ihm ein Taschentuch. „Die Sache ist die, dass ich kaum etwas über Frau Artanis von Lebennin weiß. Wer könnte uns helfen, mehr herauszufinden?“

Merry putzte sich die Nase und räusperte sich, mannhaft bemüht, seine aufgewühlten Gefühle zu bemeistern.

„Pippin,“ sagte er mit wässeriger Stimme, „Pippin ist genau der Hobbit, den wir jetzt brauchen.“

*****

Tatsächlich stellte sich Pippin als die ideale Wahl heraus. Abgesehen von Beregond hatte er bereits mit einem Dutzend der Soldaten aus der Wache Freundschaft geschlossen. Manche der Männer waren seit mehr als dreißig Jahren im Dienst, und sie waren eine Quelle des Wissens über den Hofstaat des früheren Truchsessen. Pippin verleibte sich gemeinsam mit seinen Vettern ein gewaltiges Mittagessen ein und wurde gründlich instruiert, was er herausfinden sollte. Er verschwand für den größten Teil des Nachmittags und stellte Fragen, wo immer er eine Gelegenheit dazu sah.

Er kam zurück, kurz bevor der Abend hereinbrach; die Spannung im Palast wuchs, denn die Entführer hatten keine weitere Botschaft geschickt, um das Lösegeld festzulegen, das sie gegen ihre Geisel eintauschen wollten. Nichtsdestoweniger wurde ein sehr zufrieden stellendes Abendessen aufgetragen, und Pippin genoss jeden einzelnen Bissen, während Frodo den Rinderbraten (köstlich in Rotwein geschmort) und das karamellisierte Gemüse auf seinem Teller lustlos hin- und her schob. Endlich gab der kleinste Ritter von Gondor einen ziemlich satten Seufzer von sich, wischte sich den Mund und die Hände mit einer Serviette und begann damit, seine Vettern zu informieren.

„Frau Artanis ist die Tochter des Fürsten von Lebennin,“ sagte er, einen selbstzufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. „der Name des Fürsten ist Ardhenon, und er hat Herrn Denethor mehr als vierzig Jahre gedient... als Hüter der Juwelen, genauso, wie seine Tochter jetzt dem König dient. Er muss ein ziemlich furchterregender Mann gewesen sein, stark und hochmütig... eine der älteren Wachen hat mir erzählt, dass er noch immer einen Mann niederstarren und mit einem einzigen Wort dafür sorgen kann, dass er von innen verwelkt. Aber alle sagen sie, dass er dem Truchsessen sehr ergeben war, und das sein Tod ihn buchstäblich bis ins Mark erschüttert hat.“

Für einen langen Augenblick war er still; seine Augen verdunkelten sich mit der Erinnerung an Wahnsinn und Flammen. Eine Hand flog nach oben und für ein paar Sekunden hielt er sich Mund und Nase zu, als wollte er sie gegen den geisterhaften Gestank von ölgetränktem Holz abschirmen. Weder Merry noch Frodo sagten etwas, Dann schauderte Pippin sichtlich zusammen, holte tief Luft und fuhr fort.

„Der Fürst hatte einen Sohn, Maedhron. Das muss ein ansehnlicher, strahlender Mann gewesen sein, und ein fähiger Kämpfer. Er war eng mit Denethors beiden Söhnen befreundet und wollte der Wache in einem hohen Dienstgrad beitreten, als Boromir nach Bruchtal aufbrach.“ Wieder eine kurze Pause, und diesmal warf ihm Merry ein kleines, tröstendes Lächeln zu. „Maedhron empfand tiefe Trauer, als Boromirs zerbrochenes Horn mit dem Fluss zurückkehrte, und der Fürst von Lebennin hatte Angst, dass er seinen Sohn genauso verlieren könnte wie Denethor. Er befahl ihm, Minas Tirith zu verlassen, aber Maedhron weigerte sich, zu gehorchen. Beregond hat gesagt, er sei auf den Pelennorfeldern gefallen, und er hatte Tränen in den Augen, als er mir davon erzählte. Offenbar war Maedhron sehr beliebt.“

Frodo nickte langsam.

„Großartig gemacht, Pip,“ sagte er. „ich bin wirklich beeindruckt. Ist die Dame so angesehen wie ihr Bruder?“

Pippin zuckte die Achseln.

„Weiß ich nicht,“ erwiderte er. „Das ist ein bisschen komisch... als ob die Dame irgendwie unsichtbar wäre. Alles, was mir die Männer über sie sagen konnten, war, dass sie immer ein kleines, scheues Geschöpf gewesen sei, dass sie jetzt Mitte Zwanzig sein muss, und dass sie das Amt als Hüterin der Juwelen von ihrem Vater übernommen hat, als der in den Ruhestand ging. Der Einzige, dem sie wirklich etwas bedeutete, war ihr Bruder – jedenfalls hat Beregond das gesagt.“

Frodo entschied sich endlich, den Braten zu probieren; sein Gesicht erhellte sich deutlich und binnen Minuten hatte er seinen Teller geleert. Merry beobachtete ihn mit einiger Verblüffung.

„Wo kommt denn dieser plötzliche Hunger her?“

„Ich brauche Kraft,“ erklärte Frodo grimmig, „denn das Nächste, was ich tun werde, ist herauszufinden, ob die Dame im Augenblick im Palast Dienst tut; wenn nicht, dann muss ich mich hier heraus schleichen und sie bei sich zu Hause aufsuchen.“

„Du wirst im Kerker landen, wenn du diese Räume noch einmal ohne Aragorns Erlaubnis verlässt,“ stellte Pippin fest und wählte sorgsam eine reife Aprikose aus dem riesigen Früchtekorb. „Und es wird sowieso nicht nötig sein – die Dame ist noch hier.“

Frodo schluckte die letzte, karamellisierte Karotte hinunter und starrte ihn an. „Oh?“

Pippin schürzte die Lippen. „Die Dame hat eine süße, ältere Amme, und besagte Amme hat mir mitgeteilt, dass ihre Herrin vor Einbruch der Nacht nicht zurückkommt. Jetzt musst du bloß noch die königliche Schatzkammer finden.“ Er warf seinem Vetter ein spitzbübisches Lächeln zu. „Und du solltest Aragorn eine Nachricht hinterlassen, oder er reißt dir den Kopf ab, sobald er dich gefunden hat.“ Das Lächeln vertiefte sich zu einem Grinsen. „Das tut er wahrscheinlich sowieso.“----

Merry und Pippin gingen eine halbe Stunde später. Frodo blieb zurück; er ging zu dem Fenster hinüber, das sich nach Osten öffnete. Das warme, tiefgoldene Licht des Spätnachmittags strömte herein und erinnerte ihn daran, wie rasch die Zeit verging; noch immer keine Nachricht von Sams Entführern, und Aragorn sollte allein kommen und ein Lösegeld mitbringen, von dem er noch nichts wusste. Die Bürde von Sams unsicherem Schicksal wog schwer auf seinem Herzen.

Also ging er im Zimmer auf und ab und versuchte, zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte gegen Ängste gefochten, wie sie kaum ein Hobbit je gekannt hatte. Er hatte den Ring zerstört... obwohl er es nur fertig gebracht hatte, ihn an einen Ort zu tragen, wo am Ende das elendste aller Geschöpfe das tat, was er hätte tun sollen.

Und jetzt stand er im königlichen Palast von Minas Tirith und stählte sich für den vielleicht ungewöhnlichsten Kampf seines Lebens.


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