Jenseits der Anfurten (Beyond the havens)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


2. Kapitel
Wieder zusammen

Sam Gamdschie stand an Deck, die salzige Gischt im Gesicht und blinzelte in das Licht der sinkenden Sonne. Das Schiff wurde im Hafen vertäut, und große Elben drängten sich um ihn her, die Stimmen wie in Musik vereint, während sie Grüße hinüberriefen zu Freunden, die am Ufer warteten.

Ein flacher Strand zog sich rings um den Hafen; sein nasser Sand leuchtete golden im Abendlicht. Grasige Dünen erhoben sich hinter dem Strand und stiegen Stufe für Stufe auf zu hohen, runden Hügeln. Hinter den Hügeln zeichnete sich ein dunkler Berg gegen einen Himmel ab, der in Rosa und Violett prangte, und der Sonnenschein zog eine korallenrote Spur über das Wasser. Plötzlich sauste ein Schwarm Seemöwen auf das Schiff zu, als hätte sie der Wind herangetragen, und einige der Vögel tanzten auf der Dünung auf und nieder, weiß gegen das dunkle Wasser. Die Wellen murmelten gegen die Bordwand des Schiffes, und Frieden lag über Land und Meer.

Aber Samweis, der an der Reling lehnte und mit der Hand die Augen beschattete, nahm seine Umgebung nicht wahr; er beobachtete eine kleine Gestalt, die beinahe kopfüber den Hang in Richtung Wasser hinunter schoss, mit winkenden Armen, jede Bewegung voll überschwänglicher Begeisterung. Nur für einen Augenblick stand er stll, erfasst von einer Freude, die ihm den Atem nahm und ihn reglos machte. „Frodo.“ flüsterte er. „Frodo!“ Er drehte sich um und fing an, sich zwischen den Elben hindurch zum Landungssteg zu drängeln. „Bitte um Entschuldigung, Herr, bitte um Entschuldigung.“ wiederholte er automatisch, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte.

Er reichte den Elben kaum bis zur Hüfte, und die Jahre hatten sein Gesicht mit Falten gezeichnet. Aber dieses gealterte Gesicht wurde von solch strahlendem Glück erhellt, dass die Elben bei seinem Anblick lächelten und beiseite traten; sie schauten ans Ufer, wo der Läufer jetzt still und stocksteif dastand und irgendwie dennoch Aufregung und Willkommensfreude versprühte.

Sam überquerte die Planke fast mit einer einzigen Bewegung, aber er stolperte und fiel beinahe hin, als er auf den Kai trat. Nach den Tagen auf See brachte ihn der feste Boden unter den Füßen aus dem Gleichgewicht. Eine Hand erwischte ihn am Ellenbogen und hielt ihn aufrecht, und eine lachende Stimme neben seinem Ohr sagte: „In Ordnung, alter Junge, fall mir bloß nicht auf’s Gesicht, kaum, dass du vom Schiff herunter bist! Sam, du bist grau geworden!“

Sam brachte seine Füße wieder ordentlich unter sich und schnaubte empört. „Also, was hast du erwartet, Herr Frodo? Ich bin hundertzwei Jahre alt!“ Dann wurden seine Augen sanft, als er Frodo ins Gesicht schaute und die Arme ausstreckte, um ihn zu umarmen.

„Gibt wohl keinen Grund, zu fragen, wie’s dir geht, Herr Frodo.“ sagte er und seine Stimme brach. „Ich kann selber sehen, dir geht’s richtig gut. Ich musste es sehen, ich musste es wissen... du bist geheilt, Herr Frodo.“

*****

Stunden später saßen sie mit heißem, würzigen Tee an Frodos Kamin. Der Abend war kühl, und es war angenehm, ihre Hände um die warmen Becher zu schließen und die bloßen Füße zum Feuer auszustrecken. Das flackernde Licht glühte und tanzte über Stühle aus poliertem Holz; ein paar Kupfertöpfe hingen vom Kaminsims und ein Dutzend silberner Weinkelche standen in einem Eckschrank. Das Zimmer war heimelig und gemütlich, aber nicht sehr groß, und Sam konnte nur zwei Türen sehen - beide geschlossen - die vermutlich zu anderen Zimmern führten.

„Also, das ist eine anständige Hobbithöhle, gar keine Frage.“ sagte er munter, aber im Stillen erinnerte er sich an Beutelsend und er war sehr erstaunt, Frodo in einem derart kleinen Heim zu finden.

Frodo schien seinen Gedanken zu erraten und er lachte zu ihm auf, während er Holz auf das Feuer legte. „Nun, Sam, du täuscht mich nicht mit höflichen Halbwahrheiten, also versuch’s gar nicht erst. Du meinst, seit Beutelsend sei ich betrüblich heruntergekommen. Wahrscheinlich dachtest du, ich hätte ein halbes Dutzend Zimmer in Elronds Haus, voll mit Elbenzierat und ein oder zwei Brunnen. Mal ehrlich jetzt – ist es nicht das, was du erwartet hast?“ Er stand auf, rieb sich die Asche von den Händen und wandte sich ab, um noch mehr heißes Wasser aus dem Kessel in die irdene Teekanne zu gießen.

„Na ja,“ murmelte Sam, „das ist nicht mehr, als du verdienst, Herr Frodo. Oder vielleicht eher ein großes Haus für dich allein.“ Ein Hauch von Besorgnis schimmerte in seinen Augen. „Um die Wahrheit zu sagen, ich dachte, du wärst in Elronds Haus. Ist Herr Bilbo dort?“

Frodos Lächeln geriet ins Schwanken. „Nein. Nein, das ist er nicht. Sam, da ist etwas, was ich dir sagen... was ich dir erklären muss.“ Er setzte sich hin und stocherte abwesend im Feuer herum. Das Zimmer war sehr still.

„Weißt du, sie nennen dies hier die Unsterblichenlande. Tol Eressëa und all diese westlichen Länder. Weil die Elben hier leben, und im Segensreich die Valar, und sie sind natürlich unsterblich. Aber Sam, alter Freund“ er warf Sam einen Seitenblick zu und starrte dann wieder ins Feuer. „wir sind nicht unsterblich, Sam. Nicht in Mittelerde, und hier genauso wenig. Verstehst du mich?“

Sam kam schwerfällig auf die Füße, trat neben ihn und legte Frodo seine Hand auf die Schulter. Sein Gesicht wirkte müde und alt. „Ja, ich verstehe dich, Herr Frodo. Du sagst mir, dass Herr Bilbo fort ist, er ist tot. Und du bist ganz allein hier gewesen, in dieser kleinen Höhle, nicht größer als die im Beutelhaldenweg, in der ich groß geworden bin. Und ich habe in deinem wunderschönen Beutelsend gelebt, wo von Rechts wegen du die ganze Zeit hättest sein sollen.“

Er humpelte zurück zu seinem Stuhl und setzte sich hin, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf auf die Hände gestützt. „Ich hätte schon vor langer Zeit kommen sollen, sobald die Kinder verheiratet waren und eigene Hausstände gegründet hatten. Aber dann... wie hätte ich Rosie verlassen können? Sie war mir eine gute Frau, die allerbeste, und sie brauchte mich. Und ich habe sie geliebt, Herr Frodo.“ Er seufzte tief und schüttelte den Kopf.

„Sam, nicht doch!“ rief Frodo bestürzt. „Nein, du verstehst das falsch!“ Er beugte sich vor, zog Sams Hände von seinem Kopf fort, hielt sie fest und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu schauen.

„Sam, ich will nicht sagen, dass ich dich nicht vermisst habe... natürlich habe ich das getan, wie könnte ich auch nicht? Aber ich bin hier glücklich gewesen. Bilbo und ich, wir waren beide glücklich. Wir haben in dieser kleinen Höhle gelebt, weil wir es wollten, es war wie Zuhause, es war ein kleines Stück Auenland hier in Elbenheim. Sie ist klein, weil wir nichts Großes brauchten. Wie waren so oft draußen, sind über die Insel gewandert, haben die Elben besucht... manchmal haben wir sogar unter den Sternen geschlafen. Und als...“ Er schluckte hart. „... als Bilbo starb, war dies immer noch mein Zuhause. Ich wollte nirgendwo anders leben. Es gibt hier ein Schlafzimmer für dich, wenn du bei mir bleiben willst. Oder... ich weiß, Elrond würde dir Räume in seinem Haus geben. Wenn es das ist, was du möchtest.“

„Elrond?“ wiederholte Sam und klang verwirrt. „Wieso sollte ich bei Elrond leben wollen? Das soll jetzt keine Respektlosigkeit bedeuten ihm gegenüber, wenn du verstehst, was ich meine, und wenn sein Haus hier so ist wie Bruchtal, dann muss es ein Wunder sein. Aber ich habe dich sechzig Jahre lang vermisst, jeden Tag in diesen sechzig Jahren. Wenn ich auf dieser Insel keine andere Seele zu Gesicht bekäme, würde mir das nichts ausmachen. Solange du nur da bist, Herr Frodo.“

Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, dann hob er seinen Becher und nahm einen tiefen Zug. Frodo stand auf und klopfte ihm auf den Rücken.

„Gut, dann ist das also entschieden. Wir werden uns hier sehr wohl fühlen, alter Junge, du wirst sehen! Aber was andere ,Seelen’ betrifft – also, du hast neben mir noch andere Freunde in Eressëa, weißt du? Galadriel wird hören wollen, wie deine Gärten daheim im Auenland gedeihen, und die Bäume, vor allem der Mallorn. Und Elrond wird wirklich froh über jede Neuigkeit sein, die du ihm von Königin Arwen und Elessar bringen kannst. Wie auch immer, heute Abend wird es ein Fest geben, eine richtige Elbenfeier. Ein Willkommen für alle, die heute mit dem Schiff gekommen sind.“

Sam lachte reichlich zittrig und stemmte sich hoch. „Ach ja, ich hatte vergessen, dass die Elben sich nicht eher zum Abendessen hinsetzen, bevor der Mond am Himmel steht und vernünftige Hobbits im Bett liegen! Also, du zeigst mir jetzt, wo mein Zimmer ist, und ich zieh’ ein sauberes Hemd an und bin fertig zum Abmarsch.“

Frodo gluckste, während er eine der geschlossenen Türen öffnete und Sam hindurchwinkte. „Es sind all diese Jahre, die du Bürgermeister warst, Sam. Mittlerweile bist du allzeit bereit, wenn ein Bankett oder eine Rede vor der Tür steht. Wie viele Amtszeiten als Bürgermeister hast du eigentlich abgedient?“

„Sieben, Herr Frodo. Sieben. Und ich kann jetzt nicht nur, wenn ich wach bin, sondern auch im Schlaf eine Rede halten – obwohl vielleicht keines von beiden das Zuhören lohnt!“


Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home