Der Aufstieg der Lerche (The Rising of the Lark)
von Cúthalion


Kapitel Zwei
Auf der Lichtung

Die Heilerin von Ithilien stand in ihrer Küche, umgeben von einer Wolke köstlicher Gerüche. Brot buk in dem kleinen Ofen, der Teig schwer von Rosinen und Mandeln, und ein Eintopf mit Lammfleisch, Kartoffen und Thymian blubberte über dem Feuer. Sie blickte auf, entdeckte ihr flüchtiges Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie stand still, die Hände auf den Tisch gestützt, und betrachtete die Frau, die sie sah.

Fünfundzwanzig Jahre hatten ihren Tribut gefordert; das tiefe Kupfer ihres Haares war nun leicht verblasst und von silbrigen Strähnen durchzogen. Krähenfüße umgaben die hellen, scharfen Augen, und Falten vertieften sich zwischen Nase und Mundwinkeln, wann immer sie lächelte. Trotzdem war die Zeit gnädig mit ihr umgegangen - die Umrisse von Gesicht und Hals waren fest, nicht durch die Macht des Alters verschwommen oder erschlafft. Und ihr Körper war noch immer biegsam und stark, geformt durch lange Jahre der Wanderungen durch den Garten von Gondor und durch die Fürsorge für die, die darin lebten.

Die Eitelkeit, die die Damen am Hof in Minas Tirith dazu brachte, kostbare Öle und Salben zu kaufen, um sich die Jugend ihrer Wangen und die Seidenglätte ihrer Hände zu erhalten, bedeutete ihr nichts. Die Hände der Heilerin waren ständig von winzigen Schrammen bedeckt, ihre Handflächen voller Schwielen. Ihre Finger blieben allerdings stets sanft, wenn sie einen leidenden Körper berührten; sie waren sorgsam und geschickt, wenn sie Elixiere anmischten und mit Mörser und Stößel hantierten.

Sie dachte an ihren Ehemann und sah, wie die Frau im Glas ihr Lächeln erwiderte. Der Gedanke an Damrod brachte sie immer zum Lächeln.

Er war jetzt in den Sechzigern und noch immer in den Rängen der Waldläufer, wenn auch dieser Tage eher als Ausbilder und Lehrer. Jüngere Männer als er gingen nun Streife an der Grenze nach Mordor, und es war Jahre her, dass er zuletzt dem Ruf des Königs in den Kampf gegen Khand oder Harad gefolgt war. Aragorn hatte Gondor eine lange Zeit ungestörten Friedens geschenkt, und wenn es im Süden örtliche Aufstände oder Gefechte gab, dann waren die angemessenen Mittel zum Umgang damit Verhandlungen und kluge Bündnisse.

Sie lebten ein ruhiges Leben, umgeben von Freunden, in der Gunst von Elessar und mit einer Tochter gesegnet, die sie beide noch immer über die Maßen glücklich machte. Lírulin war ein köstliches Kind, aufbrausend und liebevoll, starrköpfig und sanft, ihr Aussehen eine glückliche Mischung der besten äußeren Attribute ihrer Eltern. Interessanterweise hatten sich ihre Lausbübereien in letzter Zeit deutlich gemildert. Das launische Mädchen, das die letzten paar Jahre damit verbracht hatte, jedes männliche Wesen in Reichweite anzufauchen, wenn es sich nicht gerade um den König, den Fürsten von Ithilien oder ihren Vater handelte, hatte sich allmählich zu einer sehr vielversprechenden jungen Frau entwickelt... nicht, dass Damrod auch nur annähernd bereit war, diese unvermeidliche Tatsache anzuerkennen.

Da war eine plötzliche Bewegung am Rande der Lichtung, und der Blick der Heilerin schärfte sich, ignorierte ihr Spiegelbild und sah zwei Menschen aus dem Wald kommen. In ihrem gedankenverlorenen Zustand sahen die beiden für sie wie Märchengestalten aus, einer uralten Geschichte entstiegen... ein junger Mann mit klaren Zügen und Haar wie bleiches Gold, hochgewachsen und gut aussehend, der einen großes Reitpferd am Zügel führte, und eine wunderschöne Jungfer, in Weiß und Grün gekleidet, die mit einem offenen, eifrigen Gesicht zu ihrem Begleiter aufblickte. Ein hübsches Paar.

"Mama, bist du hier?"

Die Heilerin fuhr zusammen, plötzlich in die Wirklichkeit zurück geworfen, als sie die beiden Ankömmlinge erkannte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie öffnete weit beide Fensterflügel.

"Lírulin! Und gesegneter Eru - mein Ausreißer ist wieder da!"

Sie drehte sich um und verließ die Küche; sie hastete durch den Korridor und zum Haus hinaus. Der junge Mann ließ sein Pferd los und schloss sie ohne viel Federlesens in die Arme.

"Noerwen! Schön wie eh und je - Ich schwöre, Ihr habt Euch nicht im Mindesten verändert!"

"Lügner!" sagte sie liebevoll, trat zurück und studierte die grauen Augen, die lange, gerade Nase und das kräftige Kinn. Ein Mann, in der Tat. "Ich verwandele mich zusehends in eine Matrone, und ich trage mein Los mit Würde. Ihr allerdings... meine Güte, Ihr müsst bei den jungen Damen von Rohan und Gondor ein ziemliches Aufsehen erregt haben!"

"Ja, und vor allem bei den lieblichen Edelfräulein Aeffe und Ceolwen, die von meiner Gegenwart gar nicht genug bekommen konnten," entgegnete der junge Prinz, ein gewisses Funkeln in den Augen. "Während ich in Edoras war, sind sie ständig überall auf mir herum geklettert."

"Sie sind... was?" Lírulin starrte ihn offenen Mundes an.

"Überall auf mir herum geklettert," wiederholte Elboron ernsthaft, "und auf meinen Schultern reiten wollten sie auch. Ich versichere Euch, sie waren unwiderstehlich."

"Und um Süßigkeiten gebettelt haben sie auch ständig, vermute ich", sagte Noerwen und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. "Diese lieblichen Edelfräulein sind drei Jahre alt, und die Zwillingstöchter von Éomers Ältestem. Der einzige Grund, weshalb du die beiden noch nicht kennst, ist die Ansicht ihrer Mutter, dass sie noch viel zu jung sind, um zu reisen."

Lírulin schüttelte den Kopf. "Wie konnte mir das entgehen?"

"Weil ich nicht anwesend war, um deine Neugier zu befriedigen," warf Elboron glattzüngig ein. "Mein Dienst im Heer des Königs hat mich von dieser verdienstvollen Tätigkeit abgehalten."

"Ach, im Himmels Willen, hör auf zu reden, als wärst du einer dieser Laffen bei Hof!" gab Lírulin zurück; ihr Ton war mehr als nur ein bisschen schnippisch. "Als du vor einer halben Stunde aus dem Wasser gehechtet bist, um deine Kleider einzusammeln, hast du mir wesentlich besser gefallen."

Sie bemerkte den entgeisterten Gesichtsausdruck ihrer Mutter und lief scharlachrot an. Und dann redeten sie und Elboron sehr hastig und zur gleichen Zeit.

"Mutter, er hat nicht..."

"Noerwen, ich versichere Euch..."

Die Heilerin stand still da; ihre scharfen Augen ruhten abwechselnd auf den flammenden Gesichtern ihrer Tochter und ihres Gastes. Endlich erbarmte sie sich über die beiden.

"Ich kenne Euch, seit Ihr ein winziger Schreihals in Eurer Wiege gewesen seid," sagte sie, an den jungen Prinzen gewandt. "Und wenn ich je irgend einen Grund gehabt hätte, Euer Anstandsgefühl anzuzweifeln, Ihr hättet wohl kaum Eure halbe Kindheit hier verbracht."

"Damit, durch das Unterholz hinter Euch her zu kriechen, meint Ihr," entgegnete Elboron, der sichtlich seine gute Laune wiederfand.

"Und den Großteil von meinem Zimtbrot zu verspeisen," fügte Noerwen trocken hinzu. "Da wir gerade davon reden... es wartet ein Brot darauf, aus dem Ofen genommen zu werden, und der Eintopf sollte jetzt auch essbar sein. Lírulin, würdest du bitte in der Küche den Tisch decken? Und Ihr, Elboron... bringt Euer Pferd in den Stall und wascht Euch die Hände unter der Pumpe. Wir essen in zehn Minuten zu Mittag."

*****

Eine Stunde später schnaubte Elborons Reittier in seinen Hafersack, als die Stalltür geöffnet wurde; ein großer, grauhaariger Mann trat ein und führte sein eigenes Pferd am Zügel.

"Ach... wen haben wir denn hier?" fragte Damrod von Ithilien; seine warme, dunkle Stimme trug den Hauch eines Lächelns. "Ein feiner Besuch, wie es aussieht... wollen wir hoffen, dass eines der edlen Mearas nicht zu stolz ist, dir Gesellschaft zu leisten, Sommervogel." Er streichelte die Flanken beider Pferde; die Tiere betrachteten ihn mit aufmerksamen Augen und durchsuchten mit weichen Nüstern seine Taschen nach einer Leckerei. Er förderte zwei verschrumpelte Äpfel zutage, und sie fraßen sie ihm mit ausgezeichneten Manieren aus den Händen. Damrod lachte.

"Ich überlasse Euch nun Euch selbst, meine edlen Herren," sagte er und verneigte sich schwungvoll. "Ich mache mich auf die Suche nach unserem Gast... und zuallererst natürlich nach meiner Frau." Er verließ den Stall, schloss sorgsam die Tür hinter sich und ging quer über die Lichtung. Während er sich der Schwelle seines Hauses näherte, wurden seine Schritte rascher.

"Noerwen?"

"Ja, Liebster... wir sind in der Küche. Und du kommst zu spät zum Mittagessen!"

"Woran du seit Jahren gewöhnt sein solltest," entgegnete er mit einem Grinsen und betrat die Küche. Er wurde von der Heilerin begrüßt, die vom Herd weg trat und ihn auf die Wange küsste. Seine Tochter saß am Tisch, eine dampfende Schale mit Lammeintopf vor sich, Seite an Seite mit einem jungen, blonden Mann, den er seit mehr als fünf Jahren nicht gesehen hatte. Damrods Geist brauchte ein paar Augenblicke, um Erinnerung und Gegenwart miteinander zu versöhnen, dann schüttelte er die plötzliche Verwirrung ab und verneigte sich zum zweiten Mal an diesem Tag.

"Eure Hoheit, was für eine Freude." Er zwinkerte, und sein Blick ruhte auf dem gründlich abgegrasten Teller vor dem Prinzen. "Und genau so hungrig wie immer, wie ich sehe. Ist noch irgend etwas von dem Zimtbrot übrig?"

"Ich habe gleich zwei davon gebacken, mein Herz," sagte Noerwen. "Aber zuerst den Eintopf, Und nachdem Elboron wohlerzogen genug war, sich die Hände zu waschen, würde ich dich gern um den selben Gefallen bitten."

Damrod ging wieder in Richtung Tür."Wisst Ihr, wie Ihr herausfinden könnt, ob Ihr die richtige Frau gewählt habt, Eure Hoheit?" fragte er, die Hand nach der Klinke ausgestreckt.

"Ich habe keine Ahnung - noch nicht," entgegnete Elboron; seine grauen Augen glitzerten belustigt. "Aber es kann sicherlich nicht schaden, vorbereitet zu sein, für den Fall der Fälle."

"Sie muss keine gute Köchin sein - obwohl das nichts Schlechtes ist," fügte Damrod hastig hinzu und wich einen spielerischen Schlag mit dem Handtuch aus. "Aber sie wird Euch immer zu Essen geben, selbst wenn Ihr zu spät heimkehrt, sie wird ein Lächeln und einen Kuss für Euch übrig haben, sobald Ihr zurück kommt... und sie wird Euch unvermeidlich aus der Küche werfen, wenn Ihr mit schmutzigen Händen und Füßen nach einer Mahlzeit fragt." Er blickte seine Frau an, und für einen langen Moment war der Raum sehr still, erfüllt von geteilten Erinnerungen und unausgesprochenen Worten. Dann ging er hinaus.

"Nun, ich glaube kaum, dass Eure Frau jemals in der Küche stehen und euch eine Mahlzeit zubereiten muss," meinte Noerwen leichthin, schnitt die nächste dicke Scheibe Zimtbrot ab und ließ sie auf Elborons Teller gleiten.

"Das weiß ich nicht," erwiderte der junge Mann und zog die Butter und den kleinen Topf Marmelade zu sich heran. "Trotzdem... würdet Ihr in Erwägung ziehen, mir das Rezept zu geben?"

"Ich könnte mich vielleicht dazu überreden lassen, mein lieber Junge," sagte Noerwen und füllte eine frische Schale mit Eintopf. "Das heißt, solange Eure Braut meine Zustimmung findet."

"Ich werde tun, was ich kann, um Euren hohen Anforderungen zu entsprechen," antwortete Elboron feierlich. Er nahm den Löffel, und für eine flüchtige Sekunde berührte sein Ellenbogen den der jungen Frau neben sich. Die herzhaften Küchengerüche nach Eintopf und Gebäck verschwanden, ersetzt durch einen frischen Duft nach Kräutern und grünen Wiesen im Frühlingsregen. Wieder berührte er Lírulins Arm, streifte den dünnen Stoff ihrer Bluse und dann warme, glatte Haut.

"Ich werde tun, was ich kann," wiederholte er und tauchte den Löffel in die Marmelade.

*****

Fast zwei Stunden später ritt der junge Prinz fort; er winkte den dreien zu, die vor dem Haus mit dem Zedernschindeldach standen. Noerwen stellte fest, dass ihre Tochter ihm mit den Augen folgte, bis er zwischen den Bäumen verschwand. Doch sobald sie bemerkte, dass ihre Mutter sie anschaute, straffte sie sich und warf ihr ein unbeschwertes Lächeln zu.

"Ich gehe und mache den Spitzwegerich-Sirup noch einmal heiß," sagte sie. "Papa kann Erion das Dutzend Flaschen mitbringen, wenn er wieder oben in der Residenz ist."

"Gute Idee," entgegnete Noerwen. "Würdest du später gern mit mir auf die Suche nach wildem Waldmeister gehen?"

Ihre Tochter zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

"Weißt du, ich glaube, ich setze mich mit einem Buch in den Garten... wenn es dir nichts ausmacht."

"Nicht im Geringsten," sagte ihre Mutter, beugte sich vor und küsste Lírulin auf die Schläfe. "Du warst in den letzten Tagen eine große Hilfe, und du hast ganz sicher ein paar Stunden für dich verdient."

Gemeinsam sahen sie und Damrod zu, wie du junge Frau zu dem Schuppen hinüber ging, wo die Heilerin ihre Kräuter, Pulver und Essenzen aufbewahrte.

"Sie ist ein gutes Kind," sagte Damrod und zog seine Frau an sich. "Die beste Tochter, die ein Vater sich nur wünschen kann."

"Das ist wirklich wahr," sagte Noerwen und ergriff die Hand, die auf ihrer Schulter lag. In diesem Moment gab es zwei Dinge, die sie ernsthaft bezweifelte: dass Lírulin wirklich noch ein Kind war, und dass sie den Rest des Nachmittags auch nur eine einzige Zeile in ihrem Buch lesen würde.


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