Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwei
Im Schutz der Dunkelheit

Canohando verließ sein Zuhause, als der Sommer zu Ende ging; die drängenden Schreie der Zugvögel trieben ihn zur Eile. "Ihr seid schneller als ich, aber ich hole schon auf!" schrie er einem Schwarm hinterher. Er verlagerte sein Bündel, so dass es bequemer auf seinem Rücken saß und wanderte weiter. Seine Lebensgeister hatten sich gehoben, nun, da er auf dem Weg war, und nachts schlief er ohne Träume.

Gorgoroth erstreckte sich blassgolden in die Ferne, so weit er sehen konnte; der nahende Herbst verwandelte das Gras in Stroh, das ihm um die Knie raschelte. Er bückte sich, um ganze Hände voll von den Saatkapseln abzureißen; er rubbelte die Samen zwischen den Handflächen heraus und warf sie nach beiden Seiten, während er weiterging - Siehst du, alter Mann, ich pflanze noch immer für dich! So hatten sie es gemacht, während er mit Neunfinger und dem Braunen reiste, aber damals hatten die  Grasflecken weit auseinander gelegen, und die Samen waren rar und wurden nur dort sorgsam in den Boden gesetzt, wo es Feuchtigkeit gab, die sie wachsen ließ.

Er hatte diese Fahrt so sorgfältig geplant, als wäre es ein Kriegszug. Lashs Warnung war nur zu berechtigt: die Männer von Gondor würden ihn praktisch töten, sobald sie ihn zu Gesicht bekamen. Für sie waren Orks nicht mehr als Ungeziefer, das man vernichten musste. Er bezweifelte, dass sie ihn verschonen würde, nicht einmal wegen des Juwels, den er trug - gesetzt den Fall, sie fanden den Edelstein, bevor sie ihn erschlugen. Er dachte, dass sie ihn ohnehin umbringen würden, und dass irgendein Hauptmann ihn an sich nehmen und behalten würde.

Als er den Morgai erreichte, war er noch vorsichtiger; er reiste von der Abenddämmerung bis zum Anbruch des Morgens und schlief tagsüber. Der Morgai war jetzt nicht mehr kahl und öde; es war eine zerklüftete Landschaft aus Geröll, Flüssen und Felsen voller Büsche. Es gab reichlich Deckung für ihn, und es hätte ein scharfes Auge erfordert, den Ork geistergleich von einem Buschdickicht zum nächsten huschen zu sehen.

Er hatte sich dagegen entschieden, den Pass von Cirith Ungol zu nehmen. Von Neunfinger hatte er gehört, dass der König über das Monstrum Bescheid wusste, das dort lebte, und er hielt es für möglich, dass der Pass bewacht wurde. Frodo hatte keinen anderen Weg durch die Berge gekannt, aber dies war Canohandos Heimatland. Er folgte Pfaden, die niemand als eine Bergziege - oder ein Ork - hätte finden können. Er kam ein kleines Stück nördlich der Stelle heraus, wo sich die Straßen kreuzten, und er strich über den Boden wie ein Schatten. Jetzt reiste er nur noch nachts. Ithilien war ein Flickenteppich aus Feldern und Dörfern, aber er schlich sich ungesehen zwischen ihnen hindurch. Von Zeit zu Zeit bellte ein Hund, aber nicht mehr als einmal; der Ork trug einen Zahn bei sich, der tiefer und rascher zubiss als jeder Hundezahn. Er schleppte die Kadaver weg und begrub sie, wenn er die Häuser hinter sich gelassen hatte; er wollte nicht, dass jemand Alarm schlug, wenn der Morgen kam und irgendein kleiner Häusler seinen Wachhund mit durchgeschnittener Kehle vorfand.

Er traf auf ein Hindernis, als er den Fluss erreichte. Er lag quer über seinen Weg, breit und schwarz im Mondlicht; das Wasser glänzte wie Öl, und er schrak zurück. Einmal in seinem Leben hatte er sich in einen Fluss gestürzt und war beinahe ertrunken; Furcht krampfte sich um seinen Bauch, während er sich an das erstickende Gefühl erinnerte, bevor er das Bewusstsein verlor. Er kletterte auf einen Baum dicht am Flussufer und befestigte seine Hängematte hoch in den Zweigen; er würde über dieses Problem nachdenken müssen, aber der Schlaf kam zuerst.

Als er aufwachte, war es hellichter Tag, Er lag noch immer in seinem Versteck und blickte den Fluss hinauf und hinunter. Nicht weit flussabwärts trieb etwas dahin; während er es beobachtete, kam es näher, bis es das Ufer erreichte, und ein paar Männer sprangen an Land. Canohando hatte sein ganzes Leben dort verbracht, wo die einzigen Wasserläufe unbefahrbare Stromschnellen waren; er hatte keine Ahnung von Booten, und er brauchte einige Zeit, um zu begreifen, was er da sah. Die Männer kontrollierten das Ding im Wasser; sie bewegten es quer über den Fluss, hin und zurück.

Den ganzen Tag beobachtete er und merkte sich, wie die Bootsmänner das lange Ruder benutzten, das am Heck der Fähre befestigt war. Bei Einbruch der Nacht gingen die Männer weg, und Canohando rollte die Hängematte zusammen und kam vom Baum herunter. Er machte das Boot los und überquerte den Fluss; dabei kippte er mehrmals beinahe ins Wasser. Als er einen Steinwurf vom Ufer entfernt war, blieb das Ruder irgendwo hängen. Er zerrte daran und es kam so plötzlich frei, dass es ihn nach hinten warf. Einen schrecklichen Moment lang schwankte er, entsetzt und aus dem Gleichgewicht, bis er mit einem lauten Platschen in den Fluss fiel.

Der Grund des Flusses bestand aus weichem Schlamm, und er prallte mit Händen und Füßen dagegen; er war sicher, dass sein Tod unmittelbar bevorstand, aber er war entschlossen, bis zum Letzten zu kämpfen. Er kam auf die Beine und stieß sich verzweifelt ab; sein Kopf durchbrach die Oberfläche und er stellte fest, dass er tatsächlich nur bis zur Mitte im Wasser stand. Er zitterte und keuchte und wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigt hatte; endlich wandte er sich in Richtung Ufer und watete hinaus. Das verlassene Boot trieb flussabwärts davon.

Wachsam bewegte er sich durch die Dunkelheit; er achtete auf irgendein Zeichen, dass man ihn gehört hatte, als er ins Wasser klatschte, aber da gab es keines. Er schauderte ein wenig, als die kühle Luft auf seine nassen Kleider traf. Es war jetzt Winter; nicht die bittere Kälte und der tiefe Schnee seiner Berge, aber ein dunkler Schauer, der ihm geradewegs in die Knochen zu kriechen schien. Die Zeit verging, und das beunruhigte ihn wie niemals zuvor.

Während seiner langen Wache aus der Hängematte an diesem Tag hatte er mehr gelernt als den Umgang mit einem Boot. Die Fährleute hatten ihr Mittagsmahl unter seinem Baum eingenommen und sich beim Essen unterhalten, während Canohando über ihnen lauschte.

"Nächste Woche gehe ich in die Stadt," hatte einer der Männer gutgelaunt gesagt. "Jede Menge Arbeit dort für die, die sie haben wollen - ich hab gehört, der König plant ein großes Fest für Neujahr."

"Neujahr!" hatte einer seiner Gefährten ausgerufen. "Das ist nicht vor Ende März, in drei Monaten erst! Bisschen früh, um alles fertig zu machen, oder?"

"Nicht dieses Jahr. Sie sagen, dann sind alle Brunnen voller Wein, überall in der Stadt, und Feiern für alle, reich und arm. Feuerwerk gibt's auch, und feine Besucher von überall, vielleicht sogar der König der Mark! Es wird jeden Tag von diesen drei Monaten brauchen, um das alles herzurichten."

"Wofür das denn? Wozu der ganze Aufwand?" wollte einer der anderen wissen.

"Hört euch den an! Bist du nie zur Schule gegangen? Hundertzwanzig Jahre sind es dieses Jahr, seit Elessar auf den Thron kam. Das ist ein Meilenstein, meinst du nicht? Wert, gefeiert zu werden, wenn du mich fragst!"

Über ihnen in seinem Versteck schluckte Canohando einen Ausruf der Überraschung hinunter. War es wirklich so lange her, dass der Dunkle Herrscher gefallen war? Orks rechneten nicht in Jahren; er wusste, dass sich die Jahreszeiten oft geändert hatten, seit die Erde gebebt hatte und der Berg in Feuer explodiert war, aber waren es so viele? Er schloss die Augen und rief sich Frodo ins Gedächtnis. Der Hobbit hatte ein wenig Grau in den Haaren gehabt - Canohando war nicht klar gewesen, was das bedeutete, bis Lashs Weib zu altern begann. Ihr Haar war erst grau geworden und dann weiß, ehe sie starb.

Hundertzwanzig Jahre waren eine lange Zeit, selbst für einen Ork. Gab es irgendeine Chance, dass Neunfinger noch am Leben war?


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