Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Drei
Gefahren

Einmal über den Fluss, stellte Canohando fest, dass es schwieriger wurde, voranzukommen. Das Land hier war ein Labyrinth aus kleinen Häusern, von Gärten umgeben, oder aus vereinzelten großen Gebäuden mit breiten Grundstücken, die sie von den Nachbarn absetzten, aber auch die waren üblicherweise von Mauern umgeben. Er konnte sie leicht überklettern, aber er fürchtete sich, innerhalb dieser Mauern in die Falle zu geraten, falls jemand dort Wache hielt, um Eindringlinge anzuwehren. Es gab nicht viele offene Gegenden, wo er sicher sein konnte, zwischen Abenddämmerung und Tagesanbruch niemandem zu begegnen. Das Schlimmste waren die Tavernen; sie standen dicht an der Straße und waren den größten Teil der Nacht hell erleuchtet, mit Männern, die hinein und hinaus gingen. Canohando machte meilenweite Umwege, um es zu vermeiden, an einer davon vorbei gehen zu müssen. Manchmal allerdings gab es keine Möglichkeit, und er war gezwungen, sich zu verstecken, bis das Haus geschlossen wurde und die Lichter verloschen, während ein paar späte Zecher die Straße hinunter wankten.

Er fürchtete die Trunkenheit. In den alten Tagen, als er Bote in den Diensten des Dunklen Herrschers gewesen war, hatte er nichts Stärkeres bekommen als Dünnbier; er musste jederzeit bereit sein, aufzubrechen und quer durch Mordor nicht der Straße zu folgen, sondern den schnellsten Weg querfeldein zu finden. Ein paar Mal war er an stärkere Getränke herangekommen; weil er nicht daran gewöhnt war, wurde ihm sehr übel, und bei einer Gelegenheit hatte ihn sein Hauptmann erwischt. Er hatte schwere Prügel bezogen, zur Strafe dafür, dass er sich selbst dienstunfähig machte, und danach hatte er sich mit dem wenigen Bier zufrieden gegeben, das er bekam. Die meisten anderen Orks waren allerdings schwere Säufer. In ihrer Freizeit betranken sie sich meist, und je betrunkener sie waren, desto brutaler wurden sie. Canohando war kleiner als viele von ihnen; er stammte aus einer eingeborenen Bergork-Rasse aus Mordor. Er bot ein leichtes Ziel für ihre rauen Spiele.

Er hatte die alten Tage jetzt beinahe vergessen; der Friede seines Heimes in den Bergen, die tiefe Zuneigung zwischen ihm und Lashs Familie hatten die schmerzhaften Erinnerungen zugedeckt. Nun brachten der Anblick und die Geräusche betrunkener Männer ihm die Vergangenheit wieder lebhaft in den Sinn. In einer dunklen Lücke zwischen zwei Häusern zusammen gekauert, während er darauf wartete, dass die Taverne unten an der Straße für die Nacht zumachte, wanderten seine Gedanken zurück zu Frodo. Neunfinger war der Gefangene der Orks im Wachturm von Cirith Ungol gewesen. Canohando kannte diesen Ort nur zu gut; er hatte mehr als einmal Nachrichten für diese Festung bei sich getragen, und er hatte Angst gehabt, dort hingeschickt zu werden. Die Orks der Garnison hatten in Furcht vor dem Monstrum gelebt, das unter ihrem Turm hauste, und ihre Furcht hatte sie grausam gemacht, selbst nach orkischen Maßstäben. Canohando hatte nie einen von ihnen weniger als halb bezecht zu Gesicht bekommen. Eine Gruppe von ihnen hatte ihn einmal erwischt, nachdem er seine Botschaft abgeliefert hatte.

"He, den hier braucht keiner mehr, Jungs! Da, wo er herkommt, werden sie ihn schon nicht vermissen, und Ihre Herrschaft hat Hunger! Was haltet ihr davon: wir werfen ihn ihr vor, damit sie ein paar Tage lang gute Laune hat!"

Dieser Einfall hatte ein Gebrüll trunkener Zustimmung zur Folge, und sie fingen an, ihn fortzuschleppen. Canohando fiel vor Entsetzen beinahe in Ohnmacht und spielte ihnen vor, dass er tatsächlich das Bewusstsein verlor: als seine Folterknechte ihn einen Moment lang losließen, um ihn besser in den Griff zu bekommen, riss er sich los und rannte um sein Leben. Wie hast du überlebt, Kümmerling, inmitten solcher Teufel? Er ließ den Kopf auf den Knien ruhen und schloss die Augen. Mein armer Kümmerling! Aber Lash und ich haben dir nichts angetan, und ich habe dich vor Yarga gerettet. Haben wir unsere Schuld zurückgezahlt für das, was du unter den Händen von Orks erlitten hast?

Er musste eingedöst sein, denn als er den Kopf wieder hob, war die Taverne dunkel, und alles war still. Er stand auf und überquerte lautlos die Straße. Er hatte das Ende der Häuserreihe fast erreicht, als er stolperte und schwer auf etwas fiel, einen Haufen Lumpen, der nach Bier und Erbrochenem stank - nein, keine Lumpen,sondern ein Mann, vollkommen betrunken. Canohando erhob sich auf die Knie und zog sein Messer. Er hat mich nicht gesehen. Der Betrunkene murmelte etwas und vergrub das Gesicht in den Armen, und Canohando spannte sich an, aber der Mann schien nicht aufzuwachen. Er verstellt sich vielleicht nur; er könnte Alarm schlagen, sobald ich außer Sicht bin. Besser sicher gehen - Er rollte den Säufer auf den Rücken und öffnete den dicken Wollmantel, um die Kehle zu entblößen. Der Kopf des Mannes rollte zur Seite, die Augen geschlossen. Seine Kapuze fiel zurück und offenbarte ein junges, bartloses Gesicht, sehr bleich im Mondlicht, und Canohando zögerte.

Ein Windstoß fuhr die Straße hinunter und ließ ihn erzittern. Was, wenn ich dir diesen warmen Umhang wegnehme; wird dich das wecken? Er zog an dem Wollstoff, eine Hand über dem Mund des Betrunkenen, falls der aufschrie, aber das war nicht nötig. Der Mann war ganz schlaff; seine einzige Reaktion auf die raue Behandlung war ein schwaches Stöhnen. Canohando schüttelte ihn noch einmal heftig, um sicher zu sein. Na schön, Jüngling, ich gebe dir eine Chance. Ich werde deinen Umhang nehmen, aber nicht dein Leben; vielleicht hast du beim nächsten Mal genügend Verstand, nach Hause zu gehen, bevor du dich schlafen legst.

Er kam auf die Füße, während er noch immer den Betrunkenen nach irgendwelchen Zeichen zurückkehrenden Bewusstseins absuchte; dann hüllte er sich in den Umhang und streifte sich die Kapuze über. Der junge Mann schlief ahnungslos weiter. Endlich wandte Canohando sich ab, Für die erste Meile hielt er das Messer noch griffbereit, aber endlich seufzte er und ließ es wieder zurück in die Scheide gleiten. Das war für dich, Kümmerling, dachte er. In den alten Tagen hätte ich ohne einen zweiten Gedanken getötet; ich hätte ihm keine Chance gegeben... Aber es tat ihm nicht Leid, dass er den Mann am Leben gelassen hatte, und er zog sich die Kapuze enger um den Hals, dankbar für die Wärme. Ich habe ihm Gnade erwiesen, dachte er, und diese Erkenntnis wärmte ihn genauso sehr wie die dicke Wolle.

Der Umhang leistete mehr, als ihn nur vor der Kälte zu schützen, Unter seinen Falten verborgen fühlte er sich sicherer; er zog die Kapuze tief in die Stirn, und dachte, dass er im Dunkeln gut genug als Mensch durchgehen mochte. Er hatte breitere Schultern und war ein wenig kleiner als die meisten dieser Männer aus dem Süden; die Stammesleute seiner heimatlichen Berge waren nicht so hochgewachsen, aber niemand hatte einen Grund, ihn sich genauer anzuschauen. Er wurde wagemutiger und trieb sich draußen vor den Tavernen herum; er hoffte, mehr über die bevorstehenden Neujahrs-Feiern zu hören.

Er war jetzt tief in Gondor, aber noch immer wusste er nicht, wo die Elbenkönigin zu finden war. Er konnte hier monatelang herumwandern, bis er erwischt und umgebracht wurde. Er brauchte Informationen.

Und nun fing er an zu begreifen, dass die Trunkenheit dieser späten Zecher keine Gefahr für ihn bedeutete, sondern größere Sicherheit. Sie torkelten zur Sperrstunde aus den Tavernen und achteten auf ihre Füße, um auf dem unebenen Kopfsteinpflaster nicht zu fallen, und keiner von ihnen wunderte sich, wieso Canohando sich an einen Baum lehnte oder an einer Häuserwand ein paar Türen weiter die Straße hinunter herumlungerte. Eines Nachts stolperte ein Mann, als er an ihm vorbeikam, und ohne nachzudenken streckte der Ork eine Hand aus, hielt ihn fest und bewahrte ihn davor, zu stürzen.

"Dank'schön, Herr," lallte der Mann, "Hersl'ch'n Dank auch. Heute Nacht schwankt d's Schiff aber orn'lich."

Canohando schnaubte belustigt tief in seiner Kapuze. Dieser Trunkenbold klang jedenfalls nicht wie eine Bedrohung. Er legte dem Mann seinen Arm um die MItte und achtete sorgfältig darauf, seine Hand mit ihrer grauen Haut in einer Falte seines Umhangs zu verbergen. 

"Wo wohnst du, Mann? Ich kümmere mich darum, dass du sicher nach Hause kommst."

"Oh, das's aber wohlgetan, Herr, jawollja. Gibt'n paar gute Leute an Land, egal wassie sagen. Zwei Straß'n weiter, nur'n Schritt mehr, und dassis wo ich vor Anker lieg'n tu. Bring mich sicher nach Haus, unnich hab'n Kupferstück für d'ch."

Der Mann hielt sein Wort; als sie an seine Tür kamen, fischte er in seiner Tasche und zog eine Münze heraus. "Nu ja, d's is' ja gar kein Kupferstück, das is'n Silberpfennich! Macht nix, den hassu dir verdient, mein Jung. Nimm'n und trink einen auf mich - auf die Gesunnh't vom alten Sarry, wenn's dir nichts ausmacht!" Er öffnete die Tür, trottete hinein und zog sie hinter sich zu.

Am nächsten Tag, versteckt in seiner Hängematte in den hohen Zweigen eines Baumes, untersuchte Canohando die Münze. Es waren Gesichter eingraviert, auf der einen Seite ein streng dreinblickener Mann, der eine Krone trug, aber auf der anderen Seite das Gesicht einer Frau vorn zarter Schönheit; ihr einziger Schmuck war das glatte Haar, das ihre Stirn und ihre Wangen einrahmte, anmutig wie Vogelschwingen. Beim Anblick des Männergesichts zog Canohando eine Grimasse. Der König. Ein passender Kommandant für die Heere von Gondor. Doch das Gesicht der Frau betrachtete er lange Zeit. Sie trug keine Krone, aber er hatte keinen Zweifel daran, dass dies die Elbenkönigin war, die Neunfinger den Juwel zu seinem Trost geschenkt hatte. Ich frage mich, was du wohl dazu gesagt hast, dass er ihn mir gab? Aber das Bild auf der Münze betrachtete ihn gelassen, und er konnte nicht entscheiden, ob sie zornig gewesen war oder nicht.

Ein paar Nächte später verfiel er neben einem anderen Betrunkenen in Gleichschritt, der sich im Dunkeln seinen unsicheren Weg die Straße hinunter suchte. Unter seinem Mantel hielt der Ork das entblößte Messer bereit, entschlossen, kurzen Prozess zu machen, wenn es nach Ärger aussah. Er musste die Königin finden, oder seine lange Pilgerfahrt war vergeblich.

"Gehst du zum Neujahrsfest des Königs?" fragte er den Mann.

Der Betrunkene kam taumelnd zum Stehen. "Und was geh's dich an, wennich's tu?" Er schwankte und starrte die Gestalt mit der dunklen Kapuze neben sich verächtlich an. "Mischst d'ch in meine Angeleg'nheit'n, oder was?"

Canohando kam näher. "Ich habe gehört, es gäbe dort Arbeit für jeden Mann, der welche will. Weißt du irgendwas darüber?"

Der Trunkenbold spuckte auf die Straße und hickste. "Da gipp's immer Arbeit, mein Herzch'n, für jed'n, der se will! Hat nichts mit mir ssu tun, weil, ich willse nich', siehste?"

Canohando fasste sich in Geduld, "Und wenn ich etwas von dieser Arbeit will, weißt du, wo ich hingehen muss, um sie zu kriegen?" fragte er.

Der Mann lachte brüllend. "Arbeiten willste? Dir die Hände schmutz'ch mach'n und dir's Kreuz brech'n, damit der Könich'n Fest schmeißen kann? Dann gehma rauf inne Stadt und sachihm, dass 'de gekomm'n biss, um ihm ssu helf'n. Er wirssich freu'n dich ssu seh'n, und alle deine dusselich'n Freunde, die de mitbringss!"

"Eine Frage noch. Auf welchem Weg geht es in die Stadt, in der ich den König finde?"

Bei diesen Worten blieb der Mann stehen und begaffte ihn erstaunt, und die Hand des Orks spannte sich um sein Messer. "Also, du biss'n Schwachkopf, gar keine Frage! Wenn du Minas Tirith nich finn'n kannss, wo es doch mitten aus'n Pellenor-Feldern rausragt wie die Nase aus dei'm Gesicht, dann kann wahrscheinl'ch nich' mal der Könich was mit dir anfang'n! Du kriechss besser unter den Stein zurück, unter dem du gesteckt hass und legss dich wieder schlaf'n." Er torkelte  von dannen, ohne sich weiter um den Ork zu kümmern.

Canohando verschmolz wieder mit den Schatten und beobachtete ihn, falls er irgendeinen Versuch machte, Alarm zu schlagen; aber nach einem halben Dutzend Schritte stolperte der Mann über seine eigenen Füße und schlug hin, Er versuchte unbeholfen, sich wieder aufzurappeln, schwankte einen Moment auf den Knien und sackte dann sachte zu Boden. Der Ork lächelte grimmig und steckte sein Messer in die Scheide. "Du kriechst besser unter den Stein zurück, unter dem du gesteckt hast, bevor du dich schlafen legst," sagte er und wandte sich ab.

Danach mied er die Menschen, betrunken oder nicht. Wenn der Mann dachte, dass die Stadt des Königs so leicht zu finden war, dann sollte er keinerlei Schwierigkeiten haben. Er hatte oft genug seinen Weg hin und zurück durch die Leere von Mordor gefunden, wenn er Botengänge für den Dunklen Herrscher erledigte. In den nächsten paar Tage beobachtete er von seiner Zuflucht in den Baumwipfeln alles sorgfältig und versuchte auszumachen, in welche Richtung die meisten Karren und Fußgänger auf der Straße unterwegs waren. Wenn in der Stadt so viele Vorbereitungen getroffen wurden, dann mussten viele Leute dorthin wollen.

Endlich bekam er Minas Tirith zu Gesicht, weit weg, von der anderen Seite der Ebene aus, bei Tagesanbruch in seiner Hängematte verborgen. Als die Sonne aufstieg, leuchteten die Mauern der Stadt weiß wie ein Schneefeld in den Bergen; er blinzelte und rieb sich die Augen. Dahinter ragte der Mindolluin auf, purpurn gegen den Himmel, und die Stadt war fast selbst wie ein Berg, Stufe auf Stufe aufsteigend zu einem Gipfel aus schimmerndem Stein, an seiner Kuppe ein Turm, der die Strahlen der Sonne einfing und blitzte wie ein Kristall. Von der Spitze flatterte ein schwarzes Banner in der Morgenbrise. Canohando setzte sich auf; seine Hängematte schaukelte gefährlich bei der plötzlichen Bewegung, und er starrte mit offenem Mund die Stadt an, die zu finden er so weit gereist war. 

Dies - dies! - war das Heim der Elbenkönigin. Er fummelte in seiner Börse und zog den Silberpfennig heraus, der ihr Bild zeigte; er schaute es an und zurück zu den weißen Mauern, die in der Entfernung schimmerten. Oh ja, es war ein Heim, das zu ihr passte, diese leuchtende Zitadelle: eine anmutige Fassung für ihre Schönheit.

In dieser Stadt wartet der Tod auf mich, dachte er schaudernd, aber er wandte den Blick nicht ab. Sie werden mich ganz sicher erschlagen, aber erst werde ich dich sehen, Elbenkönigin! Und dann kannst du deinen Juwel wiederhaben, denn ich werde ihn nicht mehr brauchen. Er hatte jetzt genug von Gondor gesehen, um zu begreifen, was für ein Übel der Dunkle Herrscher hier im Sinn gehabt hatte. Ich stand in Seinen Diensten, dachte er verzweifelt. Neunfinger hat mir das verziehen, aber der König wird es nicht tun. 

Er brauchte eine weitere Nacht, um die Ebene zu überqueren,und in der grauen Morgendämmerung kletterte er auf einen Baum in einem Garten gleich außerhalb der Stadtmauern, wo er die großen Tore im Auge behalten konnte. An diesem Tag ließ er die Hängematte zusammen gerollt in seinem Bündel; er schlief nicht, sondern beobachtete den Verkehr, der in die Stadt hinein ging und die Bewegungen der Soldaten, die die Tore bewachten. Er glaubte nicht, dass er an ihnen vorbeischlüpfen konnte, wie vorsichtig er auch sein mochte. Die Wachen schienen höflich genug, aber es gab keinen Karren, in den sie nicht wenigstens einen beiläufigen Blick warfen, und er sah, dass sie eine ganze Anzahl Reisende aufhielten und befragten, bevor sie sie weiter winkten. Sein Mantel würde ihn nicht vor ihren scharfen Augen schützen.

Bei Anbruch der nächsten Nacht schwangen die Tore zu, bewacht von innen und außen. Canohando glitt auf der schattigen Seite seines Baumes hinunter und schlug einen Kreis um die Stadt, bis er so weit von den Toren entfernt war wie möglich; dann kletterte die Mauer hinauf und darüber, so flüchtig wie eine streunende Katze.

Wenn ich König wäre, dachte er, dann würde ich mich ganz oben an der Spitze einrichten, wo meine Soldaten sich um mich scharen und wo wir bestehen könnten, wenn Feinde kämen. Er machte sich nicht die Mühe, der breiten Straße zu folgen, die sich ihren Weg hinauf zum Gipfel wand, sondern suchte nach der Mauer, die die nächste Ebene umringte und kletterte hinauf. Über eine Ebene nach der anderen drang er in das Herz von Minas Tirith vor, still wie das Mondlicht, und niemand in der Stadt wurde gewahr, dass ein Ork die Stadt betreten hatte.

Endlich stand er am Rand eines weiten, gepflasterten Hofes, der sich dem Himmel öffnete. In der Mitte breitete ein Baum seine Äste aus, und daneben befand sich ein Brunnen; das sprudelnde Wasser fing den Glanz des Mondes ein, während es zurück in sein Becken fiel. Canohando blieb einen Moment stehen und lauschte. Das Geräusch trug ihn zurück zu den raschen, kleinen Flüssen seiner Berge, der Heimat, die er verlassen hatte. Wieso bin ich her gekommen? Seine Hand suchte den Juwel an seiner Kehle, wie sie es so viele Jahre hindurch getan hatte, wann immer er in Sorge war, und er nickte langsam. Um die Herrin zu sehen, deren Juwel ich trage, was immer danach auch geschieht. Auf der anderen Seite des Hofes  standen bewaffnete Männer vor zwei hohen Toren. Canohando ertastete sich den Weg am Rande des Hofes entlang. und in die Lücke zwischen dem bewachten Gebäude und seinem Nachbarn. Die Wand bestand bis unter das Dach aus blankem, glatten Stein, und er schlich sich weiter um die Ecke nach hinten. Dort gab es ein breites Bogenfenster, aber es befand sich weit oben und war mit Blei verglast. Auf der anderen Seite des Bauwerkes fand er, was er suchte; eine Reihe Fenster, in die Nacht geöffnet, nicht höher über seinem Kopf, als es der Größe von zwei Männern entsprach. Er grub in seinem Bündel nach einem langen Seil, an dessen Ende ein Haken befestigt war, und binnen weniger Minuten stand er auf dem Fenstersims und stieg hinunter in den Raum, der sich dahinter befand.

Er war leer, oder zumindestens befanden sich keine Leute darin, Ein breiter, langer Raum, das hohe Dach von Säulen getragen, die sich in zwei Reihen von einem Ende zum anderen zogen, von dem gewölbten Eingang zu einem erhöhten Podest an der weit entfernten Stirnseite, auf der zwei große, geschnitzte Sessel standen, Hoch über den Sesseln, direkt unter dem Dach, war das Bogenfenster. Mondlicht drang hindurch und erglühte schwach in gedämpften Farben. Aber direkt über den Sesseln befand sich ein steinerner Baldachin, so behauen, dass er einem gekrönten Helm glich. Canohando blickte sich um und rollte das Seil zusammen; Ehrfurcht senkte sich in sein Herz, bis er das Gefühl hätte, er wäre an dem Marmorboden festgefroren. Endlich machte er eine Anstrengung, brach den Zauber und trat hinaus auf den Gang zwischen den Säulen; langsam, die Augen auf die beiden Throne gerichtet, drang er weiter in die Halle vor. Hier werden sie mich erschlagen, dachte er wieder, aber es war ein besserer Ort zum Sterben als die Behausung der Spinne. Ein Sessel für den König und einer für die Königin - nur, welcher gehört ihr? Doch als er den Fuß des Podestes erreichte, wusste er es, denn auf einem der Sessel lag ein Stapel seidener Polster. Er setzte sich auf die unterste Stufe und blickte auf zum Thron der Königin; er versuchte sich vorzustellen, dass die Herrin von der Münze dort saß.


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